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Ausgabe:

1952 Nr. 5

Spalte:

282-283

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Forell, Birger

Titel/Untertitel:

Religionswissenschaft in neuer Sicht 1952

Rezensent:

Merkel, Franz Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 5

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zu verfolgen, in dessen Telegonie ein Namensvorgänger seines kyrenäischen
Königs Arkesilaos als Sohn des Odysseus erschien (S. 98f.), und es liegt nahe,
bei der Mythenbildung überhaupt absichtsvoller Willkür einen weiten Spielraum
zuzugestehen. Allerdings machen sich in N.s Darstellung auch Gegengewichte
geltend, die man vielleicht etwas mehr in die Wagschale fallen lassen
könnte.

Im Kult wiegt ja das Moment der Tradition zweifellos sehr schwer.
Wenn sich bei einem Synoikismos Menschen und Götter zu einem neuen
Gemeinwesen zusammenfinden sollten, so mochten Kultbilder immerhin
verhältnismäßig leicht versetzt werden, aber die altheiligen Stätten blieben,
scheint mir, so gut wie durchweg erhalten, besonders wenn die bisherigen
Siedlungen wie meist gar nicht völlig evakuiert wurden. Machte eine Stadt
irgendwelche griechischen Territorien von sich abhängig, wie z. B. Athen die
Insel Salamis, so suchte sie auch in diesem Falle deren religiöse Traditionen
an sich zu ziehen, ohne sie doch ganz entwurzeln zu können. Beidemal
pflegte es zu allerlei Ausgleichsmaßnahmen zu kommen, zu denen vor allem
Festprozessionen vom einen zum anderen Platz gehörten; allerdings konnten
die neuen Verhältnisse natürlich auch neue Feste und Kulte erzeugen, z. B.
den des Zeus Phillos in Megalopolis (S.21f.). Außenpolitische Rücksichten
vermutet N. (S.45ff.) hinter der singulären Bevorzugung der thrakischen
Bendis, die in Athen zu Anfang des Peloponnesischen Krieges staatlich anerkannt
wurde; aber die Göttin war kein frischer Ankömmling, da ihr Kult
längst so intensive private Pflege gefunden hatte, daß er sogar von den Komikern
verspottet worden war. Im Orakelwesen hat sich mit politischer Berechnung
auch die Kraft heiliger Überzeugung und göttlicher Inspiration verbunden
; N. billigt der delphischen Priesterschaft mit Recht Gutgläubigkeit zu,
wenn sie zur Zeit der Persergefahr das Gebot der Stunde darin erblickte,
sich ins Unvermeidliche zu schicken,und sicherlich hätte auch sonstiges Orakelgut
nicht so zünden können, wenn nur die Jämmerlichkeit von Chresmologen
aristophanischer Faktur dahintergestanden hätte (vgl. J. Taillardat, Rev. et.
gr. LXIV 1951, 19f., zu Aristoph. fr. 694 K.).

Ebenso wie andere Weissagungen (Herodot V 43) zogen auch delphische
Sprüche (Herodot VII 169) Gegebenheiten der Sagenzeit heran. Prinzipiell ist
für die Griechen der Mythos immer Geschichte gewesen; sie hatten damit in
vielen Fällen auch gar nicht so unrecht, und auch in dem von N. beigebrachten
Material steckt manche echthistorische Reminiszenz, wie z. B. die epidaurische
Heroine Hyrnetho in der Phylenordnung von Argos das vordorische Bevölkerungselement
vertritt (S.73f.). Die Heraklidensage, die so oft politische Ansprüche
zu legitimieren hatte, ist vielfach gefärbt, aber in ihrem Kerne fraglos
geschichtlich, und der Autochthonieglaube, legendär wie er ist, erscheint doch,
wie eine ungedruckte Tübinger Arbeit von S. Strebel im einzelnen gezeigt hat,
nur bei vordorischen Griechen und nicht bei den Einwanderern der letzten
Schicht. So ist denn wohl auch der Umweg, den die ionischen Kolonisten Kleinasiens
nach der vorherrschenden Überlieferung von Pylos über Athen genommen
haben, nicht einfach attische Propagandaerfindung des 6. Jhdts.
(so N. S. 59ff.), sondern es ist kaum zu widerlegen, daß die Nehden beim Einbruch
der Nordstämme wirklich zunächst nach dem von der Katastrophe nicht
berührten ionischen Attika geflohen sind und alte athenische Adelsgeschlechter
sich mit Recht von ihnen herleiten konnten (so R. Hampe, Vermächtnis der
antiken Kunst, Heidelb. 1950, II ff., der direkten Zusammenhang von Pylos
und Kleinasien wenigstens in mykenischer Zeit nicht ausschließt).

Als eine der bequemsten genealogischen Hilfsfiguren bot sich der weitgereiste
Herakles an: in seiner Sage waren aber so viele lokale Überlieferungen
aufgegangen, daß alle möglichen Kombinationen daran ansetzen konnten. Am
folgenreichsten wurde die Ableitung des makedonischen Königshauses von
diesem Heros, wie sie uns für Alexander Philhellen zuerst faßbar wird; es hat
sich daraus ein Herrscherideal gebildet, das weiterhin mannigfaltige Wandlungen
erfahren hat: W. Derichs, der das bis zu Anthemius unter ausgiebiger
Verwendung archäologischen Materials verfolgt hat (Herakles, Diss. Köln
1952), hebt diese Entwicklung schon mit dem großen Philipp an und gesteht
einen maßgeblichen Einfluß darauf sogar dem Isokrates zu, dessen Wirkung
sonst — auch von N. S. 103 — nicht so hoch eingeschätzt wird. Der Mythos
zeigt hier, wie so oft, besonders deutlich in derTheseusgestalt, seine paradigmatische
Kraft, nicht ohne daß er zugleich dem Geiste und der Situation der Zeit
oder gar des Einzelnen nachgibt. Späterhin ist freilich auch der enkomiasfische
Topos beliebt geworden, daß eine Erscheinung der Gegenwart die mythische
nicht bewahrheitet, sondern sogar überbietet oder aber auch als Lüge entlarvt
(O. Weinreich, SB Heidelb., Philos.-hist. Kl. 1944/48, 1 S. 58. 62. 72).

Auch wo bedachte Kombination am Werke war, konnte sie bona fide
irgendwelche Gegebenheiten ausnutzen, z.B. wenn der Gleichklang des Namens
den mythischen Tereus mit dem thrakischen Teres zusammenbrachte (S. 98).
Die Fiktion von Ahnherren entspricht einem griechischen Denkschema, das in
jedem beliebigen Falle angewandt wurde, ohne je als so willkürlich empfunden
zu werden wie von uns. Dabei ist mit Fischer hervorzuheben, daß die Hellenen
den Barbaren bei aller Mißachtung doch in ihrem genealogischen System einen
Platz einräumten, nicht ohne daraus bei guter Gelegenheit auch politisch Kapital
zu schlagen; der gegenseitigen Berührungen waren ja auch so viele, daß
sich genug Anknüpfungsmöglichkeiten boten. Selbst tendenziöse Propaganda
konnte nicht ohne weiteres mit nackter Erfindung arbeiten, sondern mußte
sich, wenn sie glaubwürdig wirken wollte, tunlichst an anerkannte Fakta
halten; es kam in der politischen Diskussion der historischen Zeit mehr auf
die Auffindung geeigneter Sagen, so wie sie nun einmal waren, und ihre Interpretation
und Auswertung an, wobei man freilich auf einen so schlagfertigen
Gegner stoßen konnte wie den Epameinondas (Plut. mor. 193 CD. 810 F. Nep.

Ep. 6). Der Kronzeuge Homer war auch nicht so leicht ad hoc zu interpolieren,
wie es die Megarer den Athenern vorwarfen (S. 29). Andererseits brauchte der
Mythos nicht immer talis qualis sakrosankt zu sein, da man längst mit Entstellungen
der Tradition zu rechnen begonnen hatte, und so mochten Umformungen
der Sage, wie wir sie etwa bei Isokrates antreffen, auf diese Weise ihre
theoretische Rechtfertigung finden.

Wie wichtig das Fangspiel politischer Mythenargumentation genommen
wurde, zeigt sich schon darin, daß sich auch außergriechische Mächte hineinziehen
ließen, sogar die Perser, die sich dabei irgendwelcher Griechen —■ nach
N. der Emigranten — bedient haben müssen. Herodot gibt dafür mehrere Belege
, die N. als historisch anerkennt, auch die Argumentation des Artayktes
IX 116, die der persischen Kriegsschuldtheorie I 1 ff. entspricht. Im Falle der
Römer lag die Initiative zu der politischen Ausbeutung ihrer trojanischen Abkunft
durchaus bei den Griechen (s. zuletzt F. Börner, Rom und Troia, Baden-
Baden 1951, 44ff.). Mythisches Verdienst oder Unrecht wurde immer wieder
zu aktuellen Zwecken ausgegraben, und diese Argumente hatten ein unverächtliches
Gewicht. Selten werden sie das Handeln ganz allein bestimmt haben,
aber es konnte doch ein Ressentiment damit verbunden sein, das als mächtige
emotionale Triebfeder wirkte. Besonders nachdrückliche Hervorhebung verdient
die auffällige Tatsache, daß die Spartaner, die ja auch am orakelgläubigsten
waren, bei ihren Einfällen in Attika im Peloponnesischen Krieg gewisse
Landesteile verschonten, die mythische Verdienste um sie hatten (Herodot
1X73. Istros fr. 30 J. bei Schol. Soph. Oid. Kol. 701. Diod. XII 45, 1). Natürlich
gab es manche Schwankungen in der Schätzung der Sage je nach Epoche
und Individualität; N. meint, daß sie im 6. Jhdt. politisch am bedeutsamsten
war und im 5. hinter den Orakeln zurückstand, aber man kann da wohl noch
mehr differenzieren (vgl. z.B. Rhein. Mus. LXXXVIII 1939, 318).

Dem Verfasser gebührt hoher Dank, daß er aus der reichen
Erfahrung von Dezennien religions- und mythengeschicht-
licher Forschungsarbeit die Sage in eine Beleuchtung gerückt
hat, die uns mit Evidenz zeigt, wie sehr die Griechen sich auch
in ihren aktivsten Zeiten ihrer großen Vergangenheit verbunden
gefühlt haben.

Bonn Hans Herter

Forell—Frick— Heiler: Religionswissenschaft in neuer Sicht. Drei

Reden über Rudolf Ottos Persönlichkeit und Werk anläßlich der feierlichen
Übergabe des Marburger Schlosses an die Universität 1950. Marburg: EI-
wert 1951. IV, 26 S. 8°. DM 2.40.

Aus Anlaß der feierlichen Eröffnung der Schloßeinrich-
tungen in Marburg/Lahn fand vom 28. August bis 1. September
1950 der „Marburger Schloßkongreß 1950" statt: ein
Kongreß für Religionswissenschaft und der Deutsche Orientalistentag
. In dankbarer Erinnerung an den unvergeßlichen
Religionshistoriker Rudolf Otto wurden beim Festakt zur Eröffnung
des Marburger Schloßinstituts, der „Religionskund-
lichen Sammlung", drei Reden gehalten über Rudolf Ottos
Persönlichkeit und Werk, die uns nun unter dem Titel: „Religionswissenschaft
in neuer Sicht" im Druck vorliegen.

Der langjährige Begleiter R. Ottos, der schwedische Geistliche
Birger Forell (Boras in Schweden) schildert in kurzen
Zügen einzelne Erlebnisse aus Ottos Indienfahrten, während
in einem zweiten tiefgründigen Vortrag der Marburger Systematiker
Heinrich Frick die Probleme der „Religionswissenschaft
in neuer Sicht" aufzeigt. Wie gernesähe ich diese wenigen
Seiten in den Händen unserer älteren und jüngeren Theologen,
die so schwer verstehen können, was eigentlich Religionswissenschaft
ist. Segensreich sind Sätze wie: „Es ist aus mit
der Apologetik und Polemik alten Stils. Ja, mehr noch, es ist
überhaupt aus mit denjenigen Grundkonzeptionen, die introvertiert
das Abendland als ,die' christianisierte Welt und das
Christentum als ,die' Religion schlechthin wie selbstverständlich
voraussetzen durften. Wir wissen heute nicht nur um
fremde hochwertige Religion und entsprechendes Ethos, sondern
wir wissen uns aufgerufen zum ehrlichen Vergleich, der
nicht von vornherein und nicht immer zu unseren Gunsten
ausfällt" (S. 8). Wir benötigen eine wissenschaftlich zuverlässige
, umfassende Religionsforschung sowohl durch literarische
Vermittlung als auch durch die unmittelbare Anschaulichkeit
, .fremder Heiligtümer'. Ohne sie ist im Gespräch über
die Religionen wie im Gespräch zwischen den Religionen
keine überzeugende These mehr möglich. Und kein noch so
hochgespanntes Selbstbewußtsein kann den Mangel an Kenntnis
des Fremden und gar an ehrlicher Anerkenntnis fremder
Werte künftig ersetzen" (S. 9). Den dritten Vortrag hatte der
bekannte Nachfolger Rud. Ottos Friedrich Heiler übernommen
mit dem Thema: „Die Bedeutung Rudolf Ottos für
die vergleichende Religionsgeschichte", der für jeden, der sich
eingehender mit R. Otto beschäftigen will, eine wertvolle Einführung
ist. So hebt Heiler z. B. in einfühlender Weise die
charakteristischen Eigentümlichkeiten der Ottoschen Religionsvergleichung
heraus, bei deren Darstellung der Konvergenzen
der östlichen und westlichen Mystik, er „der