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Ausgabe:

1951

Spalte:

641-658

Autor/Hrsg.:

Jentsch, Werner

Titel/Untertitel:

Verstehen und Verständlichmachen 1951

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JH&onatsfd&nft für gefamte bebtet Der Cijeologte unH HeltötonsäJiffenfdjaft

Begründet von Emil Schürer und Adolf von Harnack
Unter Mitwirkung von Professor D. Ernst Sommerlath, Leipzig
HERAUSGEGEBEN VON PROFESSOR D. KURT ALAND, HALLE-BERLIN

NUMMER 11

Spalte

Verstehen und Verständlichmachen.

Hermeneutische Erwägungen zur Kateche-

tik. Von Werner Jentsch ............. 641

Zu Gal.5,1. Von Karl Heinrich Rengstorf 659

Eine echt hellenistische Grabschrift.

Von E. Lauch ....................... 661

Der gegenwärtige Stand der Erforschung
der in Palästina neu gefundenen hebräischen
Handschriften.

19. Zur Fruhdatlerung des Habakuk-
mldrasch. Von Ethelbcrt Stauffer..... 667

Allgeier: Die neue Psalnienübersetzung (R.

Meyer)............................... 682

Altaner: Patrologie. 2. Aufl. (Eltester)---- 687

76. JAHRGANG

Spalte

Blinzler: Der Prozeß Jesu (Jeremias) ---- 682

OraySton u. Ackroyd: Africa(Rosenkranz) 692
Hauck: Theologisches Fremdwörterbuch

(Melzer)............................... 678

Jahrbuch des Martin Luther-Bundes 1947

bis 1950 (Heinzelmann)................ 677

Katz: Philo's Bible (Johannessohn)....... 679

[Meise r-FestschriftJ: Festgabe Herrn Landesbischof
D. Hans Meiser zum 70. Geburtstag

dargebracht (Schornbaum).............. 675

Newbigin: A South India diary (Rosenkranz) 692
Preisker: Das Ethos des Urchristentums.

2. Aufl. (Eisenhuth) ................... 683

Schilling: Hospitäler der Franziskaner in
Miyako (1594—1597) (Rosenkranz)...... 692

NOVEMBER 1951

Spalte

Siegmund: Die Überlieferung der griechischen
christlichen Literatur (Irmscher) .. 690

Widmann: Bibliographien zum deutschen
Schrifttum der Jahre 1939—1950 (Steln-
b»rn)................................ 673

Wolfson: Philo. I u. II. 2. Aufl. (Schoeps). 680

Von Personen:

Zum 70. Geburtstag von Albrecht Oepke.. 693
Bibliographie Albrecht Oepke........... 693

Berichte und Mitteilungen:

Internationale Arbeitsgemeinschaft für

Religionswissenschaft (Frick)........... 697

Der Istanbuler Orientalistenkongrcß und

das Alte Testament (Rowley)........... G99

Zum vorliegenden Heft............... 703

Verstehen und Verstandlichmachen

Hermeneutische Erwägungen zur Katechetik

Von Werner Jentsch, Kassel

I. Das Verstellen

Nachdem Schleiermacher1 und später Dilthey2 der Hermeneutik
mit kaum wieder erreichter Meisterschaft die Wege
gewiesen hatten, ist in den letzten drei Jahrzehnten das „Verstehen
" Gegenstand vor allem zweier Wissenschaftsgebiete
geworden, der allgemeinen Geisteswissenschaft und der Theologie
. Streckenweise haben beide gemeinsame Aussagen gemacht
, streckenweise haben sie Bich scharf voneinander abgegrenzt
. Jedenfalls hat die theologische Hermeneutik in
jüngster Zeit größten Wert auf ihre Eigengesetzlichkeit gelegt.
Es wird gut sein, wenn wir uns wenigstens mit einigen Strichen
die beiden Konzeptionen des Verstehens vergegenwärtigen.

Als führender Theoretiker des geisteswissenschaftlichen Verstehens
hat sich der früher In Leipzig, jetzt in Chicago (USA) lehrende Reli-
gionswissenschaftler Joachim Wach ausgewiesen3. An seine historisch fundierten
und sorgfältig abgewogenen Bestimmungen dürfen sich die folgenden,
das weltliche Verstehen betreffenden Gedanken weitgehend anlehnen. Der
hermeneutische Prozeß läßt sich an zwei Polen deutlich machen: Verstehen
im wissenschaftlichen Sinne gibt es nur bei existentieller Anteilnahme des Verstehenden
und bei unbedingter Sachlichkeit gegenüber dem zu Verstellenden.
Wenn es nicht schon wieder Anlaß zu Mißverständnissen geben würde, könnte
man sagen: zum Verstehen gehören echte Subjektivität und Wille zur Objektivität
. Wach ist nicht müde geworden, die persönliche Beteiligtheit des Verstehenden
zu fordern. Man muß nach ihm zwar nicht „Cäsar sein, um Cäsar
zu verstehen"4, aber er erwartet Interesse am Gegenstand, z. B. bei der Reli-

') Vgl. vor allem die Akademiereden über Hermeneutik (Sämtl. Werke,
Hl. Abt., 3. Bd., 344ff.) und die kurze Wesensbestimmung der Hermeneutik
in WW I, I, §148: „Keine Schrift kann vollständig verstanden werden, als
nur Im Zusammenhang mit dem gesamten Umfang von Vorstellungen, aus
welchen sie hervorgegangen ist, und vermittels der Kenntnis aller Lebens-
bczielumgen, sowohl der Schriftsteller als derjenigen, für welche sie schrieben.
Denn jede Schrift verhält sich zu dem Gesamtleben, wovon sie ein Teil ist,
wie ein einzelner Satz zu der ganzen Rede der Schrift."

2) Am besten orientiert neben vielen anderen Äußerungen: Die Entstehung
der Hermeneutik, Ges. Schriften, V, 317—331.

3) J. Wach, Religionswissenschaft, 1924 (vor allem Kap. IV); ders., Das
Verstehen, Grundzüge einer Geschichte der hermeneutischen Theorie im
19. Jahrhundert, 1(1926), 11(1929), 111(1933); ders., „Verstehen" in RGG2 V,
1570 ff.

*) Religionswissenschaft, a. a. O. 153 im Anschluß an M. Weber.

Albrecht Oepke zum siebzigsten Geburtstag
gionswissenschaft. „Ohne persönliches Verhältnis zum Objekt wird kein Religionsforscher
Großes im Verstellen und Deuten leisten"1. Eine innere Verwandtschaft
zur Sache, eine Affinität zwischen Forscher und Objekt ist Ur-
bedingung für das Gelingen des Verstehens. Man kann das hier Gewünschte
„Sehnsucht"2, „Sympathie", „Liebe"8 nennen, in jedem Falle soll mit diesen
Begriffen die Gleichgültigkeit des Interpreten bekämpft und seine Hingabe
an die Wahrheit hervorgerufen werden. Mag man gegenüber den metaphysischen
Erwägungen4, ob hier nicht eine letzte Teilhabe des Verstehenden am
Verstandenen infolge Wesensgemeinschaft zugrunde liege, seine Vorbehalte
machen, eine Sonette Rilkes, einen Dialog Piatos, einen vedlschen Text wird
man — man sei Christ oder Heide — nicht besser auslegen können als unter
solchen Voraussetzungen. Das Oleiche gilt für das Postulat einer „relativen
Objektivität", das J.Wach erhebt5. Es muß nicht dem Postulat der persönlichen
Anteilnahme am zu verstehenden Stoff widersprechen. Im Gegenteil,
wer eine Sache wirklich liebt, wird ihr gerecht werden wollen. Es handelt sich
also hier um einander korrespondierende Notwendigkeiten. Wach kennt die
Gefahr der Sympathie — Liebe macht auch blind* —, deshalb grenzt er mit
Recht das „Verstehen" scharf vom „Deuten" ab. Wer einen Text deutet,
betrachtet und erklärt ihn aus einem gegebenen „System", in das er ihn nun so
oder so einordnet. Kanu sich die „Deutung" also keineswegs von einer Belastung
durch subjektive Voraussetzungen freisprechen —■ sie gehören hier
sozusagen zum Wesen der Sache — so hat das „Verstehen", obwohl nicht
total gegen solche Möglichkeiten gefeit, doch eine bemerkenswert andere
Struktur: „Verstehen im Gegensatz zum Deuten ist dadurch charakterisiert,
daß auf Grund des Wissens um die Bedingtheit versucht wird, sie zu überwinden
, zu neutralisieren jedenfalls . . ."' Ein voraussetzungsloses Verstehen
ist also eine Utopie. Niemand kann Selbstmord vollziehen, um besser verstehen
zu können8. Es ist aber andererseits nicht nur wissenschaftlich geboten,
sondern auch bis zu einem gewissen Grade faktisch möglich, bestimmte Subjektivitäten
methodisch zu eliminieren, um ein relativ historisch zuverlässiges

') a. a. O. 150.

2) So in Wach, Religionswissenschaft, a. a. O.

3) So in Wach, Das Verstehen II, 74f.

4) Vgl. hierzu RGG2 V, 1571.
*) Das Verstehen II, 11.
') Religionswissenschaft, a. a. O. 148.
') J. Wach, Das Verstellen, a. a. O. II, 9f.

8) A. Oepke, Geschichtliche und übergeschichtliche Schrlftausleguug
(I.Aufl. 1931; 2.Aufl. 1947), fragt mit Recht: „Oder wer wird das Objektiv
der Kamera zerbrechen wollen, um der .Objektivität' willen?" (S. 16).

841 642

UrB.TÜß.