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Ausgabe:

1952 Nr. 4

Spalte:

231-232

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Delius, Walter

Titel/Untertitel:

Die evangelische Kirche und die Revolution 1848 1952

Rezensent:

Lau, Franz

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 4

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mation und Humanismus in England 1930, 8, das Nötige hätte lesen können.
In derselben Weise wie mit der konkreten Seelsorge geht Sch. mit der seelsorgerlichen
Theorie um. Die von ihm ausdrücklich dafür beanspruchten Traktate
W.s (verzeichnet 180) erledigt er mit summarischen Bemerkungen, vom
Farther Appeal gibt er eine schematische Inhaltsangabe ohne durchgeführte
Beziehung zum Gesamtthema. Die für Wesley bedeutungsvolle romanische
Mystik (Biographie de Rentys) hat er völlig übersehen.

Durch die unscharfe Fragestellung und den vorschnellen
Rekurs auf theologie- und geistesgeschichtliche Abkunft erreicht
das Buch weder eine Förderung des Sonderthemas noch
die — im Grunde beabsichtigte — Gesamtdeutung des Theologen
Wesley. Die nirgends klar ausgesprochene, aber überall
im Hintergrunde spürbare Kennzeichnung mit dem Schlagwort
des pietistischen Individualismus, der sich in einem diktatorischen
Herrscherwalten gegenüber seiner Bewegung vollendet
, stellt eine unerlaubte Vereinfachung der Gesamtproblematik
dar, die der Begründer der methodistischen Kirche aufgibt
. Schempps eigene, etwas gewundene Darlegungen in dem
Teil, der der Lehre gewidmet ist (besonders 74ff.), machen das
deutlich. So bleibt das Ganze überall in Ansätzen stecken, die
mit größerer Schärfe und Sachkenntnis fortzuführen wären.

Berlin Martin Schmidt

Delius, Walter: Die Evangelische Kirche und die Revolution 1848.

Berlin: Evangelische Verlagsanstalt 1948. 83 S. 8° = Kirche in dieser Zeit.
Heft 6/7. DM3.50.

Der Verf. hat recht, wenn er gleich im Vorwort seiner
Schrift feststellt, „daß es keine Untersuchung über die
Wechselwirkung zwischen der Revolution 1848 und der evangelischen
Kirche gibt" (3). Das Jahr 1948 nötigte nachgerade
dazu, das Versäumte nachzuholen. Eine umfassende Untersuchung
der Dinge ist natürlich die Schrift von Delius nicht;
für eine solche reichen 83 Seiten schwerlich aus. Aber wir erhalten
einen brauchbaren Uberblick über die Vorgänge
zwischen Revolution und Evangelischer Kirche im Jahre 1848
bzw. in den vorangehenden und in den nachfolgenden Jahren.
Delius teilt seinen Stoff ein in acht Abschnitte, und er handelt
in diesen von den Voraussetzungen der Revolution (I), der
Evangelischen Kirche am Vorabend der Revolution (II), dem
Revolutionsproblem in der Evangelischen Kirche vor der
März-Revolution 1848 (III), der Revolution 1848 und der Haltung
der Evangelischen Kirche (IV), der Trennung von Kirche
und Staat in der Frankfurter Nationalversammlung (V), den
Konsolidierungsversuchen der Evangelischen Kirche (VI) und
der sozialen Frage und der Inneren Mission (VII). Der letzte
(VIII.) Abschnitt heißt: Theologische Beurteilung des Problems
: Evangelische Kirche und Revolution 1848.

Delius bietet sehr viel Stoff. Er nennt eine Fülle von Publikationen
der Zeit und verbucht gewissenhaft die einzelneu
Vorgänge. Seinem negativen Urteil über die Evangelische
Kirche in ihrer Auseinandersetzung mit dem Revolutionsproblem
wird man grundsätzlich beipflichten müssen. Ob die
Gründe für die Mangelhaftigkeit und Zerfahrenheit nur in dem
Festhalten an einem erstarrten lutherischen Obrigkeitsbegriff
liegen, dürfte jedoch fraglich sein. Sehr stark mitbestimmend
war die Tatsache, daß die evangelische Theologie sich in einer
Weise in Richtungen auseinandergelebt hatte, wie es vorher
noch nicht der Fall gewesen war, und daß sich gar kein klarer,
weithin überzeugender theologischer Ansatz für eine echte Bewältigung
des Revolutionsproblems finden ließ. Der systematische
Teil der Schrift von Delius ist der schwächste. Der Hinweis
auf die Spannung zwischen Rom. 13 und Apk. 13 (70),
die das Luthertum der Zeit um 1848 nicht sah, hilft nicht viel;
denn „revolutionär" ist das allerdings in ganz anderem Sinne
als Rom. 13 staatskritische Kapitel Apk. 13 nicht. Michael
Baumgarten, dessen Vorschläge für eine Einheitskirche (51)
utopisch und antiquiert waren (vgl. Fichte und Arndt), hat,
was die biblische Grundlage für seine Bewältigung des Revo-
lutionsproblenis betrifft, klarer gesehen: Es ist zum Konflikt
um ihn gekommen, nachdem er den Sturz der Athalja als
Prüfungsthema gegeben hatte (71). Daß das Luthertum das
Wächteramt der Kirche gegenüber der Obrigkeit zu wenig
wahrgenommen hat (70), ist sicher richtig; aber vom Wächteramt
der Kirche gegenüber der Obrigkeit kommt man nicht
ohne weiteres zum Revolutionsproblem. Einen Satz wie den:
„Die Erkenntnis, daß Jesus Christus Gewalt über alle Gewalten
hat, bedeutet, daß der Staat als öffentliche Rechtsordnung
zu seinem Reiche gehört" (72), sollte man doch nicht
schreiben, ohne ihn sorgsam zu interpretieren. Die Frage nach
der Herrschaft Christi heute kann nicht gut ohne Phil. 2, 5ff.
gelöst werden; und Jesus hat bekanntlich nicht die Herrschaft
über alle Reiche der Welt in Anspruch genommen, auf die
Ansprache durch den Satan hin ebensowenig wie aus eigener

Herrschervollmacht; vielmehr hat er sich von Pilatus, dem
Repräsentanten des Weltreiches, kreuzigen lassen. Der Satz
(73): „Die Revolution von 1848 war keine Revolte, sondern
Revolution, die das gesamte staatliche und kirchliche Leben
ergriffen hatte", ist gewiß zutreffend; und doch kann man,
wenn man die Revolution von 1848 bewertet, kaum an der
Frage nach den Grenzen dieser Revolution vorbeigehen.

An manchen Stellen spürt mau Lücken oder Undeutlich-
keiten. Das Problem der Entschließungsunfähigkeit der Vertreter
der Evangelischen Kirche auf dem I. Wittenberger
Kirchentag (Legitimationsproblem; Zuständigkeit der Summ-
episcopi) ist nicht berührt. Die Gruppenbildung auf dem
Kirchentag bzw. bei den vorbereitenden Konferenzen und das
Verhältnis der verschiedenen Konzeptionen zueinander wird
kaum ganz deutlich.

An einigen Stellen müssen Irrtümer bzw. Druckfehler berichtigt werden:
S. 32, Z. 12/13 Geltung statt Haltung; S. 75, Anm. 45 Eiert statt Ehlert; der
Verfasser der Schrift über die evangelische Predigt im Revolutionsjahr 1848
ist Ernst Schubert (nicht G. Schubert). Unter den Literaturangaben vermißt
man manches, z. B. Friedrich Michael Schiele: Die Kirchliche Einigung des
Evangelischen Deutschland im 19. Jahrhundert, 1908 (wichtig wegen der ausgezeichneten
Literaturangaben) oder Ernst Schubert: Die deutsch-evangelischen
Einheitsbestrebungen vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart
, 1919. Bei dem großen Einfluß von Stahl auf die Meinungsbildung in der
evangelischen Kirche auch hinsichtlich des Revolutionsproblems hätte man
gern mehr Hinweise auf Literatur über Stahl. Daß nach der Revolution von
1918 nur Georg Wünsch sich in einer Weise zum Revolutionsproblem geäußert
hat, die es möglich macht, von daher das Problem weiter zu untersuchen (73),
stimmt kaum. Es ist immerhin hinzuweisen auf die Aufsatzsammlung Revolution
und Kirche, herausgegeben von Friedrich Thimme und Ernst Rolffs
(Berlin 1919), an der Alänner wie Otto Baumgarten, Wilhelm Bousset, Adolf
Deißmann, Otto Dibelius, Karl Heim, Artur Titius oder Ernst Troeltsch mitgearbeitet
haben.

Dankenswert ist die Veröffentlichung der Deliusschen
Arbeit auf alle Fälle. Das Register am Schluß erleichtert die
Benutzung sehr. Anregungen gibt die Schrift reichlich. Möchte
sie zur Weiterarbeit an der oder jener Stelle veranlassen.

Leipzig Franz Lau

Winter, Eduard: Rußland und die slawischen Völker in der Diplomatie
des Vatikans 1878—1903. Berlin: Akademie-Verlag 1950. 186 S. 8".
DM 13.50; geb. DM 16.25.

Der Berliner Osthistoriker untersucht auf Grund bisher
nicht ausgeschöpfter Quellen (besonders der russischen und
österreichischen Gesandtschaftsberichte aus Rom) das Verhältnis
der päpstlichen Politik unter Leo XIII. zu den slawischen
Völkern. Zwar ist die Leidenschaft Leos XIII. für die
Diplomatie, seine Abneigung gegen den Dreibund und seine
Mitwirkung am Zustandekommen des gegen den Dreibund gerichteten
russisch-französischen Bündnisses von jeher bekannt
, aber m. W. ist bisher noch keine so detaillierte Schilderung
der kleinen und großen diplomatischen Intrigen, die in
Rom gesponnen wurden, und der seltsamen Selbstwidersprüche
, in die die vatikanische Politik dabei gelegentlich geriet
, gegeben worden wie hier. Oft scheint der Papst in seinem
Bemühen, die atheistische dritte Republik mit dem schismatischen
Zaren gegen den überwiegend katholischen Dreibund
zusammenzubringen, bis an die Grenze dessen zu gehen, was
ihm seine Stellung und seine Würde erlaubt.

Als Ergebnis der historischen Untersuchung stellt der
Verf. zu wiederholten Malen heraus, daß das Politische im
Vatikan den Vorrang vor dem Kirchlich-Religiösen hat. Nun
ist die Tatsache, daß die Kurie nicht nur unter den großen
Päpsten des Mittelalters und der Renaissance, sondern eben auch
in der jüngsten Vergangenheit sehr tief in die Fragen der Weltpolitik
verstrickt ist, nach dem hier beigebrachten Material
nicht mehr zu bezweifeln, und die vom Verf. dargestellte
scharfe Ablehnung des Dreibundes durch Leo XIII. mag
manchen deutschen oder österreichischen Katholiken mit Unbehagen
erfüllen. Aber es muß doch auf der anderen Seite zugegeben
werden, daß diese politischen Ziele aus einem kirchlich
-religiösen Anliegen heraus konzipiert waren. Aus der
Schilderung Winters wird es ganz deutlich: obwohl Leo XIII.
gewisse Vorlieben hatte (etwa für die Franzosen), so trieb er
doch nicht Politik um der Politik willen oder aus Abneigung
gegen dieses oder jenes Volk, sondern im Dienste von Ideen:
er trieb sie zur Verwirklichung seiner Idee von der Weltaufgabe
des Papsttums. Es war seine Uberzeugung, daß, wie
die Seele zur Herrschaft über den Leib, so das Geistliche zur
Herrschaft über das Weltliche berufen sei, daß Christus in
seinem Stellvertreter nicht nur das eine Haupt der Kirche,
sondern gleichzeitig auch der arbiter mundi zu sein habe. Zur
Verwirklichung dieses religiös begründeten Anspruches glaubte