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Ausgabe:

1952 Nr. 5

Spalte:

294-295

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Kurten, Edmund

Titel/Untertitel:

Franz Lambert von Avignon und Nikolaus Herborn 1952

Rezensent:

Landgraf, Artur Michael

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 5

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unter Verzicht auf jede Polemik die Sachverhalte um und bei
Luther in der ansprechendsten Weise dargestellt, wobei nicht
selten gerade auch solche Stellen vorgeführt werden, mit denen
ein Mann wie Denifle seine Lutherpornographie belegen wollte;
da sie in ihrem Zusammenhang belassen und ausreichend
zitiert sind, kann sich der Leser von ihrer Harmlosigkeit
überzeugen und sein Urteil gegenüber Verzerrungsversuchen
festigen.

In zweiundzwanzig Kapiteln, die sich historisch-biographisch
bis einschließlich zur Augsburger Konfession erstrecken,
doch in der Theologie und geistigen Haltung den ganzen Luther
treffen, wird das spannungsreiche Bild des Reformators
mit seinen durchaus menschlichen und doch in allem Gott
transparent machenden Zügen entrollt. Die Anfechtung — ein
Begriff, den Verf., um ihm nichts zu nehmen, unübersetzt
in die englische Sprache übernimmt — wird dabei besonders
ins Licht gerückt; wie denn überhaupt Verfasser sich in das
reformatorische Anliegen gleichsam hineinstellt, wenn er den
Gewissenstrost, mehr als es in andern Lutherbiographien geschieht
, im Auge hat. — Von abnormer Veranlagung bei Luther
hält Verf. nichts („Der Versuch, eine Beziehung zwischen
seinen zahlreichen Erkrankungen und den Anfällen von
Niedergeschlagenheit zu entdecken, hat sich als erfolglos herausgestellt
" S. 311 u. 41). Luthers gerade auch in der anglo-
amerikanischen Welt nicht wenig geschmähter Individualismus
wird sowohl von dem der Renaissance, als auch von dem
der Spätscholastik abgerückt, denn „sein Standpunkt war einfach
der, daß jedermann sich für sich selbst vor Gott verantworten
muß" (S. 115). Die um das 6. Gebot kreisende Versuchung
„setzte ihm nicht mehr zu als irgendein anderes Problem
des sittlichen Lebens" (S. 33). Statt des spottgetränkten
pecca fortiter wird das „für seinen Nächsten ein Christus
sem" als der „mit großen Buchstaben" anzuschlagende Inbegriff
der Ethik Luthers herausgestellt (S. 191, 195). Wollte
Luther vom franziskanischen Armutsgelübde nichts wissen, so
war er doch „selbst ein Franziskaner in der verschwenderischen
Freigebigkeit seines Schenkens" (S. 202).

Ein feines Gespür zeigt Verfasser für die theologischen
Fragen, und hier beileibe nicht nur für das Formal- und Materialprinzip
der Reformation. Hinsichtlich der politischen Verantwortung
des Christen bezeichnet Verf. den Anwurf, daß
Luther „die christliche Ethik auf das private Leben beschränkte
und den Staat dem Teufel überlasse", als „grobes Mißverständnis
seiner Stellung" (S. 204). — Bei der Frage nach dem Recht
des Krieges macht Verf. als Quäker nicht den geringsten
Versuch, auf Luthers Argumentation von dem unter Umständen
kleineren Übel ein problematisches Licht fallen zu lassen
oder gar sein Raisonnement hineinzutragen; das ganze Buch
ist darauf angelegt, sich von Luther überzeugen zu lassen. —
Wenn „das Töten des Leibes nicht unverträglich mit der
Liebe" ist, so kommt hier Gesetz und Evangelium ebenso zusammen
, wie bei dem strafenden Urteil eines frommen Richters
(S. 205). — Luthers Haltung gegenüber Staat und Politik
wird als Mitte zwischen Theokratie und säkularisierter Kultur
beurteilt (S. 2o6f.). Uberhaupt will das Kapitel über die „mittlere
Straße" richtungweisend sein für Luthers theologischen
Weg zwischen den Extremen.

Wenn Verfasser auch absieht von einer Auseinandersetzung
mit der Literatur und sich dafür auf den strikten Quellennachweis
beschränkt (ohne störende Verweisungszeichen ist er
im Anhang durch Angabe der Seite und Zeile leicht auffindbar
), so kann man doch auch im Blick auf die deutsche Lutherliteratur
nicht sagen, daß sein Buch keine Förderung in der
Sicht und Beurteilung Luthers brächte, eben weil dieser objektive
Gelehrte in der Weite seines Blickfeldes die Akzente
so charakteristisch und treffend setzt, daß nicht wenige Dinge
mit ihrer tragenden Funktion in eine neue Beleuchtung rücken.
Daß Verf. sich auch der Grenzen Luthers bewußt ist, hat
er im würdigenden Schlußkapitel „Das Maß des Mannes" nicht
verschwiegen. Doch die Lauterkeit und das Ringen Luthers
hat es ihm angetan: „In eine Gesellschaft, deren minderer
Schlag sich dem Spielen, Lärmen und Buhlen hingab... in eine
Zeit, in der die erlesenere Art menschliche Großtaten verherrlichte
, schritt dieser Luther hinein, hingerissen von dem Gesang
der Engel, betroffen durch den Zorn Gottes, sprachlos vor
dem Wunder der Schöpfung, verzückt über die göttliche Gnade,
ein Mann, durch Gott in Flammen gesetzt" (S. 182).

Es sind ganz wenige und kleinere Dinge, die man in etwa beanstanden
oder sich dazuwünschen könnte: der Dekalog ist mit der lex naturalis völlig
gleichgesetzt (S. 192); die ohnehin etwas problematische Aussage, daß Luther
die Tyrannenmordtheorie des Aquinaten bekräftigt habe, ist ohne Beleg
(S. 207); so „unabhängig" (independently) von Luther ist der Zwinglianismus
nicht aufgekommen (S. 227); der Katechismus in England war nicht

erst das Werk der Westminstertheologen (S. 331); kärglich wird auf das
Turmerlebnis eingegangen (S. 50, 52); noch weniger auf Luthers scholastische
Voraussetzungen; schließlich hätte ein Kapitel über Luther als Professor,
wie überhaupt ein stärkeres Hervortreten seiner Werke nicht geschadet. —
Natürlich nicht mehr als ein sinngemäßer Ausdruck der Haltung Luthers soll
der voll zitierte Schlußsatz „Hier stehe ich, ich kann nicht anders..." sein.

Was den Ubersetzer anlangt, so stimmt seine Arbeit
weder zu dem bescheidenen Platz, den er sich auf der Titelrückseite
ausgesucht hat, noch zu der von ihm selbst ausgesprochenen
„Warnung" vor seiner Ubersetzung, „die von der
Farbigkeit und Frische des ursprünglichen Bildes weit abstellt
" (S. 5). Man kann aufschlagen und vergleichen wo man
will, um sich von der Richtigkeit des Gegenteils zu überzeugen.

Der Ubersetzer hat sein Augenmerk darauf gerichtet, auf
der einen Seite im Sinne des Lutherschen Dolmetschens ehie
volle Eindeutschung vorzunehmen, auf der andern Seite die
sprachliche Ursprünglichkeit ohne Einbuße einzufangen. Dank
eines feinen Sprachgefühls und des von Luther von einem Dolmetscher
verlangten „großen Vorrates an Worten" hat er auch
für den deutschen Leser das Buch zu einem Genuß gemacht.

Das erste Bemühen ist in etwa ersichtlich an solchen Sätzen wie ,,For
such an experience he had a word which has as much right to be carried
over into English as Blitzkrieg. The word he used was Anfechtung, for
which there is no English equivalent = Für solche Erfahrungen hatte er ein
Wort, das unverändert in die moderne Sprache übernommen werden sollte,
das Wort Anfechtung — eine Übersetzung des lateinischen „tentatio', aber
unsagbar tiefer und reicher" (S. 30, orig. S. 42). Dabei läßt sich außerdem ersehen
, daß der Übersetzer die im Original ohnehin durchgehend vorwaltende
Dezentheit noch unterstreicht.

Das zweite Bemühen ist auf Schritt und Tritt kontrollierbar, sei es
beim Erzählerstil (,,0n a sultry day in July of the year 1505 a lonely traveler
was trudging over a parched road on the outskirts of the Saxon village
of Stotternheim = An einem schwülen Tage im Juli des Jahres 1505 stapfte
ein einsamer Wanderer auf einer staubigen Straße nicht weit von dem sächsischen
Dorf Stotternheim einher" (S. 13, Orig. S. 21), sei es bei würdigenden
Aussagen („Into a society where the lesser breed were given to gaming, ro-
istering, and wenching.. .at a time when the choicer sort were glorying in
the accomplishments of man, strode this Luther, entranced by the song of
angels, stunned by the wrath of Ood, speechless before the wonder of creation,
lyrical over the divine mercy, a man aflame with Ood". Orig. S. 215f. =
Übers, s. obiges Zitat von S. 182) oder gar bei Bildern („The center about
which all the petals clustered was the affirmation of the forgiveness of sins
= Die Mitte, um die sich alle Blütenblätter herumschlossen, war die Lehre
von der Vergebung" S. 52, Orig. S. 68; „Hutten.. .fled to Switzerland to
sizzle out his meteoric career on an island of Lake Zürich = Hutten.. .floh
in die Schweiz und verzischte seine Meteorenlaufbahn auf einer Insel im
Züricher See" . S. 180, Orig. S. 213; „Detractors have sifted from the pitch-
blende of his ninety tomes a few pages of radioactive vulgarity = Lutherhasser
haben aus der Pechblende seiner 90 Bände ein paar Seiten radioaktiver
Vulgärausdrücke herausgesiebt". S. 254, Orig. S. 298). Ein unstreitiges Plus
hat die deutsche Fassung gegenüber dem Original natürlich dadurch, daß
Luthers Äußerungen, wie deutsche Quellen überhaupt, ihr ursprüngliches
Gewand und Färbung tragen.

Daneben hat der Übersetzer dem Buch ein Vorwort mitgegeben; es
kommt einer feinsinnigen Rezension gleich. Er hat ferner kleine sachliche
Fehler stillschweigend verbessert, hat etliche wichtige Abbildungen — einige
wenige sind ebenso fortgelassen wie die historisch belanglose Verzierung der
Initialen- durch Kunstdrucktafeln ersetzt und das Literaturverzeichnis ergänzt
. Neben diesem, dem Quellennachweis und dem Verzeichnis der Abbildungen
hat das Buch eine Zeittafel und ein Register. (Druckfehler: S. 249
Z. 3 v. o. soll „im Stand" heißen.)

Aus der Tatsache, daß ein Quäker dieses schöne Buch geschrieben
hat, darf man zwar noch keine neue Etappe in der
Quäker-Theologie erwarten. Und doch wird es in der Ökumene
nicht ohne Wirkung bleiben, wenn hier einer ihrer Vertreter
mit Aufgeschlossenheit und Wärme jenes „segnet, die euch
fluchen," verwirklicht, bis hin zur Widmung „To my Kathe-
rine von Bora". Man wird kaum auf Widerspruch stoßen, wenn
man sagt, daß wir bislang keine Lutherbiographie gehabt haben
, die gute Lesbarkeit mit umfassender theologischer Fundierung
so verbindet wie diese.

Göttingen Erich Roth

Kurten, Edmund, p. Dr., O FM.: Franz Lambert von Avignon und

Nikolaus Herborn in ihrer Stellung zum Ordensgedanken und zum Fran-

ziskanertum im besonderen. Münster: Aschendorff 1950. X, 154 S., 3 Taf.
gr. 8° = Reformationsgeschichtl. Studien u. Texte. Begr. v. J. Greving,
hrsg. v. W. Neuß. H. 72. DM 8.80.

Die in sehr konziliantem Ton geschriebene Studie ist
„dem Franziskanerorden und den im Glauben getrennten Brüdern
" gewidmet. Sie behandelt vor allem Luthers „Themata
de votis" und „De votis monasticis iudicium", die Vorläufer
des Kampfes zwischen Lambert von Avignon und Nikolaus