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Ausgabe:

1952 Nr. 4

Spalte:

222-224

Kategorie:

Kirchengeschichte: Alte Kirche, Christliche Archäologie

Autor/Hrsg.:

Brandon, Samuel G.

Titel/Untertitel:

The fall of Jerusalem and the Christian church 1952

Rezensent:

Schoeps, Hans-Joachim

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Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 4

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stammend. Beide sind sie Vorbild einer Schwesternschar,
ihre Führerin zu Christus. Beide stehen sie in ihrer Kirche
und doch nahe der Grenze der Schwesternkirche. So nah
scheinen sie zeitweise der Glaubenshaltung der andern Kirche,
daß man erstaunt fragt, warum Eva v.Tiele-Winckler nicht den
Ubertritt zur katholischen, Caritas Pirckheimer nicht den zur
lutherischen Kirche vollzogen haben.

In der Gestalt der Mutter Eva, wie sie uns in dem Buch :
das große Wagnis geschildert wird, ist in der evangelischen
Kirche ein Zeichen aufgerichtet für die Wahrheit des Wortes:
es wird euch solches alles zufallen. Schwester Eva hat sich
schon früh Gott zu seinem ausschließlichen Dienst gelobt; ihm
will sie das Ganzopfer ihres Lebens in der Liebe zu den Armen
darbringen. Das ist der Dreiklang, der ihr Leben erfüllt: das
Leben in der Christusverbundenheit in der beständigen Gegenwart
Gottes, die überströmende Liebe zu den Elenden und
Armen, der Verzicht auf alle Annehmlichkeit und Bequemlichkeit
des Lebens in völliger Armut. Die heißen Kämpfe um ihre
Heiligung in der Christusgemeinschaft, um das Erleben der
überschwenglichen Kraft Gottes führen Schwester Eva bis an
die Tore der katholischen Kirche (in die hinein sie getauft
wurde). Erst das Erleben der Erweckungsbewegung in Wales
läßt sie zur Ruhe kommen: sie läßt sich ganz in die Hände
Gottes fallen, bereit, auf sich selbst ganz zu verzichten, von
ihm alles zu erwarten, sich und ihr Werk ganz in seine Hände
zu legen. Und wenig später beginnt die große Umstellung ihres
Werkes: hatte sie bisher zunächst die Zinsen, dann auch das
Kapital ihres Millionenvermögens hingegeben für ihr Werk der
Hilfe an allem Elend, vorzüglich der Kindernot, so stellte sie
jetzt, wo auch das Kapital zusammengeschmolzen war, das
ganze Werk nur auf das Vertrauen auf Gottes Liebeswillen und
seinen Reichtum, nicht mehr auf rechnerische Sicherheiten.
War ihr Leben bisher eine Verherrlichung der persönlichen
Armut, so soll jetzt ihr ganzes Werk durch die völlige Armut
den Reichtum Gottes verherrlichen, die Macht des Gebets und
die Erhörungsbereitschaft Gottes. Sie wagt es, mit ihrer ganzen
Schwesternschaft ihr großes Werk auf den Glauben zu stellen,
daß Gott in kleinen und großen Dingen helfen und geben
kann und will, wenn der Mensch sich ihm ganz öffnet. Zwei
Grundsätze beherrschen das ausgedehnte Werk ihrer Anstalten
und Dienste: es dürfen keine Schulden gemacht werden
und es dürfen Menschen nicht um Hilfe angegangen werden,
sondern alle Bedürfnisse werden in kindlichem Vertrauen vor
Gott ausgebreitet — und er hilft. Und so wird uns geschildert,
wie Mutter Eva und ihrer Schwesternschaft Häuser und Geld
und Winterdecken und Ferienreisen, Nahrungsmittel und
helfende Menschen durch Gottes Eingreifen „zufallen".
Mutter Eva wagt es im Verzicht auf alle irdische Sicherheit
ihr Werk immer weiter auszudehnen: 38 Kinderheimaten in
ganz Deutschland, ein Kindergärtnerinnenseminar, eine Säuglingspflegeschule
, Krankenhäuser, Alters- und Siechenhäuser,
drei Häuser für entlassene Gefangene, Gemeindestationen und
schließlich Missionsschwestern in allen Erdteilen. Ungezählte
Wunder der Erhörung durften Mutter Eva und ihre Schwestern
schauen; sie hatte „Zutritt zu den Schatzkammern
Gottes". Es war die Armut, die ihr die Tür zu diesen wunderbaren
Glaubenserlebnissen öffnete. Armut war ihr deshalb
„ein großer Glanz von innen", Zeugnis von dem Sieg der Liebe
über Selbstsucht und Eigennutz.

Dieser Glaube, teilhaben zu können an dem Reichtum
Gottes in allen irdischen Dingen war getragen von ihrem
Weilen vor Gottes Angesicht. So verströmte sich ihr Leben
n Liebe. In der Armut fand sie das Gefäß, das die strömende
Flut dieser Liebe auffing. Der katholische Geistliche in Miecho-
witz äußerte: „Mutter Eva braucht nicht erst heilig gesprochen
zu werden, sie ist eine Heilige." Man bemühte sich ernstlich,
sie zum Rücktritt in die katholische Kirche zu bewegen.

Wenn man dies Buch liest, so fragt man sich, was dies
Leben aus Glauben und Liebe in der katholischen Kirche bedeutet
hätte und was es in der evangelischen Kirche bedeutet
hat?

Das zweite Buch über Caritas Pirckheimer gibt nicht nur
ein Lebens- und Charakterbild der Äbtissin des reformierten
Klosters der Klarissen in Nürnberg, sondern zugleich einen bedeutsamen
Ausschnitt aus dem kulturellen und dem religiösen
Leben der Zeit von 1520—1530. Wir lernen die freie Reichsstadt
Nürnberg mit ihren mannigfachen Beziehungen zum
Kaiser, zu dem Herzog von Bayern, zum schwäbischen Bund
kennen, ihre bewegte Politik in der Zeit des Ubergangs vom
Katholizismus zum Luthertum. In all diese Verhältnisse und
Beziehungen ist Caritas mit ihrem Kloster verflochten. Als
einziges Kloster in Nürnberg bleiben die Klarissen unter der
kraftvollen Führung der Äbtissin der katholischen Kirche
treu — trotz jahrelanger Anfeindungen und gegenüber den

immer erneuten Drohungen und Forderungen des Rates.
Melanchthon ist es recht eigentlich, der dem Rat sein Unrecht
vorhält und den Klarissen hilft, so daß sie in Ruhe in ihrem
Kloster weiterleben können, freilich ohne Beichte und Messe.

Caritas ist die gelehrte und tieffromme Schwester des bekannten
Humanisten Willibald Pirckheimer. Beide gehören zu
den Kreisen, die die formale Bildung des Humanismus mit
tiefem aus der Mystik stammenden religiösen Gefühl verbinden
. Die betonte Wendung zur hl. Schrift und zur Christusliebe
in der Frömmigkeit der Klarissen danken diese dem Vorbild
ihres Ordensgründers, des hl. Franz und der von ihm her
ausgebildeten Tradition in seinen Klöstern. Caritas selbst ist
von Jugend an im Geist des Heiligen von Assisi für Christus
erzogen. Sie steht einerseits in einem (meist lateinischen) Briefwechsel
mit bekannten Humanisten, andrerseits mit manchen
durch innige Frömmigkeit ausgezeichneten Geistlichen. Gewählt
zur Äbtissin widmet sie sich der wissenschaftlichen und
religiösen Erziehung ihrer Schwesternschaft, die sie sorgfältig
aus den vornehmen Familien Nürnbergs auswählt, und der
schwierigen Verwaltung der weit ausgedehnten Klostergüter.
So lernen wir in dem vorliegenden Buch Caritas kennen als
die kluge, geistig hochstehende, in vielfache Welthändel und
Kämpfe hineingezogene Frau, die alle Versuche, sie von ihrer
Kirche zu lösen, überlegen zurückweist und bei alledem in
ihrem Herzen doch nur das eine Ziel ihrer Frömmigkeit kennt:
die Vertiefung in die heilige Schrift und die Verbundenheit
mit Christus. Und hier liegt wohl der tiefste Grund, warum
sie nicht zur lutherischen Kirche übergeht: in ihrer Kirche hat
sie und haben ihre Schwestern aus Gottes Wort leben gelernt;
Tag und Nacht werden das Alte und das Neue Testament von
den Schwestern gemeinsam und von einzelnen für sich gelesen
. Caritas schreibt: Von Gottes Gnade haben wir keinen
Mangel am Evangelium und an Paulo. Vor Gott wissen die
Schwestern alle sich als Sünderinnen; sie warten des Tages
des Herren und setzen ihre Hoffnung alle auf die Gnade und
Barmherzigkeit Gottes nicht auf ihre eigenen Werke.
Wie nahe steht dieser Glaube dem der Mutter Eva, wenn
Caritas z. B. schreibt: wir wollen zur göttlichen Hilfe allein
unsere Zuversicht nehmen. Wir zweifeln nicht, daß Gott uns
Hilfe bringen wird. Und man meint, Luther zu hören, wenn
sie hinzufügt: er ist den Unschuldigen nie näher, als wenn er
ihnen am entferntesten scheint. Warum sollte Caritas übertreten
, da sie das, dessen die lutherische Kirche sich rühmte,
bereits hatte ? In beiden Frauengestalten steht manch eine
ernste Frage vor den evangelischen wie den katholischen
Christen auf. Beide Frauen sollten unter uns nicht vergessen
werden.

Berlin Mgd. von Tiling

KIRCHENGESCHICHTE: ALTE KIRCHE

Brandon, S. G. F.: The Fall of Jerusalem and the Christian Church.

A Study of the Effects of the Jewish Overthrow of AD 70 on Christianity.

London: S.P.C.K. 1951. 284 S.

Im Jahre 1942 schrieb ich in der Abhandlung „Die Tempelzerstörung
des Jahres 70" (Conj. Neotest. Uppsal. VI;
wieder abgedruckt in „Aus frühchristlicher Zeit", Religions-
geschichtliche Abhandlungen, Tübingen 1950), daß die Ereignisse
um das Jahr 70 und ihre Rückwirkungen auf die
werdende Kirche sich trotz ihrer großen Bedeutung für das
Christentum einer auffälligen Unbekanntheit erfreuen. Inzwischen
sind eine Reihe von Untersuchungen christlicher
Theologen erschienen, die diesem Ubelstand ein Ende bereitet
haben. Ich nenne hier: M. Goguel: La Naissance du Christia-
nisme (Paris 1946); Marcel Simon: Verus Israel (Paris 1948);
Jakob Jocz: The Jewish People and Jesus Christ (London
1949) und jetzt das schon 1947 geschriebene bedeutende Werk
von S. G. F. Brandon, dem diese Besprechung gilt.

Brandon ist ein sehr selbständiger Geist, er hat mancherlei
gelernt: exegetischen Scharfsinn von T. W. Manson und den
Blick für politische Zusammenhänge in der frühchristlichen
Zeit von R. Eisler. Für meinen Geschmack geht Brandon oft
viel zu weit, wenn er von der „Weltanschauung" der Judaisten
oder ihres Gegners Paulus redet, von dem „nationalistischen
Charakter der judenchristlichen Religion" usw. Er rechnet
wie viele Forscher m. E. mit viel zu festen und starr gewordenen
Größen schon in einer Zeit, als geistig noch alles im Flusse war
und „Weltanschauungen" munter durcheinanderflossen. Mein
eigenes, 1949 erschienenes Werk „Theologie und Geschichte
des Judenchristentums" (Verlag J. C. B. Mohr, Tübingen) hat
der Verfasser vor der Drucklegung noch kennengelernt und in
einem Appendix (S. 262—264) einige Bedenken gegen meine