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Ausgabe:

1952 Nr. 7

Spalte:

430-431

Kategorie:

Kirchengeschichte: Territorialkirchengeschichte

Autor/Hrsg.:

Schneider, Alfons Maria

Titel/Untertitel:

Die Bevölkerung Konstantinopels im XV. Jahrhundert 1952

Rezensent:

Müller, Ludolf

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theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 7

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die im Kiever Paterik berichtete reichlich mirakulöse Legende
vom Varäger Simon für bare Münze nimmt, nach der dieser
unter dem Einfluß eben jenes Feodosij die „lateinische Torheit
" verläßt und aus einem Varäger (d.h. Lateiner) zum
„Christen" wird (S.32). Und daß dieser Ubertritt eine Folge
des in Kiev herrschenden Mangels an Klarheit gewesen und
von Simon „ohne Bedenken" vollzogen worden sei (S.32),
kann erst recht nicht aus der Quelle entnommen werden, deren
Angaben man aber m. E. überhaupt nicht so „ohne Bedenken"
Glauben schenken darf, wie es der Verf. tut.

Allerdings lösen sich die Befürchtungen, die der Leser
nach der Lektüre des allzu knappen Abschnittes über die Kirchengeschichte
des Kiever Rußland hat, beim weiteren Studium
des Buches teilweise auf. Es wird späterhin nicht mehr
bloß die eine Frage (nach dem Verhältnis zu Rom) gestellt,
sondern das gesamte kirchliche Leben der Ostslawen gleichmäßig
berücksichtigt und bewertet. Auch in der „schismatischen
" Kirche findet der Verf. „wahre, übernatürliche Frömmigkeit
" (555), sieht er die „übernatürliche Lebenskraft" wirken
(564) und trifft er auf Entscheidungen, die im Sinne des
Evangeliums gefällt werden (621). Natürlich gilt sein besonderes
Interesse der Union, wobei er gegenüber den Mängeln
der Brester Union nicht blind ist. Sein Ideal einer künftigen
Union, bei der die ehrliche Anerkennung aller Riten durch
Rom Voraussetzung (328) ist und die nicht durch Losreißung
eines Gliedes vom Leibe der östlichen Kirche, sondern nur
durch eine „Gesamtbereinigung auf einem allgemeinen Konzil
herbeigeführt werden kann" (214), schimmert deutlich durch
die historische Darstellung hindurch. Der Verlauf der russischen
Kirchengeschichte ist deswegen auch nicht eigentlich
polemisch, sondern eher im „mitleidenden Erleben und Ausdeuten
ihrer religiösen Tragödie" (wie Florovskij das nennen
könnte) dargestellt.

So finden sich verhältnismäßig selten schroffe Urteile über
die Ostliche Orthodoxie. Nicht ganz gerecht ist es vielleicht,
wenn man den „Domostroi" mit den asketischen Büchern des
Westens vergleicht (220) oder dem Patriarchen Nikon vorwirft,
er habe die Zeit- und Kulturwende, die damals über Rußland
hereinbrach, nicht verstanden (285). Und wenn A. dabei zum
Vergleich auf die Päpste verweist, die es stets verstanden
hätten, die kulturellen Strömungen der Neuzeit aufzufangen
und für die Zukunft fruchtbringend zu gestalten (285 und 564),
so zeigt die Papstgeschichte der Neuzeit von JuliusII. bis zu
PiusX. doch auch manchen Papst, der sich den Zeitströmungen
entweder hemmungslos hingegeben oder verständnislos
entgegengestemmt hat.

Das Buch will vor allem „Tatsachen" bieten (S. IX), aber
es will doch auch, wenigstens in seinem I. und II. Teil (bis zu
Peter dem Großen) gleichzeitig eine „Geschichte der geistigen
Kultur der ostslawischen Stämme" (365) sein. Der Verf. selbst
scheint zu empfinden, daß ihm die erste Absicht besser gelungen
ist als die zweite, denn er schreibt im „Vorwort zur
deutschen Ausgabe", daß er in einem zweiten geplanten Buch
eine Geschichte der kirchlichen Kultur zu schreiben gedenkt.
Es ist zu hoffen, daß die allzu knappen Ausführungen über
einen Illarion, über einen Feodosij und Nestor, über Nil Sors-
kij und viele andere bedeutende Gestalten der russischen Kirchengeschichte
dann erweitert werden und diese Gestalten
dann auch für den mit ihnen noch nicht vertrauten Leser Gestalt
und Farbe gewinnen. Vielleicht können die nun folgenden
Anmerkungen und Korrekturen nicht nur dem Leser bei der
Benutzung des Buches, sondern auch dem Verf. bei der Abfassung
seiner künftigen Arbeit von Nutzen sein.

Der Begriff des „östlichen, Außereuropäischen" (161) oder „Östlich-
Halbasiatischen" (223) oder auch ganz „Asiatischen" (595), mit dem der Verf.
die russische Weltanschauung, die Wesenheit des russischen Volkes oder seine
Regierungsart kennzeichnet, ist so unbestimmt, daß er zu einer Charakterisierung
mit Anspruch auf wissenschaftliche Gültigkeit ungeeignet ist. In diesen
Zusammenhang gehört auch die Bezeichnung des Zaren Boris Godunov als
„Tataren" (230) oder als „halben Tataren" (238). Zwar war der Urahne des
Zaren aus der Horde nach Moskau gekommen, aber immerhin schon unter
Ivan Kaiita, also mehr als 200 Jahre vor der Geburt unseres Helden, und man
könnte mit mehr Recht Puskin einen Abessinier, Dürer einen Ungarn und Fontane
einen Franzosen nennen als Boris Godunov einen Tataren.

Epifanij Premudryj kann nicht gut als einer „der bedeutendsten Schriftsteller
der russischen Frühzeit" (130) bezeichnet werden, und am allerwenigsten
kann man von ihm sagen, er habe „voll Einfachheit" geschrieben (136): ist er
doch gerade das klassische Beispiel für den üppigen und übertriebenen Wortprunk
der Literatur seiner Zeit. Fürst Kurbskij war ebensowenig wie Artemij
,,von josefitischer Sinnesart durchtränkt" (201), sondern im Gegenteil Anhänger
des Nil Sorskij, sowohl in der Frage der Bestrafung der Häretiker wie
in der des Klosterbesitzes. Wieso der Zinovij, der die „Darlegung der Wahrheit
" geschrieben hat, ein anderer sein soll als der Verf. des „Redseligen Sendschreibens
", müßte mindestens mit einem Worte angedeutet werden (225).
Daß Iwan IV. seine Schrift gegen den Protestantismus nicht selbst verfaßt hat
(226), habe ich in meiner Arbeit „Die Kritik des Protestantismus in der russischen
Theologie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert" (Wiesbaden 1951), S.28ff.
erneut gezeigt. Daß die fachtheologischen Auseinandersetzungen vor dem Ende
des 17. Jahrhunderts sich auf reine Wortausdeutungen beschränkt hätten (293),
ist wohl zuviel gesagt. Ebenso ist es schwer verständlich, daß der Verf. meint,
die „Synopsis" des Jahres 1674 sei in Südrußland der erste ernsthafte Versuch
gewesen, Geschichte zu schreiben (351). Sind die mittelalterlichen Chroniken
nicht Geschichtswerke hohen Ranges und haben sie ihren Ursprung nicht im
gleichen Kiev? Tveritinov erscheint im Text und im Register als Tetwirinow
(379). Übrigens zeigt er nur in seinen Negationen Züge, die man kalvinistisch
nennen könnte. Die russischen Freimaurer waren im allgemeinen durchaus
nicht Deisten (412), sondern im Gegenteil Mystiker. Von Radiäiev zu behaupten
, er sei „bis zum vollendeten Atheismus" gekommen und sich hierfür auf die
„Reise von Petersburg nach Moskau" zu berufen (412), erscheint mir als ungerechtfertigt
. Der Widerstand gegen die Religionspolitik Alexanders I. erhob
sich nicht gegen Ende (480), sondern zu Anfang der 20er Jahre. Die Stundisten
(ich halte diese Namensform für besser als die vom Verf. gebrauchte „Stun-
diten") waren nicht Rationalisten (551), sondern pietistische Biblizisten. Wieso
Dostojevskijs vom Verf. so genannte „Fabel vom Großinquisitor" die negative
Einstellung des Dichters gegen die russische Orthodoxie zum Ausdruck bringen
soll, ist mir unerfindlich (558). Von Solovjevs Sophia-Lehre kann man eigentlich
nicht sagen, sie sei „nicht klar faßbar" (560). Dagegen ist sicher, daß sie
vom Standpunkt der katholischen Dogmatik aus nicht angenommen werden
kann und daß Solovjev sie trotzdem festgehalten hat, auch nachdem er sich
dem Papst unterstellt hatte (560). Bei der Darstellung der Gedanken Fedorovs
wird seine Hauptidee (von der Auferweckung der Toten) mit keinem Worte
erwähnt (590). Ohne die Bedeutung des Ioann von Kronstadt in irgendeiner
Weise herabsetzen zu wollen, möchte ich doch fragen, ob die Tatsache, daß ein
Buch ins Französische übersetzt wird, als Kriterium für seine Bedeutung angesehen
werden kann (586)

Unbefriedigend ist das Problem der Transskription der russischen Worte
gelöst. Wenn mit Rücksicht auf die Nachschlagewerke des Herderverlages die
Umschreibung nach den für diese Werke geltenden Verlagsnormen durchgeführt
ist (s. S. X), so läßt sich fragen, warum das im gleichen Jahr im gleichen
Verlag erschienene Werk von Bernhard Schultze „Russische Denker" die
wissenschaftliche Transskription benutzt, obwohl es sich seinem Inhalt und
seiner Darstellungsweise nach an einen weiteren Leserkreis wendet. Leider ist
auch die in den Literaturangaben und den Anmerkungen benutzte wissenschaftliche
Transskription nicht konsequent durchgeführt, und das Nebeneinander
russischer und lateinischer Namensformen (etwa Jurij-Georg, Iwan-Johann
usw.) kann den Nichtfachmann vollends in Verwirrung bringen. Wenn man
„Tmutorokanje" schreibt, müßte man eigentlich auch „Kasanje" sagen. Eine
schreckliche Mißhandlung der russischen Phonetik ist es auch, wenn stimmhaftes
l und stimmloses s durch das gleiche deutsche „sch" wiedergegeben
wird (etwa „Schidiata"; auf S. 208 ist „Uloienie" einmal mit „2" und einmal
mit „sch" geschrieben, und außerdem erhält es dauernd den weiblichen Artikel).
Außerdem enthalten die Literaturangaben und Anmerkungen neben den zahlreichen
Inkonsequenzen in der Transskription eine ziemlich große Anzahl von
Druckfehlern. Im folgenden sind nur die von mir bemerkten sinnstörenden
Druckfehler im Text aufgeführt: S.65 muß es heißen: 1170 (statt 1070);
S. 219: 1553 (statt 1533); S. 404: Absolutismus (Rationalismus); 480: 1792
(1822); 589: Abgefallenen (Abgestandenen); 592: Ehrenberg (Ehrenfried);
693: „Wasilij II" ist einmal zu streichen, dafür „Jurij von Haiisch" einzusetzen
.

Der Stil der Erzählung steht nicht immer auf gleicher Höhe. Trotz des
ausdrücklichen Verzichtes des Verf. könnte man gelegentlich wünschen, daß
die Dokumentierung besser wäre, besonders bei der Äußerung solcher Anschauungen
, die nicht allgemein anerkannt sind und die der Leser deshalb nachprüfen
möchte. Für den Benutzer des Buches ist es leichter, über Anmerkungen
, die er nicht braucht, hinwegzulesen, als die fehlenden Angaben, die er
braucht, zu ergänzen.

Alle diese Einwendungen sollen die Bedeutung und den
Wert des Buches nicht herabsetzen oder gar bestreiten. Es ist
bei einem derartigen ersten Versuch einer umfassenden Synthese
leicht, an Einzelheiten Kritik zu üben. Wenn ich es getan
habe, so nur im Sinne der vom Verf. ausgesprochenen Bitte
um eine ernsthafte Kritik. Durch die hier zum ersten Male
gebotene Gesamtdarstellung des Ablaufs der russischen Kirchengeschichte
ist das Buch (wenigstens für den mit dem Gegenstand
etwas Vertrauten) eine fesselnde und ergreifende
Lektüre und für den auf diesem Gebiet wissenschaftlich Arbeitenden
ein unentbehrliches Hilfsbuch.

Marburg Ludolf Müller

Schneider, Alfons Maria: Die Bevölkerung Konstantinopels im XV.

Jahrhundert. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht [1949]. gr. 8° =
Nachrichten der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philol.-hist.
KL, Jg. 1949, Nr. 9, S. 233—244. DM 1.50.

Die methodisch vorzüglich aufgebaute, sorgfältig belegte,
durch zwei Kartenskizzen ergänzte und fesselnd geschriebene