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Ausgabe:

1951 Nr. 12

Spalte:

734-735

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Lipgens, Walter

Titel/Untertitel:

Kardinal Johannes Gropper 1503 - 1559 und die Anfänge der katholischen Reform in Deutschland 1951

Rezensent:

Stupperich, Robert

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 12

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Buche ein Bedürfnis nach einer großen deutschen Lebensdarstellung
, die es seit 1828 nicht gegeben hat, geblieben ist.
Es ist durch keins der beiden bald nacheinander erschienenen
Bücher erfüllt, obwohl beide ihre Verdienste haben. Das von
Meissinger, dessen i.Aufl. 1942 beim Gallus-Verlag in Wien
herauskam, verleugnet seinen schriftstellerisch begabten, auch
durch Romane bekannt gewordenen Verfasser, der leider
kürzlich der Wissenschaft entrissen wurde, nicht. Sowohl die
erzählenden Partien wie die Darstellungen der Werke des
Erasmus lesen sich vorzüglich. Die Gestalt wird durch viele,
manchmal allzu breit ausgesponnene Anekdoten lebensvoll
erhellt, die Teilnahme des Lesers durch die oft bekundete Liebe
des Verf.s zu seinem Gegenstand erweckt. Es ist ein persönliches
, aber freilich auch allzu persönliches Buch; das Buch
eines gelehrten Journalisten, keines Historikers. Infolgedessen
kommt am wirksamsten der Journalist Erasmus heraus, über
seinen Stil, seinen publizistischen Blick, die literarischen und
die Buchhandelsverhältnisse seiner Zeit liest man viel Wissenswertes
. Dagegen fehlt der biographischen Erzählung die historische
Strenge. Wenn es dem Verf. aus unerkennbaren Kompositionsgründen
gefällt, greift er weit voraus. John Colet
wird 50 Seiten zu spät vorgestellt, nur weilM. ihn erst an Hand
des Erasmischen Rückblicks in einem Briefe von 1504 behandelt
, statt im Zusammenhang des ersten Englandaufeuthaltes
1499, in dem er für Erasmus bedeutsam wurde. So geht es
öfter (z.B. S. 67/70). Dieses Kleben au den literarischen
Quellen statt einer historischen Verarbeitung wie bei Colet
bestimmt das Buch auch sonst. Eine Reihe reiner, z.T. sehr
langer Paraphrasen Erasmischer Schriften (z.B. des Enkomion
Moriae S. 129—163) stehen als unbehauene Blöcke da und
werden nicht zum Ganzen der geistigen Gestalt zusammengefügt
. Das gilt auch von den Kapiteln, in denen M. als der
bewährte Mitarbeiter der Weimarer Lutherausgabe begreiflicherweise
besonders ausführlich das Verhältnis zu Luther
darstellt. Der Streit um das Frciheitsproblem wird im wesentlichen
wieder in Form einer ausgedehnten, beide Schriften
ineinander verarbeitenden Paraphrase (S. 290—331) abgehandelt
. Eine präzise Gegenüberstellung der beiden Gedankenwelten
kommt nicht zustande. Da M. es liebt, verhältnismäßig
unbedeutende Einzelszenen über Gebühr auszumalen und allgemeine
Erörterungen (z.B. eine Geschichte der Bibelkritik
von 20 Seiten) einzufügen, zerfließt das Buch einem oft unter
den Händen. Mit dem Jahre 1525 bricht die Darstellung nahezu
ab. Die letzten 11 Lebensjahre des Erasmus werden summarisch
in einem „Ausgang" betitelten Kapitel abgehandelt. Zu
den wichtigen Zusammenhängen, die auf diese Weise überhaupt
nicht behandelt werden, gehört vor allem die Tätigkeit
des alten Erasmus für die/ Wiedervereinigung der Kirchen.
Obwohl der Verf. sie für das Bedeutendste und Zukunftvollste
seiner Wirksamkeit erklärt, unterläßt er es, sie darzustellen,
und zwar mit der seltsamen Begründung: „Die Zeit ist dafür
noch nicht reif, und so will es uns nicht ziemen, ihr vorzugreifen
" (S. 236). Trotz all der auf der Hand liegenden Mängel
wird mau das Buch für die menschlichen und literarischen
Züge des Erasmus immer wieder mit Nutzen heranziehen,
ganz besonders auch den ausführlichen und exakten Anmerkungsapparat
, der neben dem Journalisten den Editor M.
glücklich repräsentiert. Besonders sei auf den kritischen Text
und die hübsche Ubersetzung des Gedichtes hingewiesen, mit
dem sich der noch nicht ganz 37 jährige Erasmus De senectutis
incommodis tröstete (S. 115—119, 364—371).

Das Buch von Newald ist in fast allem ein Kontraststück
zu dem von Meissinger. Im Unterschied von dessen sprunghafter
und subjektiver Art berichtet es gleichmäßig und im
historischen Ablauf. Es ist in weit höherem Maße eine wirkliche
Biographie, in der man sich über Lebensdaten und vor
allem über Entstehung und Erscheinen der Schriften des
Erasmus, über Ereignisse und Menschen, mit denen er sich
berührte, Auskunft holen kann. (Eine Kleinigkeit: Herzog
Georg von Sachsen war nicht der Bruder, sondern der Vetter
Friedrichs d. W., S. 162). Aber umgekehrt fehlt ihm auch die
schriftstellerische Frische von M s Buch völlig. Es ermüdet den
Leser von Anfang an, indem es 40 Seiten allgemeiner Reflexionen
über die Bedeutung des E. vorausschickt, die am Schluß,
wo eine Würdigung dringend nötig wäre, fehlen; und zwar Reflexionen
, die oft durch ihre Selbstverständlichkeit verdrießen.
„Eine Beurteilung des Erasmus muß von der Voraussetzung
ausgehen, daß er in einer Ubergangszeit lebte und selbst an
der Formung derneuenZeit einen entscheidenden Anteil hatte"
(S. 12). „Gestalten wie Erasmus und Goethe sind immer
Werdende und immer Reife, die hoch über ihren Zeitgenossen
stehen" (S. 13). Zur Würdigung stehen dem Verf. keine anderen
Mittel als die einer panegyrischen Rhetorik zur Verfugung:
In seiner Methodus habe Erasmus „wie selten ein Mensch seine

Sendung und Aufgabe erkannt" (S. 129); ähnlich an vielen
anderen Stellen. Die Besprechung der Schriften besteht in
langen Referaten mit kurzen, trockenen Sätzen, zumeist in
indirekter Rede, die von dem Geist der erasmischen Schrift-
stellerei, etwa gar dem Charme des Enkomion Moriae, nichts
ahnen lassen. Erst recht erscheint nirgendwo ein Gebiet seines
Denkens in seiner Ganzheit, weder seine Philosophie noch
Theologie, noch seine Hermeneutik (mit ihrer höchst problematischen
Neigung zur Allegorese) oder etwa seine exegetische
Leistung in den Annotationen zu seiner Ausgabe des NT. Das
Verhältnis zu Hutten ist unzureichend dargestellt und nur mit
den Augen des Erasmus gesehen. Und beim Streit mit Luther
macht N. auch nicht den leisesten Versuch, die beiden Positionen
, gleichgültig wie er sie beurteilt, in ihrer inneren Geschlossenheit
zu entfalten oder gar das geistesgeschichtliche
Gewicht der großen Auseinandersetzung zu ermessen. Das
Buch ist im Stil einer rein deskriptiven, von Schrift zu Schrift
schreitenden Literaturgeschichte geschrieben, so daß die historische
Wirkung etwa des alten Erasmus in den dreißiger Jahren
kaum, seine Bedeutung für die Bemühung um die Wiedervereinigung
der Christenheit überhaupt nicht in die Erscheinung
tritt. So bietet N. zwar die biographischen Fakten und das
literargeschichtliche Material, durch Quellenhinweise belegt,
vollständiger als in jeder anderen deutschen Darstellung. Aber
im übrigen illustriert sein Buch ebenso wie das von Meissinger
nur die Unentbehrlichkeit von Huizingas knapperem Umriß —
und das Fehlen einer wirklich zureichenden Erasmus-Biographie
, für die bisher in Deutschland seit dem verheißungsvollen
Beginn durch das Buch des im ersten Weltkrieg gefallenen
Paul Mestwerdt, Die Anfänge des Erasmus (1917) und
seiner Weiterführung von Otto Schottenloher, Erasmus im
Ringen um die humanistische Bildungsform (1933) noch nichts
Wesentliches wieder geschehen ist.

Heidelberg Heinrich Bornkamm

Llpgens, Walter: Kardinal Johannes Gropper 1503—1559 und die Anfänge
der katholischen Reform In Deutschland. Münster/W.: Aschendorff
1951. X, 259 S., 1 Titelb. gr. 8° = Reformationsgeschichtliche Studien und
Texte. Begr. v. t Jos. Greving, hrsg. v. Wilhelm Neuß. H. 75. Kart.
DM 14.— ; geb. DM 16.—.

Die reformationsgeschichtliche Forschung der letzten
zweieinhalb Jahrzehnte hat sich auch mit den Trägern der
katholischen Reform dieses Zeitalters stärker beschäftigt und
hat auf Johannes Gropper als einen der wichtigsten Vertreter
dieser Richtung wiederholt in verschiedenen Zusammenhängen
hingewiesen. Zahlreiche Vorarbeiten ergaben die günstige
Lage, eine zusammenfassende Darstellung der inneren Entwicklung
und des kirchlichen Wirkens dieses Mannes zu geben.
Dieser Aufgabe hat sich der Verf. in seiner vorliegenden Erstlingsschrift
mit einigem Geschick unterzogen. Dabei sind ihm
insbesondere die von Schmitz-Kallenberg gesammelten Briefe
Groppers zustatten gekommen, die zwar weniger die zentralen
Probleme berühren, aber doch ein deutlicheres Bild von der
Persönlichkeit Groppers zu geben ermöglichen. Im Unterschied
zur bisherigen Forschung behauptet der Verf., daß
Gropper vor 1536 die erasmischen Einflüsse abgestreift und
sich als bewußt katholischer Theologe betätigt habe, der er
zeitlebens geblieben sei. Eine spätere innere Wendung, die bisher
um 1542 angenommen wurde, erübrigt sich dabei. Freilich
ist Groppers Weg vom Humanisten zum Kirchenmann und
Theologen nicht so einfach nachzuzeichnen. Seine Beschäftigung
mit den das Zeitalter bewegenden Fragen wird vom
Verf. mehr postuliert, als daß ein Nachweis dafür erbracht
wird. Die wichtigen Auseinandersetzungen der vierziger Jahre
werden weitgehend beiseite gelassen.

Aus Groppers Enchiridion, das 1538 veröffentlicht worden
war, versucht der Verf. durch eingehende Analyse einzelner
Glaubensartikel eine Begründung seiner These zu erbringen.
Groppers Gesamtauffassung ist nicht so einheitlich, wie er sie
darstellt. Die Fragestellung, auf die er in seiner Rechtfertigungslehre
einzugehen sich genötigt sieht, beehiflußt ihn
nicht unerheblich. Kommt in anderen Lehrstücken der tho-
mistische Charakter des Enchiridions stärker zum Ausdruck,
in der Auffassung von der Rechtfertigung entfernt sich Gropper
von der kirchlichen Grundlinie beträchtlich. Sonst wäre
dieses Stück auch nicht zensuriert worden. Es handelt sich
bei ihm um einen der dogmatischen Ausgleichsversuche jener
Zeit. Die Lehre von der doppelten Gerechtigkeit, deren altkirchlichen
Charakter der Verf. betont, sollte erst recht den
Ausgleich ermöglichen. Die im Gegensatz zur bisherigen Auffassung
entwickelten Ansichten befriedigen nicht. Die Einflüsse
, die auf Gropper eingewirkt haben, werden im einzelnen