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Ausgabe:

1952

Spalte:

259-266

Autor/Hrsg.:

Robinson, Norman H. G.

Titel/Untertitel:

50 Jahre Schottischer Theologie 1952

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259

Theologische Literaturzeltung 1952 Nr. 5

260

50 Jahre Schottischer Theologie

Von N. H. G. Robinson, Cambridge

Die Absicht dieses Aufsatzes ist, die Hauptlinien aufzuzeigen
, in denen die Arbeit der schottischen Theologie während
der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verlaufen ist. In diesem
Rahmen kann nicht der Versuch unternommen werden, eine
intensiv oder extensiv erschöpfende Behandlung bestimmter
Beiträge einzelner Theologen zu geben, und soweit auf diese
Bezug genommen wird, wird es notwendigerweise nur geschehen
, um allgemeinere Bewegungen des religiösen Denkens
zu veranschaulichen.

Die hier ins Auge gefaßte Zeit hat nicht wenige Einzelbeiträge
zu bestimmten Seiten und Lehren des christlichen
Glaubens, Beiträge von erheblicher Bedeutung zur Lehre vom
ewigen Leben, vom Tode Jesu, von seiner Auferstehung und
zur Christologie gebracht, aber diese sind allermeist, wie es
wohl geschieht, die Frucht nicht eines dogmatischen Spezialistentums
, sondern eines ungebrochenen Bemühens um das
theologische Grundproblem der Zeit gewesen, nämlich um das
Verständnis der Religion auf dem Hintergrund des modernen
Lebens und im Lichte moderner Erkenntnis. Es ist kein Zufall
, daß uns in dieser Zeit vielleicht keine theologischen Titel
so oft begegnen, wie solche, in denen christlicher Glaube und
die moderne Welt zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Dies bedeutet natürlich, daß das theologische Denken in
Schottland vorherrschend apologetischen Charakter getragen
hat, und das gilt sogar für die Behandlung spezifisch dogmatischer
Themen. So hat zwar H.R.Mackintoshin seiner monumentalen
Arbeit über „Die Person Jesu Christi" nicht nur
eine scharfe Scheidung zwischen dem vollzogen, was er die unmittelbaren
Äußerungen des Glaubens, und dem, was er die
übergreifenden Folgerungen des Glaubens nannte; er war sich
1912 auch durchaus bewußt, daß „die Enthaltung von allen
Bemühungen, eine konstruktive Synthese der Gegebenheiten
zu erreichen, die der Glaube erfaßt, bekanntermaßen in Harmonie
mit kennzeichnenden und geschickt verfochtenen Tendenzen
unserer Zeit1 gewesen wäre", und nur wenige hätten
bereitwilliger als Mackintosh zugegeben, „daß wir unserer Tatsachen
viel sicherer sind als unserer Theorien"2. Dennoch hielt
er es für unmöglich, daß ein evangelischer Theologe sich deshalb
der Arbeit an einer Synthese entzöge, weil es nicht möglich
schien, die Absolutheit Christi im Sinne intellektueller
Uberzeugung anders sicherzustellen als durch einen entschlossenen
Schritt in das Gebiet rationaler Theorie. Er sagt3: „Die
Offenbarung und Selbstopferung Gottes in Christus kann dem
denkenden Geist nicht wirklich dargestellt werden, ohne daß
Probleme wesenhaft spekulativen Charakters aufgeworfen
werden. Darum wird es in der Theologie immer eine Metaphysik
geben, aber es ist die implicite Metaphysik des Glaubens,
die sich immer in der Sphäre des Gewissens bewegt". Ein derartiger
Satz leugnet natürlich nicht alle und jede Unterscheidung
zwischen Dogmatik und Apologetik; auch würde es nicht
klug sein, sich einer brauchbaren Unterscheidung der Gegenstände
zu berauben; aber Mackintoshs Betrachtungsweise —
und sie scheint für die schottische Theologie des 20. Jahrhunderts
charakteristisch zu sein — legt den Gedanken nahe, daß
die Unterscheidung höchstens eine solche des Grades ist. Tritt
die moderne Welt mit üirer Kritik und Indifferenz auch in den
Hintergrund, wenn man den Bereich der Dogmatik betritt,
so bleibt sie doch im Kopfe des Theologen selbst implicit gegenwärtig
, soweit er bei seinem Gegenstande mit dunklen Fragen
ringt; und die ganze Arbeit, die dogmatische und apologetische
in gleicher Weise, geschieht unter einem durch und durch evangelischen
Motiv. Die schottische Theologie hat es gewiß abgelehnt
, sich der Spekulation gänzlich zu enthalten, aber sie
hat gleichzeitig und in weitem Maße die Spekulation ausgeschieden
, soweit sie leer, abstrakt und akademisch ist. Auf der
anderen Seite muß man, obwohl das Heil zugegebenermaßen
nicht durch Beweise geschaffen wird, unterstellen, daß das
apologetische Denken nur künstlich auf die negative Aufgabe
der Gegenstandslosmachung von Einwürfen beschränkt und
von dem Schritt zu einer positiven Darstellung des Evangeliums
zurückgehalten werden kann. Jedenfalls ist die apologetische
Arbeit des 20. Jahrhunderts in Schottland de facto mindestens
ebenso sehr darum bemüht gewesen, positiv zu formu-

») Ebendort S. VII.

2) S. 428n.

3) S. VIII.

Heren, was ihr als Wahrheit galt, wie das zu bestreiten, was sie
als Irrtum betrachtete. Der Grund und die Rechtfertigung für
dieses Ineinanderfließen von Apologetik und Dogmatik mag
sehr wohl in dem Gedanken daran gefunden werden, daß das
Christentum sich in der modernen Zeit selbst in traditionell
christlichen Ländern konkurrierenden Weltanschauungen gegenübersah
, und daß infolgedessen der Widerspruch gegen
das Christentum als nicht mehr so sehr an speziellen Lehren
interessiert verstanden werden darf, sondern, wie ein ausgezeichneter
Schriftsteller und Lehrer1 es ausgedrückt hat, sich
auf die ganze Art und Weise bezieht, wie die Welt und der Ort
des Menschen in ihr begriffen wird, aber die Methode, mit der
dieser neuen Lage begegnet wird, setzt zum wenigsten die
Uberzeugung voraus, daß der christliche Glaube sich gegenüber
seinen heutigen Konkurrenten behaupten kann, rational
geschlossen und in gewissem Umfang dem zugänglich ist, was
derselbe Verfasser „rationale Verteidigung"2 nannte.

Ein Gegenstand, der die theologische Aufmerksamkeit
während der hier erörterten Periode dauernd in Anspruch genommen
hat, ist das Verhältnis der Naturwissenschaft zum
christlichen Glauben gewesen. Der schnelle Aufstieg der Naturwissenschaft
mit ihrer Wandlung des Bildes der Natur in
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und insbesondere mit
den reichen Möglichkeiten ihrer Evolutionshypothese in Gemeinschaft
mit ihrer bemerkenswert erfolgreichen Meisterung
der Naturkräfte und der daraus folgenden Wandlung der
Lebensbedingungen stellte dem religiösen Denken ein beträchtliches
Problem. Bekanntermaßen erschien vielen Menschen
schlichten Glaubens die Wissenschaft als der Feind aller Religion
, während auf der anderen Seite der Denker in der Zuversicht
, daß die Wirklichkeit sich nicht selbst widersprechen
könne, oft versucht war, in ihr möglicherweise einen neuen
Bundesgenossen und Freund zu entdecken, wie denn James
Orr, vielleicht etwas wenig überzeugend, in der Naturwissenschaft
eine Unterstützung für die christliche Lehre vom Menschen
als dem Gipfelpunkt und Ziel der Schöpfung fand, nämlich
in der Tatsache, daß kein Evolutionist „annehme, die
Evolution werde jemals zu einem höheren Wesen als dem
Menschen gelangen; welche künftige Entwicklung auch zu erwarten
sei, so werde es doch keine Entwicklung über das Menschentum
hinaus sondern innerhalb des Menschentums sein"3.

Die Zuversicht, daß die Wirklichkeit ein in sich geschlossenes
Ganzes darstellt, bleibt eine unveräußerliche Überzeugung
des religiösen Denkens, erreicht aber bei D. S. Cairns
eine höhere Stufe, wenn er über die besonderen Dogmen der
sich wandelnden Wissenschaft hinausgeht und zwischen der
Naturwissenschaft als solcher und der naturalistischen Weltanschauung
unterscheidet, die sich nicht aus der Wissenschaft
ergibt, sondern sich über ihr aufbaut. Das Herauslassen Gottes
aus dem wissenschaftlichen Bereich ist lediglich eine Frage der
Methode, „aber der Naturalismus bemächtigt sich dieser methodischen
Herauslassung und macht daraus eine Leugnung"4.
So hört die Wissenschaft auf, Freund oder Feind der Religion
zu sein und wird neutralisiert; und doch erweist sich diese
Neutralität ihrerseits als eine halbe Lösung. In einem jüngst
geschriebenen kurzen aber wichtigen Aufsatz über Naturwissenschaft
und religiöses Leben (1951) führt Prof. John Baillie die
Diskussion noch tiefer, wenn er die Naturwissenschaft in ihrer
besonderen Art nicht als einen Inbegriff gewisser bestimmter
Schlußfolgerungen, noch als ein Ganzes wissenschaftlicher Erkenntnis
, noch als ihre Methode, sondern als „eine gewisse
allgemeine Geisteshaltung der modernen Welt"5 betrachtet
und demgemäß Wissenschaft und Glauben „nicht so wohl als
Repräsentanten der Weltanschauung zweier verschiedener
Menschenarten, sondern als zwei Elemente begreift, die, wenn
auch in sehr verschiedenem Grade, bei den meisten von uns
vorhanden sind"6. J. Baillie stimmt zweifellos mit Cairns darin
überein, daß es sich lediglich um eine Methodenfrage handelt,
wenn die Naturwissenschaft Gott aus dem Spiel läßt; indem

') James Orr, The Christian View of God and the World. 10. Auflage,
1893, S. 4.
•) S. 3.
3) S. 133ff.

*) The Riddle of the World, 1937, S. 48.
5) Ebd. S. 7.
•) S. 9.