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Ausgabe:

1952

Spalte:

275-278

Autor/Hrsg.:

Wendland, Walter

Titel/Untertitel:

Zur Territorialkirchengeschichte: Berlin-Brandenburg 1952

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275 •

Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 5

276

Zur Terrüorialkirchengeschichle: Berlin-Brandenburg

Von Walter Wendland |, Berlin

Das Jahr 1948 hat uns eine hervorragende Darstellung der
Revolution in Berlin im Jahre 1848 von Ernst Kaeber1 geschenkt
, die aus jahrelanger Arbeit hervorgewachsen ist. Sie
hat die Forschung darüber zum Abschluß gebracht. Allen Menschen
, die 1848 plötzlich eine Rolle spielten, ist mühsam nachgegangen
und sie sind biographisch erfaßt worden. Aus der
Darstellung geht hervor, daß die Bürger weithin von der Sehnsucht
nach einer Verfassung erfüllt waren. Sie wollten nicht
mehr nur von oben her regiert werden, sondern selbst mitregieren
, wie es ihnen aus der Steinschen Verfassung vorschwebte.
Darum ist die Revolution nicht eine Revolte, sondern sie verkörpert
die berechtigte Sehnsucht der Nation, die 1813 nicht
zur Erfüllung gekommen war. Hier liegen die letzten Wurzeln
der Revolution. Sie wurde niedergeschlagen. Ist der 18.März
darum vergeblich gewesen ? Kaeber gibt darauf folgende Antwort
: „Und doch — vergeblich ist der 18. März nicht gewesen.
Er hat die Möglichkeit für eine Entwicklung der produktiven
Kräfte der bürgerlichen Wirtschaft eröffnet, er hat die wichtigsten
persönlichen Grundrechte verwirklicht, ohne ihn wäre
das allgemeine gleiche Wahlrecht zum deutschen Reichstag nie
gekommen, die Organisierung der Arbeiterschaft in der Sozialdemokratie
und in den Gewerkschaften nicht möglich gewesen.
Durch Schwäche der Erkenntnis und Mangel an zielbewußter
Tatkraft, wie sie bei einem eben erst zur Freiheit erwachten
Volke fast selbstverständlich war, ist die Märzrevolution freilich
unvollendet geblieben. Die Gründe aufzuzeigen, warum
die kommenden Generationen das Versäumte nicht nachgeholt,
warum sie die schwerste politische Belastung Preußens, den
Militarismus, nicht ausgerottet haben, ist die wichtigste Aufgabe
, die der Geschichtsschreibung der Gegenwart gesetzt ist."

Von kirchlicher Seite ist durch Walter Delius2 die Revolution
in ihren Beziehungen zur Kirche dargestellt worden.
Es wird in dem Buch nicht berührt, daß die Vergangenheit in
den kirchlichen Kreisen die Revolution nicht positiv zu würdigen
verstanden hat. Der Fortschritt besteht darin, daß hier
die Revolution zum erstenmal nach der heutigen wissenschaftlichen
Erkenntnis dargestellt wird. Mit Recht sagt Delius: „Die
Revolution von 1848 war keine Revolte, sondern Revolution,
die das gesamte staatliche wie kirchliche Leben ergriffen hatte.
Wenn sie auch keinen Erfolg hatte und eine Reaktionsbewegung
auslöste, die 1866 und 1870/71 die Sehnsucht der Paulskirchenmänner
zur Erfüllung brachte, so hatte sie genug Schäden
offenbart."

Delius war das Buch von Kaeber, als er sein Buch zum
Druck einreichte, noch unbekannt geblieben. Darum ist sein
Buch gerade von Bedeutung, als daraus hervorgeht, daß die
neue Auffassung des Jahres 1848 auch in Kreisen der evangelischen
Kirche zum Durchbruch gekommen ist und nicht erst
zu warten brauchte, bis Kaebers Buch Bahn gebrochen hatte.
Delius bekämpft die alte Auffassung der kirchlichen Kreise,
die den sogenannten christlichen Staat als Norm auffaßten.
Man konnte sich bei den Verfechtern des christlichen Staates
keine andere Regierungsform als die preußisch-monarchische,
agrarisch-feudale denken. Gleichzeitig aber war dieser Kreis
Träger der pietistisch-lutherischen Erweckung in Preußen. In
der Synthese der konservativ-monarchischen Einstellung mit
der pietistisch-lutherischen wird die Revolution wesentlich politisch
gewertet als die Macht, die die bestehende Ordnung zerstört
. Da Gott diese Ordnungen sanktioniert hat, sind alle anderen
Forderungen, die diese ändern oder beseitigen wollen,
gegen Gott gerichtet. Als solche widergöttlichen Ordnungen
gelten also die Volkssouveränität, die liberale Freiheit, die
Menschenrechte und das Revolutionsrecht. Letzte Stütze der
von Gott gesetzten Ordnung ist das Christentum; denn hier
vollzieht sich nach Stahl die göttliche Enthüllung von sittlichen
Ideen. Dabei wird bei Stahl, wie übrigens auch bei Wiehern
, der verhängnisvolle Irrtum sichtbar, daß Stahl Moral
und Ethik, Wiehern die bürgerliche Welt mit dem Christentum
identifiziert. Man hat es daher in diesen Kreisen nie verstehen
können, daß Friedrich Wilhelm IV. von Preußen angesichts
seiner von Gott verliehenen Souveränität dem Volk eine konstitutionelle
Verfassung einräumte und eine Armbinde in
schwarz-rot-goldenen Farben trug, als er in den Revolutions-

') Kaeber, Ernst: Berlin 1848. Zur Hundertjahrfeier der Märzrevolution
. Berlin: Aufbau-Verlag 1948. 206 S. m. Abb., 1 Kt. 8°. Pp. DM7.20.

-) Delius, Walter: Die evangelische Kirche und die Revolution

1848. Berlin: Evang. Verlagsanstalt [1948]. 83 S. 8° - Kirche in dieser Zeit.
H. 6/7. DM 3.50.

tagen durch die Straßen Berlins ritt! Aus Delius habe ich gelernt
, daß ein Schüler von Schleiermacher, Gustav Schweitzer,
Pfarrer in Kremmen, den Ideen des Revolutionsjahres sich anschloß
und darum in Preußen unmöglich wurde. Er hat in Thüringen
eine neue Pfarrstelle gefunden. Delius hat von dem
Mann eine kleine Biographie geschrieben. Es ist aber bisher
unmöglich gewesen, sie zu drucken.

Es gibt einen Abreiß-Kalender1 über das Jahr 1848,
herausgegeben von Mario Krammer, Johannes Schultze und
Kretzschmar. Der Kalender ist mit wunderbaren Bildern ausgestattet
und wird heute in buchhändlerischen Kreisen sehr
gesucht.

Als H.W. Seidel2 25 Jahre alt war, trat er in das pfarr-
amtliche Lehrvikariat ein. Er war etwas älter als andere Kandidaten
, Krankheit hatte seine Entwicklung gestört. Er war
aber gerade dadurch innerlich reifer geworden. So muß es für
den Pfarrer in Boitzenburg eine besondere Freude gewesen
sein, ihn in sein Haus aufzunehmen. Auch die Gemeinde
brachte ihm Vertrauen entgegen. Er selber aber hat sich in hingebender
Liebe in die einzelnen Lebensschicksale der Menschen
hineinversetzt. Von den Eltern her war ihm Pflichtgefühl überkommen
, und einen Kandidaten um sich zu haben, auf den
man sich in allen Dingen verlassen kann, ist eine Freude. Man
bekommt durch das Buch einen Einblick von der friedlichen
Stille des Lebens eines märkischen Dorfpfarrers. Damals war
doch die friedliche Stille weithin das Kennzeichen des Dorfes,
und er versetzt sich in sie treulich hinein. Ich habe aus dem
Buch vorlesen lassen in verschiedenen Volkskreisen, sowohl bei
Arbeitern des Dorfes, als auch bei den Gebildeten der Großstadt
. Und das ist das Große des Dichters, daß er das, was er
ausspricht, so plastisch zeichnet, daß es sofort in die Seele ein-
drmgt. Es ist bemerkenswert, daß es ihm auf die Nerven
gefallen ist, was an törichten Sachen von den Pastoren geredet
wurde. Er verbreitete sich nicht darüber, aber es ist ihm schwer
auf die Seele gefallen. Man kann ruhig sagen, daß eine gewisse
Engigkeit in Pfarrerkreisen herrschte. Das ist der letzte Grund,
warum die Pfarrer nicht ernst genug genommen wurden. Bei
einer Stelle wird er immer etwas kribblig bei aller seiner Liebenswürdigkeit
: immer dann, wenn er einen Pfarrkonvent mitmachen
muß und der Superintendent oder ein Pfarrer ohne
Sachkenntnis über Harnack zu Gericht sitzt! Er verbirgt seinen
Grimm. Das Zu-Gericht-Sitzen ist niemals seine Sache gewesen
.

Seine Gattin, Ina Seidel, hat den 200 Briefen, die er fast
täglich seinen Eltern schrieb, ein Vorwort vorgesetzt, in dem
sie den Werdegang von Heinrich-Wolfgang schildert. Durch
den Einfluß seines Konfirmators Stolte, dessen segensreiche
Tätigkeit bis heute noch fortlebt, hat er die Freudigkeit zum
Studium der Theologie bekommen, obgleich auch die Tradition
der mütterlichen Familie ihm die Theologie nahe legte. Es
steht nicht im Gegensatz dazu, daß er zuerst ein Semester
deutsche Literatur studiert hat. Die Beschäftigung mit der
Literatur hat ihn sein Lebetag nicht losgelassen. Die neuesten
Bücher konnte man immer bei ihm finden. Er hat ein Semester
in Marburg studiert und hier bei dem Systematiker
Herrmann gehört, der seinem Leben das theologische Gepräge
gegeben hat. Die Gedanken von Herrman treten auch in einem
viel späteren Buch von H.W.Seidel hervor: Das Ewige! Ich
bin seit vielen Jahren überzeugt davon, daß sich die Dichtung
von Heinrich-Wolfgang Seidel noch viele neue Freunde erwerben
wird. Gerade wenn die Zeit von heute so unruhig und
so turbulös ist, wird man wieder zu Büchern greifen, die still
und beschaulich und darum gerade Bücher für die Gegenwart
sind.

Im Jahre 1932 haben Peter Klein und Joel Etbauer ein
treffliches Buch über Dorfkirchen in Groß-B erlin verfaßt mit
guten Fotografien und einigen richtigen historischen Bemerkungen
. Die Verfasser haben mit ihrer guten Schrift Unglück
gehabt. Der Verlag ist eingegangen und die Schrift ist nur m
den Besitz weniger Leute gelangt. Wenn die Schrift nicht noch
einmal gedruckt worden ist, so ist das ein Zeichen dafür, daß
weite Kreise kein Interesse für Dorfkirchen in Berlin hatten.

') Berliner Revolutions-Kalender. 1848—1948. Berlin: coiumbia-

Verl.-Ges. [1947]. 211 S. m. Abb. gr. 8°. DM7.50.

2) Seidel, Heinrich Wolfgang: Drei Stunden hinter Berlin. Briefe

aus dem Vikariat 1902. Hrsg. u. eingeleitet von Ina Seidel. Gütersloh: Bertelsmann
[1951]. 452 S., 1 Titelb. 8°. Lw. DM 11.50.