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Ausgabe:

1952 Nr. 8

Spalte:

483-488

Autor/Hrsg.:

Loewenich, Walther

Titel/Untertitel:

Luther und die Gleichnistheorie von Mc 4, 11 f. 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 8

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falschen Forum suchen, und die Neuheit des Gesetzes Jesu
darin, daß der Hörer wieder bei Gott statt bei den Menschen
seine Geltung sucht:

b) Das ist sicher richtig, genügt aber noch nicht. Wenn
Matth, in seiner Bearbeitung von Mark. 12,28—34 die letzten
Verse wegläßt, wo von der Nächstenliebe gesagt ist, daß sie
höher stehe als Opfer, dann könnte man denken, daß dieser
Gegensatz für ihn nicht wesentlich sei. Das wäre ein Fehlschluß
; Matth, läßt die Stelle weg, weil es für ihn die Vorstellung
eines ehrlich fragenden Schriftgelehrten nicht mehr gibt
(22, 35 !). Daß im Gegenteil gerade hier sein Interesse liegt, zeigt
die zweimalige Zufügung des Grundsatzes SAeog &eAm xai ov
övolav in den ihm vorliegenden Text1. Nehmen wir die genannten
Stellen hinzu, die die Nächstenliebe als Erfüllung des
Gesetzes und der Propheten zeigen, dann wird deutlich: sie
vor allem ist der Inhalt dieser neuen Tora, sie die bessere Gerechtigkeit
, mit der die Gemeinde Jesu die Pharisäer übertrifft,
sie macht auch das Großseinwollen vor den Menschen statt
allein vor Gott unmöglich.

6. Wir fassen zusammen: ein Teil der Urgemeinde hat vor
Matth. V. 1 8f. formuliert in der Abwehr gegen eine Lehre, die
nicht mehr das ganze Gesetz für verbindlich erklärte. Matth,
übernimmt sie, interpretiert sie aber dahin, daß diese immerdauernde
Geltung des Gesetzes bestehe, „bis alles geschieht".
Dabei geht es ihm keineswegs mehr um das Weiterbestehen
der Einzelgebote wie seiner Tradition; sondern um die weit
grundsätzlichere Frage, ob und wie das Gesetz als ganzes eine
Erfüllung gefunden habe. Er antwortet mit der These, Jesus
habe Gesetz und Propheten zur Erfüllung gebracht. Nun aber
nicht so, daß sein Leben und Sterben das von ihnen Geforderte
im Gehorsam „erfüllt"; sondern so, daß er als der Bringer der
neuen Tora ihr erfüllendes Ziel darstellt. Inhalt dieser Tora
aber ist die Nächstenliebe, die Barmherzigkeit, die an die
Stelle der Opfer tritt und ihre Geltung allein vor Gott, nicht

gekehrt gerade hier ältere Tradition zu finden ist, während das Schema der
übrigen drei Abschnitte auf Matth, zurückgeht. Dafür spricht: a) Haenchen
hat gezeigt, daß I. Matth, sehr gern und oft gewaltsam seinen Stoff in solche
Schemata preßt, und daß 2. genau dieses Schema für die Redaktionstätigkeit
des Matth, typisch ist. (Z.Th.K. 1951,41 f.: gerade 23,5a ist Klammer des
Matth.; vgl. auch hier Anm.5). b) In V.7 sind die k&vixoi die Gegner, wie
in dem Q-Wort 5,47, nicht die bnoxgtrai, die für Matth, typisch sind, c) Vor
allem ist aber hier der Gegensatz radikal; denn das Ablehnen der TtoXvkoyia
bedeutet die radikale Ablehnung aller Gebetsleistung, die Ansprüche stellen
zu können meint. V.5f. hingegen lassen das Beten als Frömmigkeitsübung
bestehen und geißeln nur die Sucht, Menschen damit imponieren zu wollen.
Ähnliches ist aber vielleicht auch in den andern beiden Abschnitten zu beobachten
: V. 17 ist heute eine groteske Anweisung zu eben dem, was Matth,
den Heuchlern vorwirft, nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Sollte nicht dahinter
ein Wort stehen, das in die Nähe von Mark. 2,19. 21 f. gehörte und in radikaler
Weise aussagte, daß das „Fasten" der neuen Gemeinde Jubel und Freude sei.
Sicher scheint mir jedenfalls, daß Jesus grundsätzlich das Fasten überwand,
und daß die Gemeinde daraus wieder eine Frömmigkeitsübung machte (schon
Mark. 2, 20), die nur nicht mehr den Beifall von Menschen suchen (Matth. 6, 16.
18) oder am Montag und Donnerstag stattfinden (Did. 8, 1!) durfte. Und geht
nicht auch V. 3 weit über den Gegensatz hinaus, in den er jetzt gepreßt ist?
V. 3 meint doch den radikalen Verzicht auf alles Beobachten der eigenen Leistung
gerade auch vor Gott (vgl. 25,37—39) und also gerade nicht das Suchen
des Lohnes bei Gott. Haenchen hat mit Recht auf den Pharisäer von Luk.
18,9ff. hingewiesen. Er aber wird verurteilt, nicht weil er vor Menschen sich
rühmt, sondern weil er „bei sich selbst" betend seine Vorzüge vor Gott ausbreitet
.

') 9,13; 12,7 (direkt neben dem Satz „hier ist mehr als der Tempel").
Darauf weist auch Branscomb a.a.O. (Sp.480 Anm. 2) 225 hin.

ihm Großsein vor Menschen sucht. Eben das ist die „bessere
Gerechtigkeit", die in den folgenden Versen verkündigt wird1
und die in der Gemeinde Jesu „geschieht". So setzt sich das
Gesetz und die Propheten zur Vollendung bringende Tun des
Messias in seiner Gemeinde fort. Wo das geschieht, da wird
kein einziges Gebot „aufgelöst" — es findet ja hier seine „Erfüllung
" —, und doch sind so radikale Sätze möglich, wie sie
in V.2 iff. stehen.

So scheint sich mir Matth, sowohl von der Radikalität der
Verkündigung Jesu wie vom Konservativismus eines Teils
der Urgemeinde2 abzuheben. Daß er eindeutige Worte kasuistisch
abschwächt, ist nicht zu leugnen3. Dennoch ist ihm das
Wort Jesu zu stark gewesen. Auch wenn es ihm noch nicht gelingt
, das wirklich Neue scharf und präzis zu formulieren, so
liegt ihm doch daran, festzuhalten, daß es mit Jesus gekommen
ist, daß mit ihm Gesetz und Propheten erfüllt sind. Und wenn
er die goldene Regel und die Nächstenliebe als Inhalt dieser
Erfüllung nennt, dann hat er ohne immer die Konsequenzen
zu ziehen, doch das erkannt, was schließlich alle Kasuistik
und alles Geltenwollen vor Menschen und vor Gott verun-
möglicht. So dringt durch sein Wort, das in seiner ganzen
Vorläufigkeit erscheint, hindurch das stärkere Wort, in dem
Jesus Christus selbst seiner Gemeinde begegnet. Zugleich aber
wird in der Vorläufigkeit der matthäischen Formulierung das
wesentliche Anliegen des Evangelisten sichtbar: Jesu neues
Gesetz soll getan und nicht nur betrachtet werden in der Gemeinde
. Alle Ansätze zur Kasuistik (die von den radikalen
Worten Jesu her durchaus zu korrigieren sind) wollen doch
nur dem Leser einhämmern, daß das liier Geforderte sehr konkret
vollzogen werden soll im Alltag. Und dies ist ein völlig
legitimes Anliegen. So wäre es falsch, diese Stimme des Matth,
isoliert zu hören, wie es falsch wäre, eine Begleitstimme in
einem Chor isoliert zu hören4. Es wäre aber auch töricht, das
Sonderanliegen dieser Stimme nun völlig zu ignorieren. In
seiner ganzen der Korrektur bedürftigen Vorläufigkeit bleibt
es dennoch ein Anliegen, das mitgehört werden muß.

') Bultmann wird wohl recht haben, daß V. 20 von Matth, gebildete
Überschrift ist (a.a.O. [Sp.480Anm. 1] 147, 161). Sie gehört mit V.17. 18c zusammen
, wo ebenfalls Matth, spricht, nur daß wohl in V. 17 eher damit zu
rechnen ist, daß Matth, schon vorgegebene Tradition neu formt.

2) Das würde ich stärker betonen als Haenchen, Z.Th.K- 1951, 58ff.

3) Selbst wenn Matth. 19,9 sachlich nicht sehr verschieden ist von
Mark. 10,11 (Lohmeyer zu Mark ), kommt er doch in seiner Formulierung in
fatale Nähe zur Praxis Schammais; Matth. 5,29f. fügt die Sätze von Mark. 9,
43—48 (= Matth. 18,8f. in etwas konzentrierterer Form) an an das Verbot
aller Unzucht, schränkt sie aber in kasuistischer Form ein auf die für Unzucht
gefährlichen Glieder (vgl. Str.-B. I302f.; zur Zufügung von „rechte": Bultmann
a.a.O.[Sp.480Anm. 3] 340); wenn Matth, zwischen 10, 40 (= Mark. 9,37
par.) und 42 (= Mark. 9,41) den V.41 setzt, dann interpretiert er V.40, der ursprünglich
die Gegenwart Jesu selbst in der Botschaft der Jünger unterstreicht
im Sinne von Keth. 111b usw. (Str.-B. I589f.): es wird ihm angerechnet,
als ob er es Jesus selbst getan hätte, und in V. 42, der doch wohl das Lohndenken
überhaupt aufhebt, wird in diesem Zusammenhang paradoxerweise der
Titel ol fiixgoi wieder zur geistlichen Würde (O.Michel, Th. Wb. III 654f.,
wo freilich der sekundäre Charakter nicht gesehen ist). Auch 5,33—37 ist zu
fragen, ob nicht Matth, in dem Wort, das Jak. 5, 12 ursprünglicher überliefert,
nur die Empfehlung einer ungefährlichen Schwurformel erblickte; denn doppeltes
Ja oder Nein galt als solche (Str.-B. I 336; durch sl. Hen. 49, 1 schon
früher bezeugt). Auch Matth. 18, 15—22 ist eine starke Erweiterung der
Luk. 17,3f. überlieferten Tradition, wobei das dort grundsätzlich Gesagte
bei Matth, kasuistisch geregelt wird.

*) Dazu W. Zimmerli, 1. Mose 1—11, 1943, 18—20.

Luther und die Gleich]

Von Walther v. Li

Jesu Gleichnisse waren von jeher ein Tummelplatz allegorischer
Auslegung; war man doch bis in die Neuzeit hinein der
Uberzeugung, sie seien Allegorien. Erst das bekannte Werk von
Jülicher hat einen grundlegenden Wandel in der Gleichnisexegese
geschaffen. Wenn es auch im einzelnen noch manche Fragen
offen läßt, so hat sich doch die darin vertretene Anschauung im
allgemeinen durchgesetzt, wonach es sich bei Jesu Gleichnissen
ursprünglich um echte Gleichnisse, nicht um Allegorien handelt
. Das seither erschlossene rabbinische Material hat dieses
Urteil bestätigt. Daß freilich manche Gleichnisse bei den Synoptikern
auch allegorische Züge an sich tragen, läßt sich nicht
leugnen. Die Frage, ob diese Züge ursprünglich sind, oder ob
es sich dabei um „allegorische Ubermalung" reiner Gleichnisse

istheorie von Mc 4,11 f.

e wen ich, Erlangen

Hermann Strathmann zum 70. Geburtstag
oder um spätere Bildungen der Gemeinde handelt, soll hier
nicht erörtert werden1. Aufs engste mit der Frage „Gleichnis
oder Allegorie" hängt die Beurteilung der sog. Verstok-
kungstheorie zusammen (Mc 4,11 f.). Beruht sie auf einem alle-
gorisierenden Mißverständnis von Jesu Gleichnissen oder liegt
in ihr ein Hinweis auf das „Geheimnis" des Reiches Gottes,
auf die Verborgenheit der Offenbarung, die sich nur dem
Hören auf Jesu Ruf in ihrer Wirklichkeit erschließt ? Ist demnach
die sachgemäße Gleichnisauslegung zwar nicht allego-

') Vgl. die allgemeine Übersicht „Gleichnis und Parabel", RGG2 II,
1238ff. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition (1921), S. 101 ff.,
über die Allegorie im besonderen s. 124.