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Ausgabe:

1951 Nr. 11

Spalte:

683-686

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Preisker, Herbert

Titel/Untertitel:

Das Ethos des Urchristentums 1951

Rezensent:

Eisenhuth, Heinz Erich

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 11

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mehr als eine Diskussion dieser und anderer Thesen über den
Prozeß Jesu, nämlich einen Versuch der „Rekonstruktion der
wesentlichen Prozeßvorgänge" von der Verhaftung Jesu bis
zur Kreuzigung, also eine Auslegung von Mk. 14, 43—15, 41
und Parallelen (S. 22—130). Da das Buch auch mit nichttheologischen
Lesern rechnet, sind fachwissenschaftliche Einzelfragen
in zwölf Exkurse am Schluß verwiesen (S. 131 bis 164).

Das Buch wird dem breiteren Leserkreise den Dienst vollauf
tun, den es ihm leisten will. Auch der Pfarrer, der sich die
Passionstexte durch eine nüchterne, jeder billigen Erbaulichkeit
abholde, historische Darstellung neu nahebringen lassen
will, wird die Lektüre nicht bereuen.

Darüber hinaus hat die Untersuchung jedoch durchaus
fachwissenschaftliche Bedeutung. Gewiß neigt der Verf., obwohl
er keineswegs unkritisch ist, im ganzen zu einer harmonisierenden
Benutzung der Evangelientexte, gewiß schöpft er
teilweise aus zweiter Hand. Aber schon der erstaunliche Umfang
der benutzten Literatur macht die Arbeit zum wissenschaftlichen
Instrument: sie ist in dieser Hinsicht eine Fundgrube
; auch die umfangreiche ausländische Literatur zum
Thema ist, soviel ich sehe, vollständig erfaßt, und auch ganz
Entlegenes ist aufgespürt. Für die Geschichte der Debatte der
zahlreichen mit dem Prozeß Jesu zusammenhängenden Fragen
hat die Arbeit als Materialdarbietung ihresgleichen nicht. Darüber
hinaus fesselt die besonnene, sympathisch sachliche und
kenntnisreiche Darstellung und Diskussion auch den, der mit
den Problemen vertraut ist, in wachsendem Maße. Wieviel
Interessantes sie bietet, sei an Hand einiger Beispiele aufgezeigt.

Mk. 14, 53ff.: Das den Angeklagten in übertriebenerweise begünstigende
Kapitalprozeßrecht der Mischna darf zur Kritik des Berichtes über die Verhandlung
vor dem Synedrium nicht herangezogen werden, weil dieses Ende
des 2. Jahrhunderts kodifizierte pharisäische Recht nie praktische Geltung
besessen hat (mit H. Danby gegen J. Abrahams). Das gilt insbesondere für
das Verbot der Verhandlung von Kapitalprozessen bei Nacht, für die Vorschrift
, daß das Todesurteil erst am Tag nach der ersten Verhandlung gefällt
werden darf, für die Beschränkung der Gotteslästerung auf das Aussprechen
des Gottesnamens usw. (S. 143—149). — Mk. 14, 55: Das nächtliche Verfahren
war u.a. deshalb nötig, weil die römischen Gerichtsverhandlungen gewöhnlich
gleich nach Sonnenaufgang begannen (Seneca, de ira 2, 7, 3) (S. 69). — Mk. 15,
6: Es handelt sich bei der Osteramnestie um eine abolitio (Entlassung eines
noch nicht verurteilten Gefangenen), nicht um eine indulgentia (Begnadigung
eines Verurteilten); vgl. 15,9 (Jesus ist noch nicht verurteilt) und die Bezeichnung
des Barabbas als Gefangenen. Auch der Umstand, daß Todesurteile
im allgemeinen sofort vollstreckt wurden, spricht für abolitio (S. 85). — Mk.
15, 9: Das Eintreten des Pilatus für Jesus setzt voraus, daß Joh. 18, 33—38;
19, 8—11 nicht dem Wortlaut, aber der Sache nach gegen Mk. 15, 5 (Schweigen
Jesu) recht hat (S. 76). — Mk. 15, 11: Für die Haltung des Volkes gegenüber
Jesus ist entscheidend die Tatsache der Verurteilung Jesu durch das Synedrium
; die Ehrfurcht der Menge vor dem Gesetz und seinen legitimen Hütern
schloß ein Eintreten für Jesus aus (S. 87f.). — Mk. 15, 15: Nach römischer
Praxis geht der Kreuzigung immer Geißelung voraus (S. 159); im Gegensatz
zum jüdischen Recht kennt die römische Geißelung kein Höchstmaß der
Schläge (S. 92). — Mk. 15, 17—19: Jesus ist sitzend zu denken: der König
thront bei der Huldigung (S. 94). — Mk. 15, 24: rä Ifiälta = Ober- und Untergewand
, Gürtel, Sandalen, vielleicht Kopfbinde (S. 111). — Mk. 15,25: Der
Widerspruch zwischen Mk. 15, 25 und Joh. 19, 14 über die Stunde der Kreuzigung
(Mk.: 9 Uhr, Joh.: 12 Uhr) ist entgegen der allgemeinen Auffassung
zugunsten des Joh. zu entscheiden. Gegen Mk. spricht: das künstlich wirkende
Drei-Stunden-Schema (14,68; 15,1.25.33.34.42) und vor allem die Beobachtung
, daß der (bei Mt. und Lk. fehlende) Vers 25 als Nachtrag wirkt
(Tempuswechsel usw.). Für Joh. spricht entscheidend, daß die Zeitangabe
Mk. 15, 33 auf diese Weise erst sinnvoll wird: die Sonnenfinsternis von 12 bis
3 Uhr währt die ganze Zeit über, während der Jesus am Kreuze hängt (S. 160
bis 164). — Mt. 27, 19: Wir haben zufällig drei Belege dafür, daß das von
Augustus erlassene Verbot, das den Statthaltern die Mitnahme ihrer Frauen
in die Provinzen untersagte, unter Tiberius nicht mehr durchgeführt wurde
(S. 90f.). — Lk. 23, 6ff.: Für die Geschichtlichkeit der Überweisung Jesu an
Merodes Antlpas spricht, daß dem Abschnitt jede antijüdische Tendenz fehlt:
Merodes Antipas trägt keine Verantwortung für Jesu Tod. Wäre der Bericht
auf Grund von Ps. 2, 1 f. erfunden worden, so wäre Antipas als belastet geschildert
worden (vgl. Apg. 4, 25—28) (S. 82). — Lk. 23, 7. 12: Offenbar liegt
Pilatus an der Aussöhnung mit Antipas, weil dieser bei Tiberius persona
gratissima war (Josefus Ant. 18, 2, 3) (S. 82).

Göttingen Joachim Jeremias

Preisker, Herbert: Das Ethos des Urchristentums. 2., verb. u. erw.

Aufl. Gütersloh: Bertelsmann 1949. 264 S. gr. 8°. Kart. DM13.—; Hlw.
DM 15.—.

Es sind drei Einzelaufgaben, die sich Preisker bei der Darstellung
des urchristlichen Ethos stellt: i) Als Ausgangspunkt
soll die einheitliche Linie innerhalb der urchristlichen Ethik
herausgearbeitet werden. Hierbei verbindet Preisker die historisch
kritische Methode, die ihm das historische Jesusbild erschließen
soll, mit der Methode des gläubigen Hörens auf den

Zeugnischarakter der Evangelien und der übrigen urchristlichen
Urkunden, und gelangt dadurch zu einer inneren Übereinstimmung
zwischen Jesus und Christus. 2) Dann werden
die Abschattungen und Verschiedenheiten innerhalb dieser
einheitlichen Grundhaltung aufgewiesen. 3) Die Wesenseigenart
der urchristlichen Ethik wird in ständigem Vergleich mit
dem spätjüdischen und hellenistisch-römischen Heidentum gewonnen
, so daß die religionsgeschichtliche Methode in den
Dienst der spezifisch theologischen Aufgaben gestellt wird.

I. Die Ethik des Urchristentums ist ihrem Wesen nach durch die escha-
tologische Reichs-Gottes-Erwartung begründet und ausgerichtet. Diese Erwartung
ist im Neuen Testament dreifach ausgezeichnet: 1. Die Herrschaft
Gottes wird nicht nur erwartet, sondern sie ist bereits schon gegenwärtig.
2. Sie ist in Christus einmaliges geschichtliches Ereignis geworden. 3. Sie ist
schon jetzt oberstes Motiv des Handelns in der Gewißheit des vorhandenen
Geistbesitzes (21). Das kommende Reich Gottes hat schon seinen Anfang genommen
und ist selber zur Dynamik für die Ethik geworden.

Die Beweggründe für die Ethik sind in der Stoa und im Judentum sehr
mannigfaltig und uneinheitlich. Neben dem echt religiös-eschatologischen
Motiv, orientiert am Gesetz Gottes, treten auch im Judentum viele Nützlichkeitserwägungen
für das sittliche Handeln hinzu. Bei Jesus geht es dagegen
allein um den Gehorsam gegen Gottes Herrschaft. Freude und Dank sind
die tragenden Kräfte dieses Gehorsams, in den das hereinbrechende Gottesreich
den Menschen selber hineinreißt. Preisker bezeichnet daher dieses Ethos
als das Ethos der eschatologischen Gewißheit und des eschatologischen Besitzes
und nennt es das Telos-Ethos. Er will damit ausdrücken, daß die Ethik
nicht nur von der Hoffnung, sondern auch von dem Besitze lebt. „So ist die
Tatsächlichkeit der Herrschaft Gottes, die als gegenwärtig doch zukünftig ist,
die einzige Begründung für die ethische Haltung des Urchristentums" (44).

Die Ethik Jesu kennt zwar auch Einzelforderungen, aber sie enthält keine
Kasuistik. Die Weisungen dürfen nicht verallgemeinert werden, zumal sie sich
zum Teil widersprechen, z. B. bei der Frage nach dem Reichtum; sie sind nur
Beispiele für das neue Leben. Der Radikalismus in diesen Forderungen bringt
zum Ausdruck, „daß dieses Ethos aus der Unbegreiflichkeit und Größe der
Liebe Gottes mit ihrem eschatologischen Endzielwillen herrührt" (55). Zwar
sollen die Forderungen der Bergpredigt erfüllt werden. Aber dies ist vom
Menschen aus unmöglich. Ihre Erfüllung ist ein unbegreifliches Geschehen von
Gott her und stellt den Menschen in das Wirklichwerden des Reiches Gottes
hinein (58). Allerdings unterscheidet Preisker von diesen Forderungen Jesu
jene Weisheitsvorschriften, mit denen sich der Herr an die große Masse wendet.
Wie die apostolischen Einzelanweisungen und Tugendkataloge wollen auch sie
bezeugen, daß das Urchristentum die menschliche Ethik in das Reich Gottes
miteingeschlossen hat. Die höchsten Forderungen gelten dagegen nur denen,
die dazu berufen sind.

Aus der einheitlichen Begründung der urchristlichen Ethik folgt nun
auch die Einheitlichkeit des Handelns. Gegenüber aller Kasuistik, wie sie in
der Umweltethik herrschend ist, kommt es hier nur auf die Liebe an.

Sie ist in einer Persönlichkeit als der Offenbarung des Reiches Gottes
verkörpert und läßt das gesamte menschliche Handeln nur von ihr aus als
sittlich verstehen. Auch wenn Jesus daneben noch von der Gerechtigkeit
spricht und eine bessere Gerechtigkeit fordert, so ist diese doch nichts anderes,
als „das Konkretwerden der mit Liebe bezeichneten Haltung" (79).

Von diesem eschatologischen Telosglauben sieht Preisker auch die sittlichen
Einzelforderungen des Neuen Testaments bestimmt. Das sittliche Verhältnis
zur Welt ist durch Weltferne und Weltnähe umschreibbar. Die vom
Reich Gottes Erlösten sind in das Reich Gottes innerhalb der Welt hineingestellt
, um in ihr erlösend zu wirken (118). Der Christ nimmt also zur Welt und
ihren Gütern wie Staat, Obrigkeit, Ehe, Familie, Besitz u. a. nicht eine indifferente
Haltung ein, auch nicht die einer unkritischen Weltbejahung. Die
Welt und ihre Güter werden von ihrem eschatologischen Gesetztsein her beurteilt
. Wenn sie dämonischen Gewalten dienen, werden sie verneint. Wenn sie
dagegen von dem hereinbrechenden Gottesreich bestimmt sind, stehen sie in
einer zeitbegrenzten Verwirklichung des göttlichen Willens und haben darum
Recht, Weihe und Würde (94). Der Staat ist als Ordnung aufs Ende hin gesetzt
. Deshalb muß der Ungehorsame an ihm zerschellen (88). Auch wenn sich
der Staat feindlich gegen die Christen stellt, so ändert sich dadurch nicht seine
Endzeitbestimmung. Als Waffe gegen den bösen Staat hat der Christ nicht das
Recht der Revolution, sondern nur die Waffe des Gebets (93).

Der eschatologische Grundansatz wandelt notwendig auch inhaltlich die
anderen übernommenen sittlichen Begriffe urrd Tugenden. Der Zentralpunkt,
die Liebe, ist z. B. nicht eine menschliche Eigenschaft neben anderen, sondern
ist schlechthin die neue Art des Menschen der Gottesherrschaft; denn „Reich
Gottes ist die dynamische Offenbarung des Liebeswillens Gottes" (118). Durch
die Endzeitbestimmtheit der Liebe bekommt die gesamte urchristliche Ethik
ihre besondere Eigenart (148). Auch Reinheit und Vollkommenheit sind nur
von der Begnadung Gottes aus möglich. Die Gnade setzt den guten Anfang
und bringt am Ende alles zur Erfüllung (137). Wenn im Urchristentum dennoch
von einzelnen Tugenden gesprochen wird, wie z. B. von Weisheit, so sind diese
immer nur von dem eschatologischen Grundansatz her zu verstehen. Deshalb ist
auch an die Stelle der einen Kardinaltugend der Stoa, der Tapferkeit, das
Kreuztragen und die Selbstverleugnung getreten; denn es geht um die Kraft,
die in dem Schwachen mächtig ist.

Die urchristliche Ethik enthält keine Sozialethik. Sie wendet sich an den
Einzelnen, ohne jedoch nur Ihn allein zu meinen. Es geht um das Reich Gottes