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Ausgabe:

1951 Nr. 3

Spalte:

145-150

Autor/Hrsg.:

Fichtner, Johannes

Titel/Untertitel:

Zum Problem Glaube und Geschichte in der israelisch-jüdischen Weisheitsliteratur 1951

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 3

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Zum Problem Glaube und Geschichte in der israelitisch-jüdischen Weisheitsliteratur

Von Johannes Fichtner, Bethel

Jesus Sirach und die Sapientia Salomonis1, so wird deutlich:
liier ist nun die Weisheit in die Heilsgeschichte eingeordnet,
hier ist die Brücke zwischen Weisheit und Gesetz geschlagen,
hier weiß man vom Wirken der Weisheit in der Geschichte
Israels, vom Handeln Gottes mit seinem Volk, hier kennt man
auch das heilige Buch der Gemeinde und ,,zitiert'' sogar aus ihm.

Freilich treffen diese Feststellungen in dieser allgemeinen Form nicht für
alle Teile der Bücher Sir. und Sap.Sal. im gleichen Maße zu. So finden wir z. B.
In beiden Büchern Abschnitte, In denen die Geschichte auch, wo es sehr nahe
gelegen hätte, nicht angezogen wird. Sir. 1—15 und Sap. 1—5 sind fast ganz
frei von geschichtlichen Anspielungen. Allerdings spielen in den genannten
Kapiteln des Buches Sirach auch schon das Oesetz (I, 26; 2, 16; 6, 37; 10, 19;
15, 15), kultische Pflichten (7,29—31; 14, II) und der Bund eine Rolle. Und
die ersten Kapitel der Sap.Sal. unterscheiden sich ebenfalls dadurch von den
Proverbien, daß sie mit den Gottlosen die „Gesetzesübertreter" meinen (1, 9;
2, 12; 3, 16; 4,6; 5,7) und mit den Gerechten die „Erwählten" (3,9), die
„Kinder Oottes" (2, 13; 5,5). Das Bild der Gerechten und der Gottlosen wird
überdies mit zum Teil wörtlich gegebenen Wendungen Tritojesajas gezeichnet*,
und auch andere Anspielungen an die „Schrift" finden sich schon in Sap. I—5'.

Mit Kap. 16 wird Im Buche Sirach ziemlich unvermittelt die Heilsgeschichte
in die Belehrung des Weisen einbezogen, und zwar zunächst nur mehr
am Rande — mit Beispielen aus der Geschichte (16, 6—10) — und dann In
Kap. 17 ganz zentral: die Menschen sind alle von Gott erschaffen, und er hat
Ihnen Einsicht gegeben (v. 1—10), aber Israel hat sich Oott erwählt (v. 17),
ihm hat er Bund und Gesetz verliehen (v. 11—16). Dasselbe Motiv tritt dann
wieder in Kap. 24 hervor, und zwar in der Weise, daß die Weisheit Jakob zum
Wohnsitz angewiesen bekommt (24,8) und ihren Sitz in Zion nimmt (v. 10);
diese Weisheit aber ist nach der ausdrücklichen Feststellung des Weisen „das
Buch des Bundes", „das Gesetz des Mose" (24, 23). Der wiederholte Hinweis
auf das Gesetz und die Gebote (z. B. 29, 1; 34, 10; 35, 23; 36, 2; 37, 12; 39, 8;
41,8) macht deutlich, wieweit tatsächlich Weisheit und Gesetz ineinsgesetzt
sind. Geschichtliche Motive finden sich nur ganz gelegentlich; aber am Schluß
seines Buches bringt der Weise dann den berühmten Lobpreis der Großen
des Gottesvolkes, der uns noch etwas näher zu beschäftigen hat.

Der Lobpreis der Schöpfungswerke (42, 15ff.) schließt mit dem Satz
(43, 33):

Dies alles hat der Herr geschaffen,
Und den Frommen hat er Weisheit verliehen.
Mit den „Frommen" sind offenbar die Juden gemeint, und damit ist der Ubergang
zum folgenden Abschnitt gegeben; denn die in ihm gepriesenen Männer —
von Henoch, Noah und Abraham bis zu dem Hohenpriester Simon — haben
ihren Platz in der Heilsgeschichte, weil sie im Besitz der Weisheit waren, die
Ihnen Gott ins Herz gegeben hatte (50, 231). Tatsächlich ist freilich in diesen
Kapiteln wenig von der Weisheit dieser Männer die Rede (vgl. 44, 3f. 15. 16;
45, 5. 26; 46, 19; 47, 12—15), meist werden nur ihre Taten und Verdienste geschildert
gelegentlich mit einem Hinweis darauf, daß sie dadurch Gott völlig
gehorsam gewesen seien (z. B. 46,6; 46, 10. 11. 13; vgl. 49,4). Vermutlich ist
dieses Preislied nach Vorbildern gedichtet, die nicht aus Kreisen der Weisheitslehrer
stammen und daher nicht spezielles Interesse an der Weisheit,
sondern an der Gerechtigkeit und Gottwohlgefälligkeit dieser Großen des
Gottesvolkes hatten. Sirach geht es dabei nicht um eine unterschiedslose Verherrlichung
Israels und seiner Großen. Er hat vielmehr ein offenes Auge für
die Sünde des Gottesvolkes. Er weiß um die Schuld Dathans und Abirams und
der Korachiten (45, 18ff.), er nennt Davids Frevel (47, 11) und Salomos Makel
(47, 20). Er verurteilt auch ausdrücklich die Könige Jerobeam und Rehabeam
(47, 23f.), Ja er stellt sogar heraus, daß alle Könige — bis auf David, Hiskia
und Joslal — verderbt gehandelt hätten (49,4). Er kennt die Schuld Israels,
die schließlich zu seiner Exilierung führt (47, 24; 48, 15). Über Mose und die
priesterlichen Gestalten Aaron, Pinechas, Josua und Simon berichtet er freilich
nichts Nachteiliges, obwohl ihm in der Tradition der geschichtlichen Bücher
zum Teil dafür mancherlei Material vorgelegen haben wird.

Auch in der Sap Sal. spielt die Geschichte eine beträchtliche Rolle. Das
gilt zwar nicht für Kap. 1—5 (s. oben) und nur mit Einschränkung von
Kap. 6—9, in denen Salomo, der angebliche Verfasser des Buches, berichtet,
wie er die Weisheit erwarb und in ihr Wesen eindrang4, aber von c. 10 ab
rückt die Geschichte in das helle Licht der Betrachtung. Sie wird zur Illustration
des Satzes verwendet, daß „die Weisheit Menschen hindurchrettet".
Schon Sap. 2, 18 erscheint im Munde der Gottlosen der Satz, daß die Gerechten
auf Errettung durch ihren Gott hoffen; dort handelt es sich aber um
einen grundsätzlichen „Glaubenssatz", dessen Gültigkeit nicht an der ge-

Die israelitisch-jüdische Weisheitsliteratur nimmt innerhalb
des AT insofern eine Sonderstellung ein, als sie in ihren
Hauptschriften, Proverbien, Hiob und Qohelet1, ein allgemein
menschliches Gepräge trägt. Die konstituierenden Elemente
für das Verhältnis Israels zu seinem Gott, Erwählung, Bund
und Gesetz, werden hier nirgends erwähnt2. Ihr Wort richtet
sich an den einzelnen, nicht an das Gottesvolk. So spielt auch
die Geschichte Gottes mit seinem Volk in diesen Weisheitsschriften
gar kerne Rolle. Uns interessiert für unsere Fragestellung
in erster Linie das Buch der Proverbien, weil in seinen
Sprüchen, Weisungen und Mahnungen, offenbar die „Schulmeinung
" der Weisheitslehrer dargeboten wird, zu der Hiob
und Qohelet deutlich eine kritische Stellung einnehmen3. Es
ist doch in der Tat seltsam, daß sich die Weisen der Proverbien
weder zur Begründung noch zur Illustrierung ihrer Lehrsätze
und Weisungen auf die „Heilsgeschichte" bezogen haben und
sich offenbar damit den reichen Schatz an geschichtlichen Beispielen
haben entgehen lassen. Wie nahe hätte es bei vielen
Proverbien gelegen, auf Gestalten hinzuweisen wie Kain
(Prov. 28, 17), Henoch und Noah (10, 9), Joseph (6, 2off.),
Saul (20,28), David (14,35; 27. 8). Absalom (19. 26) und
Salomo (16, 10; 20, 8. 26), um nur einige derartige Beispiele
zu nennen. Auch der bekannte Spruch „Gerechtigkeit erhöhet
ein Volk, aber der Völker Schmach (?) ist (Folge der) Sünde"
(x4> 34) wäre mannigfaltig aus der Geschichte Israels zu belegen
gewesen4. Das geschieht in unseren Proverbien nicht;
ob es im mündlichen Unterricht geschehen ist, läßt sich nicht
feststellen, ist aber unwahrscheinlich. Denn, selbst wenn die
uns überlieferten Einzelsptüclie gewissermaßen als „Themen"
oder „Texte" für die Unterweisung angesehen werden dürften,
die in der mündlichen Belehrung eine Erläuterung aus der Geschichte
des Gottesvolkes erfahren hätten, sollte man doch annehmen
, daß solche Praxis in der schriftlichen Fixierung einen
Niederschlag gefunden hätte.

Nun ergibt ein Vergleich der ethischen Mahnungen und
Weisungen der Proverbien mit den entsprechenden Stoffen im
Gesetz und bei den Propheten weitgehende inhaltliche Ubereinstimmung
5; aber im Blick auf Form und Begründung der Proverbien
ist meist stärkere Verwandtschaft mit der außerisraelitischen
Weisheit festzustellen«. An einzelnen Stellen Schemen
zwar die Weisen auch in der Formulierung eines Spruches vom
Gesetz abhängig zu sein7, man wird aber aus diesen wenigen
Belegstellen keine literarische Abhängigkeit der Proverbien
etwa vom Dcuteronomium oder von Ex. 20 folgern dürfen,
sondern wird vielmehr sagen müssen: Hier werden vielen
Israeliten bekannte und geläufige Rechtssätze von den Weisen
literarisch verwendet8.

Aus diesen Beobachtungen mag man schließen, daß die
israelitische Schulweisheit in starkem Maße aus der Weisheit
des Alten Orients geschöpft hat und den Traditionen ihres
Volkes offenbar ferner stand. Andererseits kann mau freilich
nachweisen, daß die Weisheit Israels auch schon bei diesen
alteren Vertretern ihr spezifisches Gepräge trägt, durch das sie
Mch von der außerisraelitischen Weisheit unterscheidet: sie
kennt nur einen Gott, den sie Jahve nennt, den Schöpfer und
Vergelter, dem man vertrauen kann; und dieser Gott ist heilig
und gerecht. Die ethischen Weisungen stehen daher auch in
euieni Teil der Proverbien- Sammlungen stärker im Vordergrund
der Unterweisung als gemeinhin im Alten Orient, und ihre
Motivierung wird oft mit dem Willen Jahves verbunden; auch
spielt die rein geistige Seite der Frömmigkeit eine stärkere Rolle
als in den meisten Schriften der außerisraelitischen Weisheit.

Vergleicht man mit diesem Bild der Proverbien das Buch

') Zu den Wcisheitspsalmen s. Sp. 148.

') Begriffe wie rnin, ni^73 usw. werden nur in chokmatischem Sinne

verwendet; vgl. BZAw"e2 (1933), S. 82ff.

») Bei Qoh. finden sich nur Anspielungen auf die ^rBe5c' g M|f

«Ine Stellen des AT; vgl. H. W. Hertzberg, ^^uSwto menschliche
37ff. Auch die Bücher Hiob und Qohelet tragen dies alll,eWmm» -~
Gepräge, und Ihre „Kritik" kommt nicht vom Erwählungsgia

•> Vgl. auch z.B. 10,3: Num. 11,31«.; 10,27: Oen.6,1^», ,
Oen. 19.

') Die Stoffe sind aber weithin Oemeingut des AO.

•) Vgl. BZAW 62 (1933), S. 24—35. ,q ,4.

') Prov. 20, 10 von Deut. 25, 13. 14. 16a; Prov. 22, 28 von Deut. 19, 14,
vgl. auch Prov. 25, 18b mit Ex. 20, 16. pr»mrilineen

") Die gesetzliche Mahnung zur Barmherzigkeit an den rremu *
wird von den Prov. nicht aufgenommen!

') Ich greife nur diese beiden Hauptschriften aus der nachkanonischen
jüdischen Weisheit heraus; andere Bücher würden diesen Tatbestand bestätigen
.

') Vgl. 3, 13—19; 4, 1—6; 5, Iff.; 5, 16. 18ff.

3) 2, 24 (Tod durch den „Teufel"); 4, 10 (Henoch).

4) Das geschieht im engen Anschluß an das 1. Kön.-Buch: 7, 7f (1. Kön.
3, 6ff ), 7, 8—10 (3, 11), 7, 11 (3, 13), 7, 20 (5, 13); vgl. auch 8, II (3, 16ff ),
9, 5—8 (3, 7—9). Bezeichnenderweise fällt dabei kein Schatten auf das Bild
Salomos.