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Ausgabe:

1952 Nr. 7

Spalte:

427-480

Kategorie:

Kirchengeschichte: Territorialkirchengeschichte

Autor/Hrsg.:

Ammann, Albert M.

Titel/Untertitel:

Abriss der ostslawischen Kirchengeschichte 1952

Rezensent:

Müller, Ludolf

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 7

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welche sich der Krankheit annahmen, nachdem die offiziell mit der Überwachung
betrauten Kirchenführer sie nicht bemerkten. Statt dessen liest man
mit einigem Staunen, auch die Reformatoren seien "spiritually sick, rather
than vicious, unfortunates rather than wicked men" gewesen (ib.). Über
Luther wird geurteilt, "his general theological formation must be reckoned
poor" (S. 119), weshalb er unfähig gewesen sei, für seine inneren Nöte die Lösungen
zu sehen, "as the classic theologians, long before his time, had worked
this out" (ib.). Seine Rechtfertigungslehre wird in der in England populären
Verzerrung dargestellt, wonach am gerechtfertigten Menschen innerlich und
äußerlich alles beim Alten bleibt, nur daß die Sünden nicht mehr imputiert
werden (S.121, 141 A. 4, 142 A. 2). Offensichtlich tun die immer noch nicht
abgelegten römischen Scheuklappen dem Verf. den Dienst, Luther nicht
zu sehen. Man muß annehmen, daß Verf. keine einzige Seite von ihm gelesen
hat, so ahnungslos ist er in dem Punkt, daß Sündenvergebung nach Luther
kein rein negativer Vorgang ist, sondern jene "transmutatio mentis et affec-
tus" (WA 1, 526, 3) und damit die nova creatura mit sich bringt.

Bei der Beurteilung Tyndales begeht Verf. den doppelten Fehler, daß er
dessen Verständnis vom Glauben als einem Werkmeister einerseits Luther
entgegenstellt ("Luther would here reject Tyndale as strenuously as he would
reject the Catholic", da der erste "the all-sufficiency of saving faith", d.h.
einen Glauben ohne Werke vertrete und darum den Jakobusbrief eine stroherne
Epistel nenne S. 142), anderseits sie als Perfektionismus mißversteht (S.141).

Von Staupitz hat Verf. recht trübe Vorstellungen, wenn er sagt, Luther
habe angekämpft "against the Ockham-begotten insufficiencies of the spiritual
direction given him by his own devoted master and superior, John Staupitz"
(S. 123). — Zwingiis Erbsündenlehre wird übersehen, wenn es von ihm heißt,
er sei auf einem ganz andern Weg als Luther zu seinen theologischen Folgerungen
gekommen, doch seien es "in the main" die gleichen gewesen, nämlich "the
utter corruption of human nature as a result of Adam's fall" (S. 125). Kleinere
Versehen sind es, wenn etwa Jüterbog "Jutenborg" (S.3), der nach England delegierte
Myconius mit Vornamen Franz statt Friedrich heißt und in seiner
amtlichen Stellung als Superintendent "of Nuremberg" statt von Gotha bezeichnet
wird (S. 357). An Literatur ist die kontinentale fast ganz übergangen
und von der englischen S. L. Greenslade: The Work of William Tindale, London
-Glasgow 1938; und J. F. Mozley: John Foxe and his Book, London 1940.

Was die englische Reformation anlangt, wird im wesentlichen
in den alten Gleisen gefahren, daß die Ehescheidungsangelegenheit
Heinrichs VIII. für ihn wie für das Volk die treibende
Kraft gewesen sei, dergegenüber die Lollardenbewegung
wie die vom Anliegen der Reformation erfaßten englischen
Theologen stark zurücktraten (S. 195t. u. ö.). Die Schrift von
G. Rupp: Studies in the Making of the English Protestant
Tradition, Cambridge 1947, die den Nachweis führt, daß es
lange vor der Entscheidung des Königs eine vor allem unter
Luthers Einfluß stehende 'Cambridge Movement' gab, aus
deren Gruppe später sieben Bischöfe und vier Erzbischöfe hervorgingen
, hat Verf. in Nebenfragen zitiert, doch die Auseinandersetzung
mit ihr unterlassen. In der Charakterschilderung,
vor allem was den schwierigen Heinrich VIII. anlangt, reicht
Verf. an H. Maynard Smith: Henry VIII and the Reformation,
London 1948, nicht heran.

Als Protestanten mögen wir billig fragen, wie lange wir
wohl noch werden warten müssen, bis man auf römischer Seite
aufhört zu meinen, sich — wie Verf. tut — mit einigen Sätzen
aus Möhlers Symbolik über die reformatorische Theologie
immer noch ausreichend informieren zu können.

Göttingen Erich Roth

KIRCHENGESCHICHTE: OSTKIRCHE

Ammann, Albert m., Prof., s.j.: Abriß der ostslawischen Kirchengeschichte
. Wien: Thomas Morus Presse im Verlag Herder [1950]. XVI, 748S.
gr. 8°. Lw. S. 86.— ; DM 26.—.

Seit vor fast 30 Jahren N. Bonwetsch in einem kleinem
Büchlein von insgesamt 89 Seiten die ,,Kirchengeschichte
Rußlands im Abriß" (Leipzig, Quelle und Meyer, 1923) in wohl
ausgewogener und gründlich fundierter, aber für den Bedarf
des Wissenschaftlers doch allzu knapper Weise dargestellt hat,
ist bis zu dem vorliegenden Werke von Ammann keine
deutsche und m. W. auch keine in einer anderen Sprache geschriebene
, den Anforderungen der Wissenschaft auch nur
einigermaßen genügende Darstellung der russischen Kirchengeschichte
veröffentlicht worden. So muß man dem Verf. für
die von ihm geleistete Arbeit der Durchdringung des gewaltigen
Stoffes und der Bewältigung einer in vielen Sprachen geschriebenen
fast unübersehbaren Literatur (eine Arbeit, die
vielleicht nur im Päpstlichen Orientalischen Institut, an dem
der Verf. als Professor tätig ist, in dieser Weise getan werden
konnte), sowie für die übersichtliche Darstellung, die durch ein
ausführliches Inhaltsverzeichnis, durch reichhaltige Literaturangaben
vor den einzelnen Kapiteln, durch eine große Zahl von
Bischofs- und Herrschertabellen (S. 673—696) und drei Indizes
(Namen, Orte, Sachen, S.697—748) glücklich ergänzt ist, aufrichtig
dankbar sein. Das Buch wird wahrscheinlich für lange
Zeit notwendiger Bestandteil jeder ostkirchlichen Bibliothek
sein.

In vornehmer Bescheidenheit schreibt der Verf. im Vorwort
seines Buches, daß er „sich am Ende seiner Bemühungen
mehr als je ihrer Unvollkommenheit bewußt" und daß er ,,im
Interesse der Wahrheit, die allein aufbaut, allen ernsten Kritikern
und Fachgenossen für jede Anmerkung und Anregung
dankbar" sei (S.X). Nur im Sinne dieser freundlichen Aufforderung
zu ernster Kritik bitte ich meine nachfolgenden Ausführungen
zu verstehen.

Wie sich von selbst versteht, ist der Standpunkt des Verfs.
der streng katholische. Daß die Protestanten konstant als
„Neugläubige" oder „Häretiker" bezeichnet werden, daß die
pietistisch-spiritualistische Frömmigkeit der Epoche Alexanders
I. als „verworrenes", „farbloses", „schwammig-unbestimmtes
" „Allerweltchristentum" und als „öde Gleichmacherei
" (478ff. passim) erscheint, daß ein Prediger der Böhmischen
Brüder nur in Anführungsstrichen als Geistlicher bezeichnet
wird (226) und der Altkatholizismus als Sekte gilt
(547), während auf der anderen Seite der Jesuitenorden als
unter dem besonderen Schutz der Vorsehung stehend betrachtet
wird (S.470), fällt dem nichtkatholischen Leser zwar
auf, ist aber von dem Standpunkt des Verfs. aus gesehen konsequent
und voll verständlich. Dagegen macht es einen etwas
peinlichen Eindruck, daß die „Festigkeit der russischen Staatskirche
gegenüber allen Neugläubigen" (548) und das energische
Vorgehen des Staates, auch mit härtesten Maßnahmen, gegen
einheimische und von außen kommende Sekten (225, 394, 495,
584) sehr gelobt, während die Verfolgung der Katholiken
und. Uniaten als objektiv verwerflich geschildert wird.

Aber wichtiger als all dies ist, daß die an sich löbliche
Klarheit des Standpunktes gelegentlich zur Einseitigkeit wird
und dann zu einer Verschiebung der Perspektive führt. Aus
der Geschichte der russischen Kirche wird dann die Geschichte
der Beziehungen dieser Kirche zu Rom. Besonders die Behandlung
der ältesten Zeit leidet unter dieser vom katholischen
Standpunkt aus zwar verständlichen, aber für eine so breit angelegte
Darstellung doch inadäquaten Verengung des Interesses
. Offenbar hat der Verf. hier zu stark unter dem Einfluß
seiner eigenen, 1936 in den „Orientalia Christiana Analecta"
(Nr. 105) vorgelegten sorgfältigen Untersuchung über die „Kir-
chenpolitischen Wandlungen im Ostbaltikum bis zum Tode
Alexander Newskis" gestanden. Der ganze erste Abschnitt
des neuen Buches (S.9—61) ist im wesentlichen eine verkürzte
Wiedergabe des Inhaltes dieser älteren Schrift. Was in ihr
nicht zur Fragestellung einer Gesamtkirchengeschichte gehört
hatte, wird in dem neuen Buch nur sehr knapp und unter inadäquaten
Kapitelüberschriften angedeutet. So erscheinen die
kurzen Ausführungen über das religiöse Schrifttum der Zeit
um 1100 mit in dem Kapitel: „Der Ausfall des Kreuzungserlebnisses
" (S.35L). Der Gründung des Kiever Höhlenklosters
und seinem Leben während der ersten hundert Jahre ist nicht
ganz eine Seite gewidmet. Selbst aus dem schmalen Bändchen
von Bonwetsch erfahren wir darüber mehr als aus diesem Buch
von über 750 Seiten! Und selbst auf dieser einen Seite wird
vor allem von der Beziehung der Äbte und Fürsten zum Abendland
gesprochen. Uber die von Nestor verfaßte Vita der Heiligen
Boris und Gleb wird nur gesagt, daß sie kein antilateinisches
Wort enthalte (warum sollte sie übrigens auch ?). Auch
an der Chronik interessiert vor allem, daß sie kaum etwas
gegen die Lateiner sagt (S.35).

Bei der Beantwortung dieser ihn vor allem interessierenden
Frage nach dem Verhältnis zu Rom zeigt der Verf. die
Tendenz, am Anfang der russischen Kirchengeschichte möglichst
intensive Beziehungen zum katholischen Abendland
nachzuweisen. Nun ist nicht zu bezweifeln, daß diese im 10.
und 11. Jahrhundert tatsächlich noch sehr viel lebendiger waren
als in der späteren Zeit, doch scheint mir A. im Interesse
dieser Tendenz bei der Beurteilung und Interpretation der
Quellen gelegentlich zu weit zu gehen. Angesichts der Tatsache
, daß von dem ersten russischen Metropoliten Marion
keine romfeindlichen Äußerungen erhalten sind, kann er zwar
nach dem Grundsatz des „in dubio pro reo" nicht wegen Romfeindlichkeit
verurteilt werden, aber zu einem glatten Freisprach
wegen erwiesener Unschuld (vgl. S. 27) geben die vorliegenden
Zeugnisse doch nicht genug her. Des heiligen Feo-
dosij Treue zum Fürsten Izjaslav als Beweis für seine Freundlichkeit
dem Westen gegenüber anzunehmen (S. 31), erscheint
mir besonders dann als fragwürdig, wenn man mit dem Verf.