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Ausgabe:

1952 Nr. 8

Spalte:

497-502

Autor/Hrsg.:

Hauck, Friedrich

Titel/Untertitel:

Briefe Adolf Harnacks an Theodor Zahn 1952

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497

Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 8

498

Lauen muß (S. 85 u. 95). Die entscheidende Frage für die
lutherische Kirche ist die, ob es angesichts der weiten Verbreitung
neuerer Bibelübersetzung gelingen wird, die alte Lutherbibel
durch ständige Verbesserungen als Volksbibel zu erhalten
oder ob es nicht geraten erscheint, neben sie eine
moderne Ubersetzung zu stellen, die im Unterricht, der Bibelstunde
und auch im Gottesdienst Verwendung findet und der
Flut privater Ubersetzungen mit ihrer verwirrenden Vielfältigkeit
wenigstens amtlich einen Riegel vorschiebt, so sehr
man sich des Eifers moderner Ubersetzer und ihrer Benutzer
freuen mag. Wäre nicht aus dieser Fülle nach dem Grundsatz
„Prüfet alles, das Beste behaltet" eine praktische Ge-
brauchsbibel zu gestalten, die „das Evangelium ins Volk
treibt", damit nicht die mit halben Mitteln verbesserte

Lutherbibel gerade das Volk dem Evangelium entfremdet und
damit Luthers echte Bibel einer schönen Theorie geopfert wird ?
Daß die Verwirklichung solcher Gedanken einerseits auf viel
Widerstand stoßen und andererseits sehr viel Zeit und Kraft
kosten wird, wer wollte das bezweifeln! Man kann hier den
zweiten Schrittj nicht vor dem ersten tun. Der Weg zu „der"
Bibel aller Konfessionskirchen ist noch sehr wTeit. Nur in
Etappen wird man vorwärtskommen, wenn allerseits guter
Wille vorhanden ist. Aber die evangelische Kirche, welche mit
großer Energie ihr Gesangbuch und ihre Liturgie neu zu gestalten
im Begriffe ist, sollte auch für die Gestaltung einer
wirklichen Volksbibel aufgeschlossen sein und die Zeichen der
Zeit erkennen!

Briefe Adolf Harnacks an Theodor Zahn

Mitgeteilt von Fr. Hauck, Erlangen

Hermann Strathmann zum 70. Geburtstag

Im Nachlaß Th. Zahns sind einige Briefe Ad. Harnacks
an denselben aus den Jahren 1873—82 und 1929 erhalten, die
interessante Einblicke gewähren in das Verhältnis der beiden
Forscher, die anfänglich durch enge Freundschaft verbunden,
bald aus ihrer verschiedenen Wesensart zu scharfen Gegnern
wurden, aber am Schluß des Lebens noch einmal Freundschaftsbeweise
miteinander austauschten.

1873 erschien Harnacks Dissertation „Zur Quellenkritik
der Geschichte des Gnostizismus". Die erste Veröffentlichung
des damals 22 jährigen fand sehr freundliche Beurteilung von
Seiten Zahns. Dieser sandte Harnack wohl als Gegengabe sein
neu erschienenes Buch über Ignatius von Antiochia zu, anscheinend
mit der Bitte, es in der Allg. ev.-luth. Kirchenzeitung zu
rezensieren. Harnacks Brief vom 6. Juli 1873 läßt die große
Freude über diesen Auftrag erkennen, der ihm bei seiner grundsätzlichen
Zustimmung zu Zahns Ergebnissen nicht schwer fiel,
wenn er auch schon im Brief mit einem Einwand nicht zurückhält
. Die Besprechung (Allg. ev.-luth. KZ. 1873,595—97) rühmt
die staunenswerte Einsicht und Umsicht, mit der das weitschichtige
Material behandelt ist, verschweigt aber auch nicht
einige Bedenken. Freimütig bekennt er,daß er in dem Abschnitt
über die von Ignatius bekämpfte häretische Bewegung über
vieles mit dem Verfasser zu rechten hätte. Eine Gefahr Zahns
scheint es ihm — nicht ganz ohne Berechtigung —, „in den Fehler
zu verfallen . . . allzu scharfsichtig zu werden und Benützungen
und Abhängigkeiten zu entdecken, wo ein unparteiischer
Beobachter im besten Fall zufällige Ubereinstimmungen, sehr
häufig aber nicht einmal das entdecken kann". 1875 trat Zahn
mit Harnack und O. v. Gebhardt zu einer Arbeitsgemeinschaft
zusammen, um in gemeinsamer Arbeit eine zuverlässige Ausgabe
der Apostolischen Väter zu schaffen. Der Brief vom Ende
dieses Jahres ist ein Zeugnis für das hohe Vertrauen — die Anrede
hat unterdessen von „Hochwürdiger Herr" zu „Lieber
Zahn" hinübergewechselt —, das Harnack damals Zahn entgegenbrachte
. Acht Tage nach Empfang der Berufung nach
Dorpat legt er dem älteren Freund offen die Gründe dar, warum
er trotz schwerwiegender Gegengründe den Ruf annimmt.
Es ist ein Freundschaftsdienst, um den er den „verehrten
Freund" am Schluß bittet, er möchte, soweit er in seinem Kreis
Gelegenheit hat, ihn gegen Mißdeutung des von ihm gefaßten
Entschlusses schützen. Die Berufungssachezerschlugsich dann,
da Harnack 1876 zum außerordentlichen Professor in Leipzig
ernannt wurde. Der Brief vom 22. März 1876, ein Dank für die
Zusendung des Vortrags über „Konstantin und die Kirche",
enthält nebenbei interessante Urteile Harnacks über das Staats-
kirchentum auch der Gegenwart. Auch hier verschweigt Harnack
freimütig nicht sein anderes Urteil über das Verhältnis
des heidnischen Monotheismus zum Christentum. Im gleichen
Jahr erschien Zahns Ausgabe der Ignatiusbriefe. Harnack gibt
wiederum eine Rezension in der unterdessen begründeten Theologischen
Literaturzeitung (1876, 558—65), wobei er seine volle
Anerkennung für die besonders schwierige Textherstellung in
diesem Faszikel ausdrückt, aber zu der historischen Frage der
umstrittenen Echtheit doch äußert: „Völlig unbegreiflich ist es
dem Referenten, wie ein sonst so scharfsinniger und gewissenhafter
Historiker, wie der Verfasser es ist, für die Schwierigkeiten
hier absolut keinen Sinn zu haben scheint. Auch nicht
ein Satz verrät es, daß er solche anerkennt, obgleich er sie alle
kennt und wegzuräumen beflissen ist. Man möchte es doch irgendwo
herausfühlen, daß ihm auch einmal ernsthafte Zweifel
hier oder dort gekommen sind. Wie sollte er sie nicht gehegt
haben? Aber er sagt nichts darüber". Ein Wesensunterschied
der beiden Männer wird hier deutlich, den Harnack immer

stärker empfindet. Auch der Brief vom 28. 7. 1877 läßt diesen
Unterschied erkennen: Zahn war nach seiner Art stets geneigt,
bei problematischen Fällen der kirchlichen Überlieferung den
Vorrang vor kritischen Bedenken einzuräumen. Umgekehrt
mußte Harnacks nimmerruhender Scharfsinn an solchen Punkten
nach Hypothesen grübeln und tasten, mit Hilfe derer er
einen Ausweg aus der Schwierigkeit erhoffte. In dem Brief
schlägt er dem Freund eine solche vor, die er hernach in der
Schrift „Die Zeit des Ignatius" (1878, 90 S.) ausführte. Zahn
blieb auch hier bei der Uberlieferung. Der letzte Brief aus jener
früheren Periode (1. März 1882) ist ein Dank für die Ubersendung
der Schrift Zahns „Cyprian und die deutsche Faustsage"
(1882, 153 S.). Neben herzlichem Dank klingt doch auch hier
der Dissensus auf. Es ist kein Zufall, daß die Briefe mit diesem
Jahr abbrechen. Denn im nächsten Jahr erschien Zahns Buch
über den Theophiluskommentar, das denselben für das 2 .Jahrhundert
in Anspruch nahm; ein sicher verfehlter Ansatz. Harnack
brachte in der ThLZ (1883, 487t.) eine scharf ablehnende
Beprechung. „Es ist diesmal um vieles weniger, als was
wir sonst von diesem Gelehrten zu empfangen gewohnt sind,
denn das meiste in dem Buch steht in dem trügerischen Schein
des Irrlichts, dem der Verf. gefolgt ist." „Wie gewöhnlich sind
die Beweisführungen auch hier faszinierend", aber sie sind doch
nur „Scheinbeweise", die freilich eine „profunde Gelehrsamkeit
voraussetzen". Zahn erwiderte scharf in seinem Supplemen-
tum Clementinum, wogegen Harnack in der ThLZ (1884,
S. 32if.) eine „Erklärung" veröffentlichte, in der er gegen Zahns
Vorgehen Verwahrung einlegte. Die Freundschaft war damit
zerbrochen. Als Zahn 1889 den ersten Band seiner Geschichte
des Kanons veröffentlichte, stellte ihm alsbald Harnack in dem
„Neuen Testament um 200" eine Gegenschrift entgegen. Zwei
Jahre danach vertiefte der Apostolikumstreit den wissenschaftlichen
Gegensatz zu einem religiösen. Zahn, der beiallem Scharfsinn
zeitlebens im Religiösen eine gewisse Kindlichkeit bewahrte
, konnte dem altkirchlichen Bekenntnis ohne Schwierigkeit
beistimmen und fühlte sich ihm verpflichtet. Harnack fühlte sich
dem Kern des Christentums, wie er ihn faßte, verpflichtet und
sah in der altkirchlichen Form eine Schale, die dem Gegenwartsmenschen
den Zugang zum Evangelium erschwerte.

Gegenüber dem bittern Streit, der die beiden Männer
durch Jahrzehnte trennte, sind die beiden letzten Briefchen
Harnacks aus dem Jahr 1929 wie eniversöhnenderAusklang. Harnack
sandte Zahn, „dem Senior der Theologischen Wissenschaf t"
zum 91. Geburtstag die herzlichsten Wünsche, wobei er ihm
dankt für „reichste Anregung, Belehrung und — wie er auch
hinzufügt — Berichtigung", die er ihm schulde. Zahn sandte
Harnack sein kurz danach erschienenes Heft „Altes und Neues,
3. Folge", worauf dieser mit zitternder Handschrift — ergreifend
zu sehen — mit freundlich anerkennenden Worten dankt.
Der „herzliche Weihnachtsgruß", mit dem er schließt, deutet
das an, was die beiden Männer trotz aller Gegensätze im tiefsten
einte.

I.

6. 7. 1873

Hochwürdiger Herr!1

Ich beeile mich, Ihnen für Ihre freundlichen Zeilen meinen besten Dank
auszusprechen und Ihnen für die gütige Übersendung Ihrer Selbstanzeige zu
danken.

Vielleicht werden Sie sich wundern, hochgeehrter Herr Professor, wenn

') Die Veröffentlichung geschieht mit freundlicher Genehmigung von Frau
Hildegard Model (Prien, Chiemsee), der letzten überlebenden Tochter Th. Zahns.