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Ausgabe:

1952 Nr. 4

Spalte:

201-206

Autor/Hrsg.:

Stauffer, Ethelbert

Titel/Untertitel:

Jüdisches Erbe im urchristlichen Kirchenrecht 1952

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201

Theologische Literaturzeitung 1952 Nr. 4

202

Jüdisches Erbe im urchristlichen Kirchenrechl

Von Ethelbert Stauffer, Erlangen

Ernst Kohlmeyer zum siebzigsten Geburtstag

Wiederholt hat Ernst Kohlmeyer auf jüdische Elemente
im altchristlichen Kirchenrecht aufmerksam gemacht. So
schon 1931 in dem Aufsatz Zur Ideologie des ältesten Papsttums
, Tradition und Sukzession (Th St Kr), so jetzt von neuem
in der Studie über „Charisma oder Recht?", Vom Wesen des
ältesten Kirchenrechts (Zeitschrift für Rechtsgeschichte,
LXIX, Kanonist. Abteilung XXXVIII, 1952). Nun erhebt sich
die Frage: Sind diese Elemente primär oder sekundär, konstitutiv
oder akzessorisch ? Mit anderen Worten: Handelt es
sich hier um eine Erbmasse, die der werdenden Kirche ab ovo
mitgegeben war — oder um eine Invasion jüdischer Rechtsan-
schauungen und Rechtspraktiken, die erst im zweiten oder
dritten Jahrhundert erfolgt ist ? Vieles spricht für die Ver-
erbungstheorie, zunächst eine negative Erwägung: In der Zeit
nach den christenfeindlichen Beschlüssen von Jamnia (um 90
p.C.) dürfte eine namhafte Einwirkung jüdischen Kirchenrechts
auf die christliche Kirche kaum mehr denkbar sein; der
Gegensatz zwischen Kirche und Synagoge war seit jenen Tagen
doch wohl allzu scharf. Aber auch positive Beobachtungen
sprechen für die Vererbungstheorie. Schon die Paulusbriefe bezeugen
die Wirksamkeit jüdischer Rechtstraditionen im Raum
der Kirche Christi, wie auch Kohlmeyer in seiner jüngsten
Publikation mit Recht betont (Charisma oder Recht, S. 8ff.;
lyii. u.ö.). Paulus war Jurist. Sollte er das juristische Denken
und Handeln in die christliche Kirche „eingeschleppt" haben
?1 Vielleicht gewinnen wir in dieser schwerwiegenden Frage
ein wenig Licht, wenn wir noch über Paulus zurückfragen nach
der Urgemeinde. Versuchen wir, sogleich auf ihre allerersten
Anfänge zurückzugehen, auf die Zeit zwischen Ostern und
Pfingsten. Der älteste Rechtsakt der Jüngergemeinde, von dem
wir hören, ist die Zuwahl des Apostels Matthias, von der in
Ag 1, 12—26 berichtet wird. Kann man hier bereits etwas von
der Terminologie oder Formelsprache, Ordnung oder Praxis
des jüdischen Kirchenrechtes erkennen ? Allenthalben, so
scheint mir. Einige Annotationen aus dem Alten Testament,
der ältesten Halacha und Josephus, vor allem aber aus den
Jerichorollen, dem Damaskustext und Pseudophilons Antiqui-
tates Biblicae, mögen das ohne viel Kommentar hier belegen2.

In Ag. i, 131. findet sich eine Mitgliederliste der älteren
Jüngergemeinde. Die Liste weicht in der Reihenfolge von den
bekannten Apostelkatalogen ab. Sie geht offenbar nach dem
kirchlichen Dienstalter3. Der Primovocatus Petrus steht an
der Spitze. Es folgen die frühberufenen Apostel, dann die anderen
aus dem Zwölferkreis, dann die Frauen (vgl. Luk. 8, 2f.),
dann die Mutter Maria, zuletzt die Brüder (vgl. 1. Kor. 15, 7).
Auch die Rangliste der Essener war nach dem Dienstalter (im
Ordensdienst) angelegt, s. Jos. Bell. 2, 8, 9, 146; 2, 8, 10, 150.

In Ag. 1, 15 heißen die Anhänger Jesu äSelyot. In Ex. 2,
11; 4, 18; Dt. 18, 15. 18; Tob. 1, 3; Ag 28, 21 u. ö., auch in
den Papyri von Assuan ist äöe/.<pög der Volksgenosse und Glaubensgenosse
zugleich. Ebenso nennen sich die Mitglieder der
Jerichosekte (DSM. 6, 22 u.ö.) und der Damaskusgemeinde
(s. Dmt. 8, 6; 19, 18; 20, 18). Auch die Essener werden als
äÖE/.q>oi bezeichnet (Jos. Bell. 2, 8, 3, 122).

In A g 1, 16 wendet sich Petrus an die Jüngerversammlung
mit der Anrede ärdoeg &6e).<poi (cf. Ag 13, 15). Nach
Taan 2,1 u. a. m. begann man eine Ansprache an die Gemeinde
mit der Anrede ^ns (s- Billerbeck II S.766). In Dmt. 2,14
dagegen eröffnet der Didaskalos ein neues Redestück mit der
Anrede „Kinder": ibD*32 nr^T

InAg. i, 15 hören wir von einer Vollversammlung der
Anhänger Jesu, die zu einem Rechtsakt zusammentritt. Ple-
narversammlungen als Träger kirchenrechtlicher Befugnisse
spielen im Spätjudentum eine große Rolle, so z. B. Jos. 7,24ff.;
Neh.8ff.; DSM. 6,15!., 18; 8,19; 2,21 (nyn Vo): 6,19 (Mehrheitsbeschluß
) ; Dmt. 14,10 (jTTS?) i J4-12 (irm) I Pseudophilon
Ant. 25,2ff. (populus); 26,211. (congregatis omnibus populis).

') Das ist schon deshalb ganz unwahrscheinlich, weil auch sein großer
Gegenspieler Jakobus mit Begriffen, Anschauungen und Praktiken des
jüdischen „Kirchenrechts" arbeitet; s. E. Stauffer, Zum Kalifat des Jakobus
Justus, ZRGO 1952.

') Ich zitiere die Ordensregel von Jericho (DSM.) nach M. Burrows, The
Dead Sea Scrolls 11,2, Plates and Transcription of the Manual of Discipline,
New Häven, 1951; den Damaskustext (Dmt.) nach L.Rost, Die Damaskusschrift
, Berlin, 1933; Pseudophilon (PsPhilon, Ant.) nach G.Kisch, Pseudo-
philo's Liber Antiquitatum Biblicarum, Notre Dame (Indiana) 1949.

8) Die Rangordnung nach dem kirchlichen Dienstalter wirkt noch lange
nach, z.B. in der Ehrenstellung der caaQ/_ai.

In Ag. 1,15 werden die Teilnehmer der Vollversammlung
als dvöuara gezählt. Derselbe Sprachgebrauch in Nu. i,i7ff.;
Dmt. 2,11 ff.; 14, 3t. Vgl. Ap. 3,4.

Nach Ag. 1, 15 beträgt die Zahl der eingetragenen bzw.
eingeladenen Mitglieder hundertundzwanzig. Billerbeck
zitiert dazu Sanh. 1,6 (120 = Mindestzahl der Einwohner einer
Stadt, die ein Synhedrium erhalten soll). Ebenso Jackson-
Lake z. St. Aufschlußreicher ist die jüdische Tradition, daß die
Große Synagoge 120 Mitglieder gehabt habe1. Denn die ,, Große
Synagoge" (nb^H riD33) ^ die halachische Bezeichnung
für die konstituierende Ecclesia Magna (Aboth 1,1; cf. Joma
69b ; Ber. 33 a; Baba bathra 15a), die am Anfang der jüdischen
„Kirchengeschichte" steht (vgl. Neh. 8ff.). Und der terminus
STIO^D erscheint im christl.-paläst. Aramäisch als Selbstbezeichnung
der Kirche Christi2. Demnach will die ri033 der 120
in Ag. 1,15 wohl als die Ecclesia Magna am Anfang der christlichen
Kirchengeschichte verstanden sein.

Zu Ag. 1, 1 7 xarrjgi&uriftevo; iv fifilv s. Ez. 13,9 und
DSM 3,1: er wird gerechnet (2,cnrp) zu den Rechtschaffenen;
vgl. Dmt. 19,35: BSP nOS T3XDTP- Vgl. Lv. 25,31; Nu. 23,9;
Jos. 13,3; 2. Sam. 4,2; Pes. 94a.

In Ag. 1, 17 heißt es von Judas: Er erhielt den xXijQog.
Zur Begriffsgeschichte s. Dt. 10,9; Ps. 125,3; DSM 1,10; Dmt.
13,12 ; 20,4 : 5s vxüab f*0 "OTÜ b33 (= sein Los ist gefallen
unter die Gottgelehrten). Vgl.auchAg. 8,2i;[26,18; Ign.Ephes.

11,2*.

Zu Ag. 1, 17 öiaxovla s. DSM. 3,26 (bl>1 IITSTT bl3)
STTOJP) I Dmt. 20, 21 (inj?). Josephus spricht in Ant. 18,1,5 von
der öiaxovla der Essener4.

Ag. 1, 20 zitiert aus Ps. 109,8 den Begriff eniaxoifq =
episcopatus = FTPDB — Aufsichtsamt (vgl. i.Tim.3,1). Derselbe
Begriff geht in Nu. 3,36 auf das Aufsichtsamt der Leviten
, in Nu.4,16a auf das Aufsichtsamt5 des Hohenpriesters,
der in Nu. 3,32 als princeps principum .hnn03 S^OS) bezeichnet
wird. In Nu.4,16b heißt das Amt des Hohenpriesters das
„Aufsichtsamt über die ganze Wohnung ("]3T^')2n"-b3 rTTpD =
Iniaxonr] 8h]g rrjg oxTjvijg) und alles, was darinnen ist an heiligen
Gegenständen und zugehörigen Geräten." — Ganz entsprechend
hören wir in Neh. 11,22 von dem Tips der Leviten
= imoxoxog Aevtrüv (cf. Neh. 11,9. 14; 2. Chron. 34, 12. 17).
In der Ordensregel von Jericho begegnet uns dieselbe Amtsbezeichnung
. Der Ordensgeneral heißt hier Q^2"in OS"H3 "PpSrt>
„Der Episkopus an der Spitze der Vielen" (DSM. 6,14). Sein
Amt ist vor allem die Abhaltung der verschiedenen Aufnahmeprüfungen
(DSM. 6,21 "irmpB"1)- Im Damaskustext hören wir,
daß der Episkopus ein Mann priesterlichen Geschlechtes sein
muß (Dmt. 14, 3" 6f.: Qimn TTDK tpz^ "TOS )rt2Tl) •— Außerdem
aber begegnet uns in beiden Texten der Titel „Kurator"
(^p273)- Die Ordensregel von Jericho nennt in 6,12 den ip^Ta
b» 3-mn. üi 6,20 den n^TTI rtssbtt br -ip372- In der Damaskusgemeinde
ist der Titel Kurator zur höchsten Amtsbezeichnung
geworden. An der Spitze jedes Lagers steht ein
rartOb *lp3» (Dmt. 13, 7;cf. 9,18; i3,6ff.; 13,16; 15,8.14), an
der Spitze der Gesamtgemeüischaft steht der bsb "TOS "TpDTO
FTOFRSrt' der curator omnium castrorum (Dmt. 14,8f.), auch
jmgS genannt (Dmt. 7,20). Auch bei den Essenern scheint der
höchste Amtsträger den Titel "ipa'a geführt zu haben, denn
Josephus nennt ihn tayuAtafc (Bell. 2,8,6,134; cf. 2,8, 3,123). —
Man sieht, alle diese Sondergemeinschaften sind (genau wie die
jüdische „Großkirche") zentralistisch organisiert, und die Inhaber
des höchsten Amtes führen Amtstitel, die allesamt ziemlich
dasselbe besagen: "ppÖ« ""Ip3)2> e^iaxonog, ImneXerrig. Der
terminus imoxojtrj inAg. 1,20 stammt demnach aus der kirchen-
rechtlichen Terminologie des vorchristlichen Judentums, und
dasselbe gilt von dem Titel im'axojiog in Ag. 20, 28 u. ö. Die

') Siehe S.Krauß, JQR X p. 347ff., J.Levy, Die Präsidentur im Synhedrium
, Frankels Monatsschrift IV S.266ff.

J) Siehe S.Krauß, Synagogale Altertümer S.12.

*) Wir zitieren gelegentlich Ignatius und andere Patres, um klarzustellen,
wie urjüdisch manche Begriffe und Formeln sind, die bisher vielfach als frühkatholisch
galten.

4) Zu ftta9öi ddtxtag vgl. Luk. 16, 9 fiaficaväs Tfjs dSixias und Dmt.
14, 20 VlBBi Jos. Bell. 2,8,7, 141; dvdawv xegdoi.

') LXX übersetzt ixioxonoiEXeat^aQ. Ebenso n~pD = iniaxonot in
2. Reg. 11, 18.