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Ausgabe:

1952 Nr. 8

Spalte:

479-484

Autor/Hrsg.:

Schweizer, Eduard

Titel/Untertitel:

Matth. 5, 17-20 - Anmerkungen zum Gesetzesverständnis des Matthäus 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 8

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nach Paulus das Gute tun. Wer ihn so versteht, folgt nicht
einer „vorgefaßten Meinung" über das christliche Leben (als
Lutheraner vermag ich mir die Worte des Apostels theologisch
durchaus nicht einfach anzueignen!), sondern dem, was die
Texte sagen. Rom. 7,14 ff. mit Nygren verstanden, wäre völlig
isoliert und analogielos unter allen Paulusbriefen.

Daß Nygrens Auslegung den Text nicht für sich, sondern
gegen sich hat, wird auch daran deutlich, daß N. — ebenso wie
Luther und Calvin (s. PI. und Luther, 2. Aufl. S. 5 2 ff.) — unwillkürlich
das von Paulus Gesagte abschwächt, um es auf
den Christen beziehen zu können. „Ein Christ muß es dauernd
erfahren, daß Gottes Wille, den er in seinem Innersten verwirklicht
wünscht, doch hier auf Erden nicht so geschieht,
wie er es sollte, ja daß er auch nicht durch die Taten des
Christen zur Ausführung gelangt ... Es ist die von jeder
menschlichen Tat, auch von der des Christen, untrennbare
fleischliche Bestimmtheit, die es macht, daß die Tat niemals
dem Willen entspricht" (219). Gottes Wille geschieht „nicht
so", wie er es sollte; die Tat „entspricht" niemals dem
Willen — aber bei Paulus steht: die Tat widerspricht dem
Willen, ich tue das Böse. Mir scheint, Nygrens abschwächende
Formulierungen verraten, daß er im Grunde die Worte, des
Apostels, wie sie lauten, doch nicht mit seinem, des Paulus,
sonstigen Bilde des Christenmenschen vereinigen kann. Um
nur im Römerbriefe zu bleiben — wie vermag man es für möglich
zu halten, daß Paulus von demselben Christen gesagt
haben soll „ich bin verkauft unter die Sünde" (7,14), dem
er 6,16 und 8,2 verkündet: „frei geworden von der Sünde,
freigemacht vom Gesetze der Sünde"! Das wäre wahrhaftig
eine Theologie des Ja und Nein! Der lahme Satz, mit dem N.
beides zusammenzudenken versucht („selbst wenn er durch
Christus ,frei von der Sünde' geworden ist, so daß sie nicht
mehr sein Herr ist, so steht er doch, solange dieses Leben
dauert, unter den Bedingungen der Sünde", 2i8f.), hilft über
dieses sie et non nicht im mindesten hinweg: wer „unter die
Sünde verkauft" ist, dessen Herr ist sie doch wohl immer
noch! Nein, so hat Paulus niemals vom Menschen „in Christus
Jesus" (Rom.8,1) geredet! Hier wird er in eine ihm fremde
Theologie gezwängt.

Umgekehrt hat Rom. 7, i4ff., als Bild des Menschen unter
dem Gesetze verstanden, durchaus Analogien. Hier ist vor
allem an 4. Esra 9,36 t. und andere Stellen zu erinnern, worauf
u. a. Lietzmann (zu Rom. 7,14) und A. Schweitzer (Die
Mystik des Apostels Paulus, S.209) längst hingewiesen haben;
auch hier „ringt ein tiefes Bewußtsein der menschlichen Sündhaftigkeit
mit dem Probleme des Gesetzes" (Schweitzer). Auch
hier das Ja zu der Herrlichkeit des Gesetzes — und zugleich
das Bekenntnis der eigenen Ohnmacht, es zu erfüllen. Sollte
Paulus, ehe er Christus begegnete, nichts davon gewußt und
erfahren haben? Man darf Phil. 3,6 als Selbstzeugnis über seinen
inneren Stand unter dem Gesetze nicht absolut setzen: Paulus
mißt sich, in der Polemik gegen die Judaisten oder Juden, an der
jüdischen, pharisäischen Gerechtigkeitsnorm — aber unter
und neben dem hierauf bezogenen Stolze ist bei ihm ebensogut
wie in der spätjüdischen Frömmigkeit überhaupt Raum gewesen
für die Erfahrung und das Bekenntnis der Ohnmacht.
W. Bousset (Die Religion des Judentums im neutest. Zeitalter
, 21906, S.446) spricht von einer „charakteristischen Disharmonie
der Stimmungen" bei den jüdischen Frommen und
sagt mit Recht: „Auch der bußfertige Zöllner gehört schließlich
in den Gesamtumfang der jüdischen Frömmigkeit; auch
die Stimmung, welche Paulus Rom. 7 so grandios zur Darstellung
bringt, ist schon dem Pharisäer Paulus zugänglich gewesen
" — mag sie auch (so füge ich hinzu) erst im Rückblicke
des Christen Paulus die ganze Schärfe ihres Ausdrucks
gefunden haben.

3. Das Bild des natürlichen Menschen

Schon angesichts der jüdischen Frömmigkeit zur Zeit Jesu
ist das Bild des natürlichen Menschen, wie Nygren es zeichnet,
schlechterdings konstruiert, der Wirklichkeit fremd, eine dogmatische
Karikatur. Da nach ihm der rätselhafte Widerspruch,
von dem Paulus 7,1 4 ff. handelt, für das christliche Leben bezeichnend
sein soll, muß er für den natürlichen Menschen geleugnet
werden. Während der Christ den Widerstreit, das Mißverhältnis
zwischen Wollen und Tun beklagt, „herrscht" im
„gewöhnlichen Menschenleben" „eine natürliche Ubereinstimmung
zwischen Wille und Tat" (219). Der natürliche Mensch
hat die Neigung zu meinen: „wenn man etwas nur wirklich
will, dann kann man es selbstverständlich auch in die Tat umsetzen
". — Sicher, es mag flache Menschen genug geben, auf
die das zutrifft. Aber gilt es für den „natürlichen Menschen"
insgemein ? Hat Paulus, dessen jüdische Zeitgenossen weithin
von dem bewegt waren, was wenig später im 4. Esra-Buche
ausgesprochen wird, den Menschen unter dem Gesetze so sehen
können ? Nein, dieses Bild der „natürlichen Übereinstimmung
von Wille und Tat" ist, wenn es allgemein für den Menschen
ohne Christus gelten soll, rein konstruiert, nämlich einfach als
Gegenbild zu dem auf den Christen gedeuteten Bilde des Menschen
Rom. 7. Und durch seine Unwirklichkeit beweist es, daß
man 7, i4ff. nicht von dem Christen im Unterschiede vom
Menschen ohne Christus verstehen darf.

Nygren hält meinem Satze, daß der Mensch unter dem Gesetze „der
Mensch im Widerspruch" sei, entgegen: „Aber wo steht bei Paulus etwas
hiervon?" Ich hatte geschrieben: „Der Mensch hört das Gesetz mit Lust
und tut das Böse mit Lust...Nicht das ist des Menschen Not, daß er sich
des Guten nicht freute, es nicht möchte und wollte, sondern daß er es
bejaht, möchte, will — und zugleich, er, derselbe Mensch, doch nicht will
und daher nicht tut". Nygren fragt: „Wo hat er (Paulus) gesagt, daß der
Mensch, von dem er hier spricht, seine Lust am Bösen hat? Es steht ja statt
dessen, daß er es haßt. Wo hat Paulus gesagt, daß der hier genannte Mensch
das Gute will und nicht will ? Es sagt ja mit allem Nachdruck gerade das Gegenteil
" (2121). Ich kann nur in Kürze erwidern: ist das „Gesetz in den Gliedern"
(7,23) nicht gleich dem „Fleische", und das Fleisch nicht gleich der „Begierde"
von 7,7fl? Von dem Fleisch heißt es Gal. 5,17, daß es „begehrt" - ist das nicht
„Lust", böse Lust, Lust am Bösen, nicht-Wollen des Guten? Nygren wird erwidern
(213): eben weil der Mensch von Rom. 7, 14ff. „nicht das Böse will,
sondern es haßt, kann Paulus sagen: .Dann bin ich's aber nicht mehr, der es
tut'". Indessen bei Paulus ist das ja nur eine vorübe rgehen de Unterscheidung
des Ich von der Sünde. Nachher, in 7,25, wird sie insofern überholt, als ein
und dasselbe Ich als Subjekt auch des Sündendienstes zu stehen kommt —
gewiß mit seinem Tun; aber es gibt doch kein böses Tun, das nicht aus der snt-
&v/uia käme, dem die Lust fehlte, die Lust der aap!, von der Paulus sich in
Rom. 7,17ff. mit seinem Ich distanziert hat, um sie 7, 25 doch nicht minder
als den vovs mit seinem Ich ineinszusetzen. Das „Gesetz in den Gliedern" ist
auch er selbst, die Lust der odp!- ist auch er selbst. Damit meine ich auf die
Frage „wo steht bei Paulus etwas hiervon?" geantwortet zu haben. Ich muß
trotz Nygren an dem, was in „Paulus und Luther" hierzu gesagt ist, ohne Abzug
oder Abschwächung festhalten.

Matth. 5,17-20 — Anmerkungen zum Gesetzesverständnis des Matthäus1

Von Ed. Schweizer, Zürich

Hermann Strathmann zum 70.Geburtstag
1. Ich gehe aus von V. 18. Wie Luk. 16,17 beweist, ist er
einmal für sich isoliert umgelaufen1. Dieser Vers, der die unbedingte
Geltung des Gesetzes, „bis Himmel und Erde vergehen
", unterstreicht, bekommt bei Matth, den Zusatz ea>s
&v nävin y£vt]Tai2. Dasselbe Sätzlein steht 24,34 (= Mark.
13,30, aber mit iie%Qig oß formuliert) und meint dort sicher
das Eintreten des vorher Geweissagten. Versteht man es hier

Der Abschnitt ist schon oft und auf sehr verschiedene
Weise interpretiert worden. Die ausgezeichnete Analyse von
Matth. 23 durch E. Haenchen2 dürfte es aber rechtfertigen,
von ihren Ergebnissen aus nochmals auf unsere Stelle zurückzukommen
.

') Der Jubilar, den ich mit dieser Miszelle grüßen darf, hat uns gezeigt,
wie der Begriff der kargtia sich gewandelt hat und im NT nicht mehr nur das
kultische Handeln, sondern „im Grunde das ganze Leben des Christen" umfaßt
; wie auch „mit dem Selbstopfer Christi" das Ende alles priesterlichen
Opferkultes gekommen ist und es darum keine Xeixoi^yia einzelner Amtsträger
mehr gibt (Th Wb. IV 65, 235). So mag es mir erlaubt sein, eine der
Stellen zu wählen, die ganz besonders deutlich von dieser Xatpeia aller Gemeindeglieder
handelt.

2) Z. Th. K. 1951, 38—63. Angeregt hat mich auch eine der Zürcher Fakultät
von V. Hasler eingereichte Dissertation „Gesetz und Evangelium in
der alten Kirche", wo freilich anders analysiert wird.

') Daß Luk. aus dem ganzen, schon in Q vorliegenden Komplex nur gerade
den schärfsten Vers übernommen hätte (R. Bultmann, Geschichte der
synoptischen Tradition, 1931, 147), ist doch sehr unwahrscheinlich. Zwar zeigt
auch er, daß das Leben nach dem Evangelium nichts anderes ist als ein konsequentes
Leben nach dem Gesetz (Ag.21,20124; 22,3; 23,1.6.9; 24,14fl;
25,8); aber ihm ist doch gerade wichtig, daß das Evangelium die richtige Erfüllung
des Gesetzes, die Geschichte der Gemeinde Jesu die einzig legitime
Fortsetzung der Geschichte Israels war (vgl. auch Ag. 15, 101).

2) Vgl. schon B. H. Branscomb, Jesus and the Law of Moses, 1930, 214.