Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1952 Nr. 8

Spalte:

493-498

Autor/Hrsg.:

Fascher, Erich

Titel/Untertitel:

Drei Grundfragen zum Probetestament 1952

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3

Download Scan:

PDF

493

Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 8

494

wird man nicht behaupten können, daß die allegorische Exegese in der katholischen
Kirche der Vergangenheit angehört. Nun werden freilich von den katholischen
Theologen diese Schriftargumente nicht als Schriftbeweise im strengen
Sinne angesehen. Die Bulle sagt selbst nur, daß die Definition auf der Schrift
als ihrem letzten Fundament ruhe, und daß die Väter und Theologen solche
Schriftstellen mit einer gewissen Freiheit herangezogen hätten. Man
überläßt die Abschätzung der Stringenz der einzelnen Schriftstellen der theologischen
Erörterung, es sei denn, es hat die wirkliche authentische Interpretation
einer Stelle durch das Lehramt stattgefunden, was aber in der Bulle
„Munificentissimus" nicht der Fall ist1. Für den katholischen Glauben ist das
Dogma einfach dadurch begründet und gesichert, daß die Kirche dies zu

') Vgl. dazu Karl Rahner: Aufgenommen in den Himmel, Dokumente zur
feierlichen Dogmenverkündigung usw. 1951 S. 14.

glauben lehrt1. Alle weiteren Begründungen sind ein donum superadditum.
über die man reden kann und mit sich reden läßt. Wäre man höchsten Ortes
aber wirklich kritisch gegen die Allegorese, dann hätte die neue Bulle diese
Argumentation mit der Schrift vermeiden müssen.

Oberster Grundsatz der katholischen Schriftauslegung
bleibt, daß sie dem Bedürfnis der Kirche nach Rechtfertigung
ihrer Dogmen und ihres Glaubens in dem jeweiligen Stande
ihrer organischen Entfaltung zu dienen hat. Erst innerhalb
dieser Grenzen hat sie ein Recht zur freien Forschung und zur
Verfolgung der aus ihr erwachsenen wissenschaftlichen Probleme
. Daran werden keine intensive Förderung des biblischen
Studiums und keine Bibelbewegung, die in der Tat ein Merkmal
des heutigen Katholizismus sind, etwas ändern.

') Hermann Volk: Das neue Mariendogma 1952 S. 25.

Drei Grundfragen zum Probetestament

Von Erich Fase her, Greifswald

Hermann Straihmann zum 70. Geburtstag

I. Im Jahre 1940 hat Hermann Strathmann unter dem
Titel ,,Probe des Probetestaments. Kritik und Dank" eine
Schrift veröffentlicht, welche für die damalige Debatte über
die Erneuerung des Luthertextes der Bibel insofern bedeutsam
war, als sie gegenüber zahlreichen Veröffentlichungen, die
mehr oder minder zufällig anhand von Einzelheiten für oder
gegen das Probetestament Stellung nahmen, auf methodisch
durchgeführte Prüfung drang und sie auch in Angriff nahm,
um diese „wahrhaft bedeutsame Angelegenheit über das
Stimmungsmäßige und Zufällige" zu erheben. Unter den acht
Grundsätzen der Revision, auf welche sich die Bibelgesellschaften
und der Kirchenausschuß von 1928 geeinigt hatten,
hebt der Verfasser drei als besonders bedeutsam hervor: 1. „daß
mit aller Bestimmtheit der griechische Urtext und zwar in
Gestalt des Nestleschen Textes als Grundlage der Arbeit proklamiert
ist." 2. „An Luthers philologischer Auffassung des
Urtextes ist festzuhalten, wo sie heute noch wissenschaftlich
vertretbar ist (Grundsatz 4 Satz 2). Und 3. „Besonders pfleglich
sind Kernstellen zu behandeln" (Grundsatz 8). Beide Grundsätze
(4 und 8) können ein ernstes Hindernis für das Richtige
bilden, wie Strathmann mit Recht hervorhebt. (S. 2of.)

Damit ist die Situation völlig klar gezeichnet. In das
Neue Testament deutsch samt Psalmen, welches das Kirchenvolk
als ein kirchengründendes Kultbuch las, ist das Gesetz
der wissenschaftlichen Philologie stärker als bisher eingedrungen
. Wie dieses im 19. Jahrhundert den griechischen sogenannten
textus reeeptus aus den Angeln hob, so muß es im
20. Jahrhundert die Lutherbibel als kanonisch in Frage stellen.
Den wissenschaftlichen Kommentar zu diesem Vorgang hat
etwa G. Ebering1 geliefert, besonders in seiner Auseinandersetzung
mit H. Echternach. Es kann häufig notwendig sein,
daß Luthers Urtext, gemessen an den Erfordernissen heutiger
Philologie, als unzulänglich, daß Luthers Ubersetzung — gemessen
an heutiger exegetischer Methode — als zwar geniale,
aber doch den Sinn des Urtextes verändernde „Uminterpretierung
" um der Wahrheit willen abgeändert werden müssen.
Die lutherische Kirche befände sich ihrem kanonischen Bibeltext
gegenüber in einer ähnlichen Lage wie die katholische
Kirche gegenüber ihrer Vulgata, wenn jetzt Pius XII. den
Rückgriff auf den griechischen und hebräischen Urtext als
wissenschaftliches Erfordernis proklamiert und sogar eine
moderne, von der Vulgata abweichende Psalmenübersetzung
(1945) zum liturgischen Gebrauch zuläßt. Wenn nun aber
| beide Kirchen auf den Urtext verweisen, der durch keine
noch so gute Ubersetzung ersetzt werden kann, so erhebt sich die
Frage, ob wir denn diesen Urtext, auf welchem eine revidierte
lateinische oder deutsche Bibel aufgebaut werden sollte, mit
einiger Sicherheit besitzen.

Strathmann ist hinsichtlich des Nestle-Textes ziemlich optimistisch. Er
sieht ihn (S. 21) „im Ganzen als das heute erreichbare Optimum" an. Neuere
Papyrusfunde und die wachsende Erkenntnis, daß bisher hochgeschätzte alte
Handschriften als Rezensionen anzusehen sind, die dem Ideal des Urtextes noch
nicht gleichkommen, dürften diesen Optimismus ebenso dämpfen wie die Tatsache
, daß von Fall zu Fall sorgfältig geprüft werden muß, ob Nestles Haupttext
zu halten oder durch eine Lesart, die er in den Apparat verweist, zu ersetzen
ist. So wenig der textus reeeptus im 19. Jahrhundert als der kanonische
Text zu halten war, so wenig ist auf den B-Text immer sicherer Verlaß, sofern
. minder wertvolle Lesarten späterer Handschriften heute durch alte Papyri be-

•) Zeitschrift für Theologie und Kirche 1950 Heft 1 S. 1—46 „Die Bedeutung
der historisch-kritischen Methode für die protestantische Theologie
und Kirche".

stätigt werden, gewisse D-Lesarten den Vorzug verdienen oder gar ein ganz
singulär überlieferter Text (von einer notwendigen Textkonjektur gar nicht zu
reden) den Textsinn besser erschließt als ein ganzes Heer von gegenteiligen Belegen
.

Es müßte also der amtlichen Textrevision des Luthertextes
eine amtliche Uberprüfung des Nestle-Textes vorausgehen,
weil ohne ein leidlich sicheres Fundament eines Urtextes
auch kein tragbarer Oberbau einer Revision des Luthertextes
hergestellt werden kann1. Wohlgemerkt — es geht hier nicht
darum, daß etwa zentrale Gedanken der urchristlichen Verkündigung
gefährdet werden (insofern dürfte Hans Lietzmann
recht behalten, daß auch durch neuere Textfunde wesentliche
Überraschungen nicht mehr zu erwarten sind), aber es
dreht sich doch bei dem Wortlaut im einzelnen um so zahlreiche
Änderungen, daß auch der Luthertext weithin ein anderes
Gesicht bekäme.

Ein für jeden Laien sofort in die Augen fallendes Beispiel sind die verschwundenen
Bibelverse, wenn er seinen alten Luthertext mit dem des Probetestaments
vergleicht. Zähle ich recht, so sind es im ganzen 17, und zwar 3 bei
Matthäus (17,21; 18,11; 23, 14), 5 bei Markus (7, 16; 9, 44+ 46; 11, 26; 15, 28),
3 bei Lukas (23, 17; 24, 12+40), 5 in der Apostelgeschichte (8, 37; 15, 18+34;
24, 7; 28, 29) und eine im Römerbrief (16, 24). Dazu kommen strittige Texte
wie Matth. 16, 2—3; Mark. 16, 9—20; Joh. 5, 3b—4 und 7, 53—8, 11; l.Kor.
11,24 und 15,55 sowie Eph. 1, 1. Die Zahl umstrittener Einzelwörter bei im
ganzen nicht umstrittenen Versen mag hier auf sich beruhen.

Unser Ergebnis ist also deutlich; Die Einführung eines
amtlich revidierten Luthertextes auf der Grundlage des
Nestleschen griechischen Textes wäre ohne Nachprüfung des
letzteren nicht möglich. In diesem Zusammenhang erscheint
die Frage dringlich, ob jetzt nicht die Stunde gekommen ist,
eine Weltbibelkommission zu berufen, die den Text des Alten
und Neuen Testamentes in ihrer Ursprache als Grundlage für
die Verkündigung aller Kirchen erarbeitet und zwar mit
Einschluß von Vertretern der katholischen Kirche wie der
orthodoxen Ostkirchen. Wie die Taufe und die Bekenntnise
der ersten vier Jahrhunderte bei allen sonstigen Glaubensunterschieden
ein gemeinsames Fundament aller Konfessionskirchen
bilden, sollte es vor allem ihr Anliegen sein, den Urtext
des von ihnen allen verkündeten Wortes Gottes in
brüderlicher Zusammenarbeit durch gegenseitigen Austausch
wichtiger Kollationen und Einsichtnahme in neue Funde zu
schaffen. Er wäre ein weiteres wichtiges Fundament zur Zusammenarbeit
aller Christen der ganzen Welt.

II. Unsere zweite Grundfrage ist die, ob Luther den Urtext
immer richtig verstanden und zutreffend übersetzt hat.
Dafür mögen einige Beispiele aus den Psalmen angeführt werden
, welche diese Seite des Problems beleuchten und uns die
Zwangslage deutlich machen, in die wir gestellt sind, sofern
wir zwischen philologischer Richtigkeit und genialer religiöser
Intuition zu wählen haben. Theologisch gefragt hieße das:
Ist bei der vom Luthertum vertretenen Bindung des Geistes
an das Wort der Geist von der Treue zum Literalsinn abhängig
, oder kann er, sich über ihn hinwegsetzend, einen
neuen Textsinn erschließen ? Standen wir eben vor einem
textkritischen Problem, so bedrängt uns jetzt ein hermeneu
tisches.

Im Psalm 23,4 liest Luther: Dein Stecken und Stab trösten mich. (Ebenso
Kautzsch, Rudolf Kittel, Heinrich Wiese und das Probetestament, ähnlich

') Einzelheiten hofft der Verf. demnächst in einer druckfertigen Studie
„Textgeschichte als hermeneutisches Problem" vorzulegen.