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Ausgabe:

1952 Nr. 7

Spalte:

401-412

Autor/Hrsg.:

Kahle, Paul

Titel/Untertitel:

Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften 1952

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 7

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des Erhöhten miteinschließt, je und je hineingesprochen in eine
neue Situation"1, — wobei als Allerletztes beizufügen wäre,
daß dieses ,,je und je hineingesprochen in eine neue Situation"
dann auf seine Weise auch über aller Auslegung des Wortes

') Auch an dieser Stelle wäre eine weitere Klärung freilich notwendig.
Ein Fall wie das „Wort des Herrn" 1. Thess. 4,15 wäre ein Fall für sich, wenn
es hier um eine an den Apostel Paulus ergangene besondere Weisung geht. Er
läge jedenfalls völlig anders wie der Fall, aus dessen Anlaß Bornkamm diesen
Satz geschrieben hat, indem er nämlich das Gleichnis Matth. 25, 1 —13 als
„Gemeindebildung", aber dennoch als „Wort des Erhöhten" glaubt ansprechen
zu sollen.

Jesu, auch über unserer Auslegung heute, stehen sollte und daß
ohne solche Vergegenwärtigung durch die Kraft des heiligen
Geistes auch das echteste Wort Jesu im NT kein lebendiges
Wort an seine Gemeinde heute würde sein können1.

*) An der sich an den Vortrag anschließenden Diskussion unter Leitung
von Henri Ciavier (Strasbourg) beteiligten sich Rudolf Bultmann (Marburg),
G. Sevenster (Leiden), Hermann Strathmann (Erlangen), N.A.Dahl (Oslo),
Günther Bornkamm (Heidelberg) und P. Bratsiotis (Athen). Auf ihre Voten
gehe ich hier nicht ein, da auf der Tagung allgemein zum Ausdruck kam, daß
diese Fragen weiter verfolgt werden sollten, so daß zu hoffen ist, daß die vorliegende
Veröffentlichung Anlaß zu weiterer Erörterung geben wird.

Der gegenwärtige Stand der Erforschung der in Palästina neu gefundenen hebräischen Handschriften

22. Die Gemeinde des Neuen Bundes und die hebräischen Handschriften aus der Höhle

Von Paul Kahle, Oxford1

Ich möchte meine Ausführungen beginnen mit der Anführung
einiger Punkte, bei denen wir hinsichtlich der Handschriften
aus der Höhle zu positiven Resultaten gelangt sind.

1. Die Untersuchung der Höhle durch Harding und de
Vaux2 hat ergeben, daß es keinem Zweifel unterliegen kann,
daß die in der Höhle gefundenen Handschriften alt und genuin
sind.

2. Die Art der Aufbewahrung, Lederrollen, sorgfältig in
Leinen gehüllt, in mit Deckeln verschlossenen Krügen geborgen
, zeigt, daß es sich bei der Höhle um ein Depot handelt,
in das man Handschriften im wesentlichen zur gleichen Zeit
gebracht hat mit dem Ziele, sie möglichst lange zu erhalten,
nicht um eine Geniza, in die man von Zeit zu Zeit unbrauchbar
gewordene Hss tat mit dem Ziele, daß sie zugrunde gehn.

3. Aus den in und bei der Höhle gefundenen Scherben hat
man geschlossen, daß in der Höhle einmal etwa 50 Kmige aufgestellt
waren. Man kann annehmen, daß darin eine große
Menge von Handschriften aufbewahrt war. In den tatsächlich
in der Höhle aufgefundenen Handschriften können wir
also nur den letzten Rest des Depots sehn, d,as einmal dort
geborgen war.

4. Die Ausgräber haben darauf hingewiesen, daß das Depot
einmal vor langer Zeit aufgefunden und der größte Teil
der da geborgenen Hss herausgeholt ist. Harding weist in seinem
Report darauf hin, daß ein Teil des Schadens an den Rollen
durch weiße Ameisen verursacht ist. Die müssen lange Zeit
dazu gebraucht haben, da man nicht annehmen kann, daß die
Insekten in die intakten geschlossenen Krüge haben kommen
können. Ferner ist bei aufeinanderliegenden Fragmenten der
bedeckte Teil des Leders ganz weiß geblieben, der freie Teil
ist dunkelbraun geworden. Die Fragmente müssen lange so gelegen
haben, um das zu ermöglichen.

Nun wissen wir aus dem Briefe des Nestorianischen Patriarchen
Timotheos, daß gegen 800 in einer Höhle in der Umgegend
von Jericho ein großer Fund hebräischer Handschriften
in einer Höhle gemacht worden ist. Die Juden in Jerusalem
seien benachrichtigt worden, hätten Handschriften des Alten
Testamentes und andere Bücher in hebräischer Schrift herausgeholt
und studiert3.

Von der Auffindung der Handschriften hören wir aus jüdischen
Quellen, nicht von denen des offiziellen Judentums
der Gaone, deren Interesse wesentlich den Problemen des Talmud
gewidmet war, wohl aber von den Karäern, jener jüdischen
Reformbewegung, nip72 "03> die wenig an Mischna und
Talmud interessiert waren, um so mehr aber an alten hebräischen
Schriften.

Wir wissen, daß Ja'küb al-Kirkisäni, der große karäische
Autor aus dem Anfang des 10. Jahrhunderts, unter den älteren

') Vorlesung gehalten in englischer Sprache bei der Tagung der Society
for Old Testament Study im Päpstlichen Bibelinstitut in Rom am 10. IV.
1952 und in deutscher Sprache im April und Mai an Universitäten in Ost- und
Westdeutschland.

z) Lankaster Harding, The Dead Sea Scrolls. Palestine Exploration
Quarterly, 1948/49, p. 112—116. R. de Vaux, La Grotte des Manuscrits Hebreux
Revue Biblique LVI, 1949, p. 586—609. A Propos des Manuscrits de la Mer
Morte. Revue Biblique LVII, 1950, p. 417—429.

s) O. Eißfeldt, in ThLZ 1949, 10.

Sekten der Juden nach den Pharisäern und Sadduzäern und
vor den Christen eine Sekte anführt, die er al-Maghäriye,
„die Höhlenleute" nennt, und er bemerkt, daß sie so hießen,
weil ihre Bücher in einer Höhle (maghär, hebr. j-nSJTO) gefunden
seien1. Die um 8oo aufgefundenen Handschriften, die von
den Karäern studiert sind, scheinen von großer Bedeutung
für die Entwicklung der karäischen Lehre gewesen zu sein.

Es ist bisher ein großes Problem gewesen, woher die Ka-
räer die Gedankenwelt bezogen haben, die die Grundlage für
ihre Lehre gebildet hat. Sie selber behaupten, daß sie durch
sadduzäische Lehren beeinflußt worden sind. Außerdem bezeichnen
mehrere rabbanitische Autoren die Karäer als Saddu-
zäer. Harkavy hat eine Menge Belege dafür zusammengebracht2
. Aber es war schwierig zu verstehen, wie dieser Zusammenhang
möglich gewesen ist. Die Sadduzäer sind bald
nach der Zerstörung des Tempels verschwunden, und wirkliche
Karäer gibt es erst seit dem Anfang des g. Jahrhunderts. Eine
Übertragung sadduzäischer Grundsätze an die Karäer kann
also nur auf literarischem Wege stattgefunden haben. Es fragt
sich nur, welche Werke als Vermittlung gedient haben. Die
Rabbinen, die »ach der Zerstörung Jerusalems die Reorganisation
des Judentums in die Wege geleitet haben, haben es erreicht
, alles was an sadduzäischen Büchern noch übrig war
zu vernichten. Josephus, der gelegentlich sadduzäische Lehren
anführt, ist den Karäern — wie den Juden der damaligen
Zeit überhaupt — völlig unbekannt geblieben. Der Talmud
enthält gelegentlich Hinweise auf sadduzäische Lehren, aber
wir finden da nichts, was auf die Ähnlichkeit zwischen Sadduzäern
und Karäern hinweisen könnte.

Nun ist vor etwa 50 Jahren ein Text aufgefunden worden,
der für eine Vermittlung in Betracht kommen könnte. Es ist
die Damaskus-Schrift, die im Jahre 1910 von Salomo Schlechter
unter dem Titel „Fragments of a Zadokite Work"3, veröffentlicht
worden ist. Auf die engen Beziehungen dieser
Schrift zu karäischen Gedankengängen ist man von Anfang
an aufmerksam geworden. Man hat sogar vermutet, daß sie
unter karäischem Einfluß entstanden ist. Aber bald hat man
eingesehen, daß die Schrift alt ist. Nun aber war das große
Problem, wie es möglich gewesen ist, daß eine solche Schrift
durch die Jahrhunderte ausschließlicher Herrschaft des rabbi-
nischen Judentums sich hat erhalten können.

Ich habe einmal die Vermutung ausgesprochen, daß die
Damaskusschrift ursprünglich auf Rollen geschrieben war, die
man um 800 aus der Höhle herausgeholt hat, und daß die
Handschriften aus der Kairoer Geniza, nach denen Schechter
den Text herausgegeben hat, Fragmente von Abschriften
sind, die von Karäern im 9. und 10. Jahrhundert angefertigt
worden sind4. Dafür hat Saul Lieberman kürzlich einige interessante
Bestätigungen gefunden, die ihn veranlaßt haben,

') L. Nemoy, AI-Qirqisäniis Account of the Jewish Sects and Christiani-
ty. Hebrew Union College Annual vol. VII, Cincinnati 1930, p. 326f.

2) A. Harkavy, Zur Entstehung des Karaismus = Note 17 in H. Graetz
Geschichte der Juden, Vol. V, 4. Aufl. p. 472f.

3) Fragments of a Zadokite Work (Documents of Jewish Sectaries i) ed.
S. Schechter. Cambridge, 1910. Cf. L. Rost, Die Damaskusschrift, neu bearbeitet
. Berlin 1930.

4) Vetus Testamentum. Vol. I, 1951, p. 46f.