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Ausgabe:

1951 Nr. 12

Spalte:

717-722

Autor/Hrsg.:

Feine, Hans Erich

Titel/Untertitel:

Zum Recht des Codex Iuris Canonici von 1917 1951

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717 Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 12 718

Zum Recht des Codex Iuris Canonici von 1917

Von Hans Erich Feine, Tübingen

Die katholische Kirchenrechtswissenschaft hat seit dem
Inkrafttreten des Codex Iuris Canonici (im folg.: CIC) i. J. 1918
eine bedeutende grundsätzliche Umstellung erfahren. Hatte
sie bis dahin mit einem gewaltigen historischen Quellenstoff
zu arbeiten, der zwar für das Hochmittelalter im Corpus Iuris
Canonici zusammengefaßt war, aber sich im Lauf der Jahrhunderte
, vor allem durch die Trienter Dekrete und spätere
Papst- und Kongregationserlasse kaum mehr übersehbar vermehrt
hatte, so trat nunmehr ein kurzgefaßtes modernes Gesetzbuch
von 2414 abstrakt gefaßten Canones und wenigen
Papsterlassen („documenta") an seine Stelle, die es galt mit
den Mitteln moderner Gesetzesauslegung und wissenschaftlicher
Durchdringung zu beherrschen und in die Praxis einzuführen
, — wenn auch die tiefergreifenden materiellen
Rechtsänderungen bei dem konservativen Charakter des
kanonischen Rechts nicht allzu bedeutend waren. Die gesamten
älteren Rechtsquellen waren zum Rechtsdenkmal,
zum Rechtsaltertum geworden und nur noch zur Auslegung
,,ex veteris iuris auctoritate" (c. 6, 2°) heranzuziehen. Die
großen Lehr- und Handbücher des 19. Jahrhunderts, monumentale
Werke wie die von Hinschius, Scherer, Sägmüller
u.a., hatten nur noch historischen Wert und waren für die
kirchliche Praxis unbrauchbar geworden. Es war eine ähnliche
Umstellung, wie sie für das Zivilrecht des Deutscheu
Reiches mit dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches
i.J. 1900 von der Wissenschaft des gemeinen (römischen)
Rechts zum Recht des BGB notwendig geworden war. übrigens
bleibt beachtenswert, daß auch für das evangelische
Kirchenrecht in Deutschland eine ähnliche Umstellung zur
Zeit im Gange ist: Sie begann mit dem Wegfall des landesherrlichen
Kirchenregiments und den Kirchenverfassungen
der 20 er Jahre, setzte sich mit dem Kirchenkampf im Dritten
Reich fort in der Selbstbesinnung der evangelischen Kirchen
Deutschlands auf ihre geist- und bekenntnismäßigen Ver-
fassungsgrundlageu und kommt heute zum Ausdruck in den
neuen Kirchenordnungen und den sonstigen Ordnungen des
kirchlichen Lebens.

Eine solche Umstellung ist für die Rechtswissenschaft,
die weltliche wie die kirchliche, nicht einfach. Es braucht erfahrungsgemäß
Jahrzehnte, bis ein neuer Rechtsstoff wissenschaftlich
beherrscht und verarbeitet werden kann. Dazu
kommt, daß die letzten Jahrzehnte in Mitteleuropa ruhiger
wissenschaftlicher Arbeit nicht gerade günstig waren. Immerhin
beginnen jetzt die ersten Früchte vertiefter wissenschaftlicher
Arbeit am Kirchenrecht zu reifen, nicht nur in Rom
selbst, in den römischen Periodika (Ina Pontificium seit 1921,
Apollinaris seit 1928 u.a.), in größeren Monographien und in
C,l samtdarstellungen wie dem Ius Canonicum von Weruz-
Vidal u.a., sondern auch diesseits der Alpen, besonders an der
katholischen Universität Löwen (Lehrbuch von Vermeersch-
Creusen und Commentarium Lovaniense in CIC von Van Hove).
In der deutschen Kanouistik stehen die beiden im folgenden
zu besprechenden Werke, jedes in seiner Art, obenan, jedenfalls
das Lehrbuch von Eichmann-Mörsdorf, beides die in Deutschland
wohl am meisten verbreiteten Werke, für das akademische
Studium und die theoretisch-wissenschaftliche Beschäftigung
mit dem Kirchenrecht wie auch für die kirchliche Praxis.
Übrigens ist ein mehrbändiges Kirchenrecht des Innsbrucker
Kirchenrechtslehrers Godehard Jos. Ebers zu erwarten.

Ein grundlegender Unterschied besteht allgemein in Anlage
und Inhalt der Werke vor und nach dem CIC, wie er sich
aus dem veränderten Zustand des Kirchenrechts und der Entwicklung
der Kirchenrechtswissenschaft, aber auch aus den
Studienanorduungen der römischen Kurie für das kanonische
Recht ergibt: Während die älteren Werke regelmäßig Geschichte
und geltendes Recht zusammen darstellten, die Geschichte
meist einleitend für jeden Abschnitt oder jedes kirchliche
Rechtsinstitut, um seine allmähliche Ausgestaltung bis
zum Recht der Gegenwart darzulegen, ist nun eine grundsätzliche
Trennung der geschichtlichen Darstellung von der des geltenden
Rechts eingetreten, im Wissenschaftlichen wie im Vorlesungsbetrieb
und den dazu bestimmten Hilfsmitteln. Nicht
nur die Natur der Sache, sondern auch der Stand der Kirchen-
rechtswissenschaft gab diese Scheidung an die Hand. Die
kirchliche Rechtsgeschichte ist'seit den 90 er Jahren des
19. Jahrhunderts vor allem durch die Arbeit von Ulrich Stutz,
des 1938 verstorbenen Berliner Kirchenrechtslehrers, und
semer Schule zum Rang eines selbständigen historischen

Wissenschaftszweiges erhoben worden, was insbesondere auch
in der 1910 von ihm begründeten Kanonistischen Abteilung
der rechtshistorisch unbestritten führenden Zeitschrift der
Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte zum Ausdruck kam.
Stutz hat auch 1907/14 den ersten, noch heute grundlegenden
Grundriß der kirchlichen Rechtsgeschichte veröffentlicht. An
einer zusammenfassenden größeren Darstellung der Kirchen-
rechtsgeschichte hat es bisher gefehlt. Der römische Kanonist
P. Bertraud Kurtscheid OFM hatte eine solche (lateinische)
Darstellung unternommen, die ihm aus seinen Vorlesungen erwuchs
. Sie ist über den ersten Band (1941), der bis Gratian
(1140) reicht, nicht hinausgekommen. God. Jos. Ebers in
Innsbruck hat 1950 in seinem „Grundriß des katholischen
Kirchenrechts" der knappen Darstellung des geltenden
Kirchenrechts eine relativ ausführliche Darstellung der kirchlichen
Rechtsgeschichte (250 S.) vorausgeschickt. Aus der
Feder des Turiner Kanonisten Alfons Stickler (Salesianer) ist,
ebenfalls 1950, der erste Band einer auf drei Bände berechneten
Historia iuris canonici latini, die sehr eingehende
Historia fontium, erschienen (468 S.), und ich selbst habe im
gleichen Jahr den ersten Band ehier haudbuchartigen Kirchlichen
Rechtsgeschichte veröffentlicht, welche die gesamte
Rechtseutwickluug der katholischen Kirche von den Anfängen
bis zur Gegenwart zur Darstellung bringt (660 S. 4°); ein
zweiter Band für die Kirchen der Reformation und die Ostkirche
soll folgen. Alle diese historischen Werke stehen hier
nicht zur Besprechung.

Die auf der Grundlage des CIC verfaßten Lehrbücher und
Kommentare verzichten in der Regel grundsätzlich auf historische
Einleitungen, im ganzen wie im einzelnen, und bringen
nur das geltende Kirchenrecht zur Darstellung. Sie haben auch
in ihrem Aufbau die überkommene Gliederung verlassen und
richten sich inhaltlich nach dem Schema des CIC selbst, wie es
die kuriale Studienanordnung vorschreibt, wobei der Kommentar
naturgemäß eng an die Canones des CIC gebunden
bleibt, während das Lehrbuch sich in den Einzelheiten freier
bewegen kann und muß.

Das nunmehr dreibändige Werk von Eichmann-Mörsdorf1
hat schon seit Jahren seinen festen Platz in der Wissenschaft
wie im akademischen Unterricht. Es darf mit Fug als
das führende Lehrbuch in deutscher Sprache bezeichnet werden
. Es berücksichtigt auch das deutsche kirchliche Sonderrecht
und das deutsche Staatskirchenrecht. Zunächst 1923 in
einem Band erschienen, wuchs es bis zur 475. Auflage 1934 zu
zwei stattlichen Bänden heran, wurde auch ins Spanische
übersetzt und war in Deutschland bis zu der jetzt vorliegenden
durchgreifenden Neubearbeitung seit Jahren vergriffen. Sem
Verfasser, der hochangesehene Münchener Kanonist Eduard
Eichmann, hat die Neubearbeitung des ersten Bandes durch
seinen Schüler Klaus Mörsdorf, dem er sie übertragen hatte,
noch selbst überwachen können, ist aber am 26. April 1945 auf
Schloß Fürstenried bei München im 76. Lebensjahr verschieden
. Seine Lebensarbeit war in gleicher Weise der Rechtsgeschichte
wie der Kirchenrechtsdogmatik gewidmet. Als
Siebzigjähriger konnte er sein Hauptwerk, eine umfassende
und tiefdringende Darstellung der Kaiserkrönung im Mittelalter
in zwei prachtvollen Bänden vorlegen (1942). Eine Darstellung
der Papstkrönung sollte das Gegenstück dazu bilden;
das Manuskript ist noch zu einem großen Teil vollendet worden
. Seit dem Erscheinen des CIC hatte er sich zugleich der
Dogmatik des geltenden Rechts zugewandt und in monographischer
Form erstmalig das Straf- und das Prozeßrecht
des CIC behandelt. Dann erschien sein Lehrbuch (1923), das
bald einen führenden Platz gewann und nun in der Neubearbeitung
noch sicherer behaupten dürfte. Sie hat die Zerlegung
in drei Bände gebracht, wobei insbesondere der zweite
und dritte Band, bisher zusammen der zweite, eine erhebliche
Erweiterung und Vertiefung erfahren haben. Klaus Mörsdorf,
der Schüler und Nachfolger Eichmanns auf seinem Münchener
Lehrstuhl, seit 1947 zugleich Direktor des neugeschaffenen

') [Eichmann-Mörsdorf:] Lehrbuch des Kirchenrechts auf

GrunddesCodexJuris Canonici. Begründet von Prof. Eduard Eichmann, neu
bearb. von Prof. Klaus Mörsdorf. 6., völlig veränd. Aufl. I. Bd.: Einleitung,
Allgemeiner Teil und Personenrecht. 528 S. DM 14.—, Hlw. DM 18.—. II. Bd.:
Sachenrecht. 504 S. Lw. DM 18.—. III. Bd.: Prozeß- und Straf recht. 504 S.
Lw. DM 18.—. Paderborn: Schöningh 1949 11. 1950. gr. 8° - Wiss. Handbibliothek
, eine Sammig. theolog. Lehrbücher.