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Ausgabe:

1951

Spalte:

620-621

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Hahn, Karl Josef

Titel/Untertitel:

Rainer Maria Rilke 1951

Rezensent:

Knevels, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitimg 1951 Nr. 10

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hardt nicht gedeckt und ist heute unhaltbar. Einige berechtigte
, harte Urteile des Verf.s über deutsches Versagen und
deutsche Sünden würden mehr überzeugend wirken, wenn
solche Fehlurteile ausgemerzt würden.

Als Mangel des Buches finde ich auch die Tatsache, daß
nicht wenige Dichter von Rang, besonders Norddeutsche,
überhaupt nicht erscheinen: Klaus Groth, Fontane, Storni
und Raabe; auch außer der Droste keine einzige Frau, weder
Lulu v. Strauß und Torney noch Ricarda Huch, weder Ina
Seidel noch Selma Lagerlöf. Und wenn schon so ausführlich
und häufig von Schriftstellern und Literaten die Rede ist,
warum kein Wort über die großen wissenschaftlichen Schriftsteller
, die in ihrer Art auch Meister der Sprache waren:
Ranke und Mommsen, Jacob Burckhardt und Friedrich Meinecke
, Schopenhauer und Max Planck. Auch die großen Briefschreiber
durften zu Worte kommen, da sie in ihrer Art Künstler
von Rang sind: Luther, Goethe und Bismarck. Von Luther
wird freilich gelegentlich gesagt: wenn er nicht Reformator
geworden wäre, hätte er den deutschen Shakespeare abgeben
können!

Ich schließe mit einigen Proben, die den Stil und die
Denkart des Buches veranschaulichen.

„Diese Zauberkunst übergießt allerdings das primitive Leben mit
einem Schimmer von großartiger Poesie. Afrikanische Neger wecken ihre
Boote vor der Ausfahrt mit Liedern und Trommelwirbeln und singen sie nach
der Heimkehr wieder in Schlaf. Sie besprechen den Acker vor der Aussaat, die
frischgemolkene Milch, das neugeborene Kind, die aufgehenden Gestirne, die
herannahenden Feinde und Gewitterwolken, und ähnlich wird es schon vor
Zeiten gewesen sein. Aber der poetische Schimmer dieses Daseins ist eine sentimentale
Illusion. In Wahrheit herrscht in ihm panische Angst vor den allgegenwärtigen
Dämonen. Es gibt hier keine Freiheit, keine Schönheit, keine Kunst
In höherem Sinn, nur die Wahngebilde der triebhaften, unerlösten Sinnlichkeit
. Die Zauberpoesie bleibt in diesen Fesseln gefangen" (Die Zauberer, S. 13).

„Hölderlins lange Wahnsinnsjahre sind die notwendige zweite Hälfte
seiner ,Irrbahn', er kann nur als tragische Erscheinung verstanden werden.
Sein Untergang besitzt keine erlösende Kraft, ein Irrer kann kein Heiland sein.
Nichts ist verfehlter als der Versuch, seine Niederlage in einen Triumph umzudeuten
. Der Hölderlinkult unserer Zeit beruht weitgeilend auf diesem Versuch
. Er behandelt Hölderlin als einen wiedergekommenen antiken Seher, als
Erneuerer des Mythos und Verkünder echter, d. h. für ihn wirklich existierender
Götter. Wer Hölderlins Größe und Grenze erkennen will, muß ihn mit dem
einzigen wirklichen Antipoden des ästhetischen Sehertums in der Goethezeit
vergleichen: mit Pestalozzi. Dieser Apostel der Liebe wuchs neben Goethe
zu einer weltgeschichtlichen Gestalt empor, weil er in allem den absoluten
Widerspruch zum romantischen Denken verkörperte: den Unglauben gegenüber
der reinen Kunst, die wirkliche, nicht bloß erdichtete Aufopferung für die
leidende Welt, der mit Kunst allein nicht zu helfen war" (Die Seher, S. 70f.).

„Dieser Priesterkaiscr (Stefan George) mit seinem heiligen Sadismus
und seinem betäubenden Parfüm kam aus der französischen Dekadenz und
deutete auf den Geist des Jugendstils. Georges Bücher trieben das blendende
Spiel der französischen Lyrik mit den Motiven des Magier-, Seher-, Priester-
und Sängerwesens auf die Spitze . . . Wer hat die falschen Tempel und hochfahrenden
neuen Religionen gezählt, die in den letzten zwei Menschenaltern
von Deutschen gebaut und gestiftet wurden! Wer nennt die Zarathustra-
söhne, die als geistige Potentaten im Gewölk ihres Größenwahns thronten I
Diese kosmischen Visionäre dachten nicht daran, ihrem Volk zu dienen; sie
wollten bewundert werden und hausten abgesondert jeder auf einem anderen
unzugänglichen Gipfel. Am Ende dieser Priesterreihe stand nicht Schillers
ästhetischer Staat, sondern der blutgetränkte Ordensbetrieb des Dritten
Reiches. Auch er fand noch seine Dichter, die in der Priesterlarve vor dem
Standbild Belials die schwarze Messe zelebrierten" (Die Priester, S. 101 u.103).

„Über den unersättlich nach gigantischen Siegen strebenden Wagner
schrieb Hebbel: Ich sehe den gierigen Mund und das verschlingende Auge des
Mannes. Aber den Gottbegnadeten umspielt die Demut, und wen die Götter
wirklich zu ihrem Gastmahl ziehen, der beugt das Haupt, wie es Goethe gebeugt
hat" (Der Ruhm, S. 434).

Mögen diese Proben dazu dienen, die Leser unserer Zeitschrift
zu reizen, das ganze Buch zu lesen. Möchte uns von dem
Buch bald eine zweite verbesserte Auflage beschert werden!

Hannover-Kleefeld Hermann Schuster

Hajek, Siegfried: Der Mensch und die Welt im Werk Wilhelm Raabes.

Warendorf/W.: J. Schnell 1950. 120 S. 8° = Bd. 4 der Schriftenreihe „Gestalt
u. Werk" hrsg. v. Wilhelm Grenzmann-Bonn. Pp. DM2.80.

Der Welt- und Lebensanschauuug Raabes auf die Spur
zu kommen, ist aus naheliegenden Gründen nicht leicht. Es
ist das Verdienst Hajeks, die starke Entwicklung und Veränderung
Raabes an seinen Werken aufzuzeigen, die man gewöhnlich
hinsichtlich seiner Weltanschauung und Religiosität
auf eine Linie aufträgt, und dabei festzustellen, daß hier in
seinen weniger bekannten Alterswerken Wichtigstes liegt.

H. zeigt, wie Raabe zunächst die bürgerliche Welt vergoldet
, Rechtschaffeuheit, Fleiß, Wirklichkeitssinn preist, ein

Ja zu solchem Leben spricht und zum Ausdruck bringt, daß
Tüchtigkeit und Ehrenhaftigkeit siegen („Leute aus dem
Walde"), wie er dann das Ubergewicht der bösen Mächte
sieht, im Sinne Schopenhauers pessimistisch („Hungerpastor",
„Abu Telfan"), ja gallig, verbittert und spöttisch wird
(„Schüdderump"). Mit dem Buch vom „Deutschen Adel"
(1877) scheint, wie Hajek nun darstellt, für Raabe eine letzte
Revision seiner Welt- und Lebensdeutung zu beginnen, deren
Ertrag dann in den letzten großen Würfen („Unruhige Gäste",
,,Stopfkuchen", „Akten des Vogelsangs", „Hastenbeck",
„Altershausen") ausgesprochen werde. Das Wesentliche der
dienenden, liebenden und entsagenden Phöbe (in „Unruhige
Gäste") ist der Friede, nach dem sich der Dichter besonders
sehnt. In den „Akten des Vogelsangs" herrscht eine milde
Resignation („Lebensabfindung", wie H. sagt) auf dem Hintergrund
eines metaphysischen Grauens und mit der Bereitschaft
zum Vergeben und Verstehen. „Hastenbeck" und „Allershausen
" schildert Hajek überzeugend als zwei Werke, deren
jedes das andere in eigentümlicher Weise aufschließt und
deren Miteinander das Bild einer geläuterten dichterischen
Welt ergeben. Daß in beiden Büchern eine „Antwort zu der
beständigen Menschenfrage nach dem Sinn des Lebens gefunden
" sei, darin können wir Hajek nicht zustimmen; über
Andeutungen, Intentionen und Sehnsüchte kommt Raabe
nicht hinaus, einen festen christlichen Standpunkt hat er
nicht erreicht. Immerhin tritt die Ahnung eines göttlichen
Planes, einer übergreifenden Sinnerfüllung ebenso oft hervor
wie die Hinwendung zur Barmherzigkeit und gegenseitigen
Hilfe, dann und wann auch der Glaube, daß die kindliche Einfalt
die stärkste Macht sei und die Welt doch in den Gottesfrieden
einmünden werde.

Auf die „Erklärung" der Gestaltelemente Raabes durch
dialektische Gegensatzpaare und Polaritätsverhältnisse können
wir verzichten. Mit der Signatur „Leidenschaft und Gelassenheit
", mit dem Prinzip der „Formauflösung" und dem der
„poetischen Grundstimmung", mit der „Antithese" von „objektiver
Geschichtstreue und subjektiver Einmischung", mit
dem „Widerspiel von Humor und Ernst" ist bei Raabe ebensowenig
erklärt wie mit der „Antithetik" des „individuellen
Menschseins" („Verkettung der Natur und Freiheit der Seele,
lebenbezogene Unbewußtheit und jäh einsetzendes Selbstbewußtsein
, traumwandelnd-kindliclie oder illusionär-phantastische
Geborgenheit und plötzlich einbrechende rationale
Wachheit"). Es besteht auch keinerlei Grund, die Welt- und
Menschenauffassung Raabes zu erklären und das Geheimnis
des Dichters bloßzulegen. Es genügt, seine Gedanken zu
Mensch und Welt in seinen verschiedenen Schaffensperioden
zusammenzustellen und sie im Hinblick auf sein Wesen und
sein Werk zu deuten. Und dafür hat Hajek in seiner Schrift
Bedeutsames geleistet und die bisherige spärliche Literatur
über das Thema, u. a. Heinrich Spiero, Helene Dose und Wilhelm
Fehse, übertroffen.

Der besondere Dienst, den Raabe unserer Zeit leisten
kann, mag in der Linie: Uberwindung der Furcht liegen. Daß
er uns eine eindeutige, mitreißende, hoffnungsstarke Botschaft
brächte, kann ich nicht finden.

Halle u. Berlin Wilhelm Knevels

Hahll, Karl Josef: Rainer Maria Rilke. Eine Studie. Regensburg: Josef
Habbel 1949. 8°. 228 S. Hlw. DM6.—.

Mein Schrecken, daß die Rilke-Literatur wieder um ein
Werk vermehrt ist, verwandelte sich bei der Lektüre dieses
Buches in wachsende Befriedigung. Hier sind ganz wesentliche
Erkenntnisse über Rilke gewonnen und eine Deutung gegeben,
die sich in den — von fast allen anderen Rilke-Autoren überschrittenen
— Grenzen des bei Rilke wirklich Deutbaren hält.
Der Weg dazu ist das Eindringen in die inneren Elemente und
Gesetze des Rilkeschen Stils, in seine Denkformen und Erlebnisweisen
, in die auftretenden Symbole und Motive und in die
darin sich ausformenden Grundstininningen und Gesamthaltungen
. Daß man die Formelemente (der Ausdruck ist allerdings
mit Vorbehalt zu gebrauchen) bisher nicht als Schlüssel
für das Werk Rilkes nahm, ist wohl darauf zurückzuführen,
daß sie sich nicht zu einem deutlichen Kosmos zusammenfügen
lassen; aber gerade dadurch sind sie aufschlußreich, wie
Hahns Analyse beweist. Durchaus treffend sind die Ergebnisse
, die der Verf. erzielt hat hinsichtlich des Verhältnisses
des Transzendierens der Dinge und des Offenseins des Menschen
bei Rilke. Die „Verwandlung" der Dinge, jenes mehr
als geheimnisvolle Geschehen, das vor allem in den Elegien
angedeutet ist, wird vom Verf. als Hineinziehen in eine spirituelle
Sphäre tiefer verständlich gemacht, als ich das je anderswo
gefunden habe, ebenso wird die dauernde Selbst- und
Grenzüberschreitung, die Erhebung der Pilgerschaft des Meli-