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Ausgabe:

1951 Nr. 10

Spalte:

617-619

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Muschg, Walter

Titel/Untertitel:

Tragische Literaturgeschichte 1951

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 10

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Wittig benützten, taten das im Glauben (credo unam sanctam
catholicam et apostolicam ecclesiam), sie waren überzeugt, daß
durch das gegenwärtige katholische System auch das Liebesethos
Jesu am besten, nein: einzig und allein, erfüllt werde!
Z.B. der Kardinal Bertram mag etwa argumentiert haben:
Ich könnte mit Wittig eine Ausnahme machen oder veranlassen
, aber ich darf nicht, denn ich glaube an den
jetzt vorhandenen Katholizismus als an das Werk Jesu. (Wieweit
dabei auch Beleidigtheit, Antipathie oder sonstige
,.Menschlichkeiten" mitsprachen, das gibt nicht den Ausschlag
). Wenn am 9. März 1946 plötzlich die Exkommunikation
von Wittig genommen wurde, so hat eben ein einflußreicher
Hierarch geurteilt: Nun darf ich eine Ausnahme machen,
ini Glauben, ohne das System zu schädigen! Man übersieht
meistens, daß die Hierarchie eine glaubende ist, und daß dieser
Glaube den Inhalt hat: Jesus will genau das, was die katholische
Kirche der Gegenwart postuliert. Luther konnte dem
erfolgreich entgegentreten mit der These: Auch die Praxis der
Kirche der Gegenwart muß vom NT her kritisiert und geändert
werden; solum Verbum Dei! Wieweit diejenigen katholischen
Kämpfer Erfolg haben werden, welche im Namen des
auch im Katholizismus wesentlichen Liebesethos gegen den
Formalismus und Legalismus des Kirchenrechts kämpfen, ist
schwer zu sagen. Aber in diesen Kampf hinein gehört auch das
Lebenswerk des Dulders Joseph Wittig - und sein letztes
lJuch. Weil er durch und durch katholisch war, und im Katholizismus
die Gemeinde Jesu sah, darum konnte er nicht anders
als auf einen Heidengott zu erkennen, wo nicht der Vater Jesu
und unser Vater alles Recht bekam, auch im Kirchenrecht.

Bad Liebenzell Leonhard Fendt

M uschg, Walter: Tragische Literaturgeschichte. Bern: Francke [1948].

470 S. gr. 8°. DM19.50; Lw. DM 24.—.

Dieses Buch ist nicht eine Literaturgeschichte in dem
bisher üblichen Sinne. Hier werden nicht die Schicksale der
einzelnen Dichter sowie die Analyse ihrer Werke im Zusammenhang
vorgeführt. Das alles wird als bekannt vorausgesetzt.
Hier wird vielmehr der ganze unermeßliche Dichterwald unter
bestimmten Gesichtspunkten durchleuchtet; das geheimnisvolle
Wesen des Dichters und der Dichtung wird von allen
Seiten betrachtet und, soweit das überhaupt möglich ist, dem
mitfühlenden Verständnis aufgeschlossen. Der Titel des
Buches wird auf einer der letzten Seiten folgendermaßen erläutert
: „Die jetzt (am Ende des 19. Jahrhunderts) aufkommende
Literaturgeschichtsschreibung entdeckte in der Literatur
ein Mittel zur historischen Begründung und Darstellung
der nationalen Größe. Da sie sich geradezu als das Hauptkapital
der nationalen Ruhmesgeschichte betrachtete, stellte
sie die literarische Vergangenheit grundsätzlich optimistisch
dar. Für die Einsamkeit, Selbstherrlichkeit, Tragik des großen
Einzelnen fehlte ihr der Sinn ganz und gar." Der Protest gegen
diesen oberflächlichen Optimismus bezeugt sich schon in der
Mehrzahl der Kapitelüberschriften: die Armut, die Verbannung
, das Leiden, die Entsagung, die Schuld. In allen
diesen Kapiteln werden erschütternde Beispiele für die Tragik
beinah alles echten Dichtertums vorgeführt; nicht nur in Gestalten
wie Dante, Schiller, Hölderlin, Stifter, Grillparzer und
Hebbel, sondern auch bei den berühmten Sonneukindern des
Glückes, bei Lope de Vega, Shakespeare und Goethe fehlt
sie keineswegs. Das erste, umfangreichste Kapitel trägt die
Überschrift ,,die Berufung". Der Leser darf dabei getrost an
die Berufung der biblischen Propheten denken. Von ihnen
wird eingehend geredet in dem Untertitel „die Seher". Sie
sind die eine Gruppe der Berufenen; die drei anderen Gruppen
sind die Zauberer, die Priester und die (weltlichen) Sänger.
Diese vier Gruppen werden mit tief eingegrabenen Charakterzügen
anschaulich gezeichnet. Um einen gewissen Eindruck
von dem mannigfaltigen Reichtum des Buches zu vermitteln,
nenne ich noch die Uberschriften der drei Schlußkapitel: die
Phantasie (als die eigentliche Schöpferkraft aller Kunst, vgl.
Goethes Gedicht „Meine Göttin"), die Vollendung (die verschiedenen
Wege, auf denen die Dichter zur Vollendung ihrer
Werke schreiten, und das Problem, ob es überhaupt vollendete
Werke gibt), und der Ruhm (der echte und der falsche, der
ehrgeizig erstrebte und der demütig empfangene).

Das Buch überrascht und überwältigt zunächst durch die
ungeheure Ausbreitung des Wissens über Dichtung und
Schrifttum aller Zeiten und Völker und über die Schicksale
der Dichter mit vielen anschaulichen Einzelheiten, die zum
letzten Verständnis des Dichters und seiner Werke schwer
entbehrlich sind. Der eigentliche Wert aber und die Größe des
Buches liegt in der ganz ungewöhnlichen Spannweite und der
tiefgrabenden Kraft des Einfühlungsvermögens in Kunst und
Künstler der verschiedensten Artung. Solch ein Buch konnte

nicht geschrieben werden ohne die erschöpfende Aufbietung
der letzten Kräfte des Gemüts.

Daß bei dieser ungeheuren Ausweitung des Stoffes und bei
der alle Konventionen durchbrechenden Selbständigkeit des
Urteils kleine sachliche Versehen mit unterlaufen, aber auch
anfechtbare oder fehlgreifende Urteile, ist unvermeidlich.
Das sollte dem Verf. auch nicht zum Vorwurf gemacht werden.
Ein Buch, daß lauter selbstverständliche Richtigkeiten sagt,
ist überflüssig. Ein Buch aber, das gewagte Urteile bringt und
zum Widerspruch herausfordert, reizt das Nachdenken und
fördert die Forschung. Ich nenne einige kleine Versehen:

Der arme einfältige Landpfarrer im Kar, den Stifter im „Kalkstein" als
modernen Heiligen zeichnet, eine der schönsten Verkörperungen des wirklichen
Christentums der Oesinnung und der Tat, war freilich ursprünglich als
protestantischer Geistlicher gedacht, ist aber in der vollendeten Novelle ein
demütiger Jünger des Hg. Franz und also kein Ketzer. — Der schmerzliche
Ausruf „Ach, was ist Menschengröße, Menschenruhm" (ein Satz, der als Motto
über dein ganzen Buche stehen könnte), wird von Kleist nicht dem Prinzen
von Homburg, sondern der Natalie in den Mund gelegt (S. 452 unten). Auffallend
ist die Beurteilung Tolstois. S. 77 redet von seiner „echten Bekehrung";
S. 78 schildert aber das Leben des Bekehrten als noch von weltlicher Eitelkeit
stark belastet. Wenn Goethe gelegentlich als „Heide" bezeichnet wird, würde
der reife Dichter dagegen protestiert haben. — Der theologische Leser stößt
sich an manchen biblischen Urteilen (so gewiß die eigenartige Größe und Gewalt
echter Prophetic stark empfunden und überzeugend geschildert ist). Mose erscheint
gar zu sehr als Zauberer. Hier wäre scharfe Kritik angebracht gewesen
; aber für den Nichtfachmann ist es überaus schwer, aus den verschiedenen
Schichten der Sagen die vermutlich echte Gestalt herauszuheben. Von
dem Buch Jesaja lesen wir auf S.412, es sei für die kritische Forschung ein
halblegendärer Name geworden; der ursprüngliche Kern seiner Botschaft
(Kap. 6—9,6) sei im Laufe von mindestens vier Jahrhunderten zur kanonischen
Fassung erweitert worden. Auf S. 47 dagegen wird gesagt: „sein Buch
wirkt als einheitliche dichterische Konzeption". Und auf S. 210 lesen wir den
bedenklichen Satz, Jesaja sei vom Machtdenken nicht losgekommen, denn bevor
Jerusalem gewaltlos die Erde beherrschen kann, müssen die Juden in
einem letzten heiligen Krieg die Nachbarvölker dem Messias unterwerfen (so
steht es in dem späten Zusatz 11, 10f.). An anderer Stelle wird das Triumph-
lied auf die Höllenfahrt des Königs von Babel (Kap. 14) dem alten Jesaja
zugeschrieben.— Ein bedenklicher Irrtum betrifft den Propheten Arnos. Wenn
er ausruft: „Hinweg von mir mit dem Lärm deiner Lieder", so meint er damit
nicht weltliche Lieder, sondern Tempelmusik und Tempelgesänge; denn der
Prophet fordert, modern ausgedrückt, die Aufrichtung von Recht und Gerechtigkeit
statt der ganzen kirchlichen Betriebsamkeit. — Mißverständlich ist
auch der Satz: „Schon der Apostel Paulus distanziert sich vom Pfingstwunder".
Gemeint ist das Zungenreden, vom Pfingstfest aber ist in den Paulusbriefen
nicht die Rede. So bewundernswert die biblische Belesenheit des Verfassers ist,
die Urteile sollten doch einer kritischen Revision unterzogen werden.

Die Urteile über literarische Größen sind, soweit ich mir
ein Urteil erlauben darf, im allgemeinen mit einer wunderbaren
Treffsicherheit gefällt. So werden z.B. Grillparzer und
Stifter, lange verkannt, sorgfältig und liebevoll, vielleicht sogar
ein wenig über Gebühr, gewürdigt; auch Jeremias Gottheit
, im ganzen bei uns noch viel zu wenig bekannt (wer kennt
seine gewaltige Erzählung „Die schwarze Spinne?"), wird mit
Recht stark hervorgehoben. Mit demselben Recht wird die
lärmende Musik Richard Wagners und seine Verhunzung der
alten nordischen Sage kräftig abgelehnt. So hat es mich auch
lebhaft gefreut, daß Stephan George und seht Kreis als Pseudo-
priestertum abgetan wird. Nach meiner Kenntnis der Dinge
freilich hat er die deutsche Jugend zu Anfang dieses Jahrhunderts
weniger beherrscht, als der Verf. anzunehmen scheint.
Der Georgekult ist aber wirklich, ähnlich wie heute der Rilkekult
, ein erschreckendes Beispiel für die betörende Macht der
Ersatzreligionen; daß Muschg auf jeder Seite seines Buches
die übliche Menschenvergötterung ingrimmig bekämpft und
lächerlich macht, ist nicht sein geringstes Verdienst, über
Pestalozzi siehe unten das schöne Zitat. Die Härte des Urteils
über Klopstock scheint mir trotz der Verirrung mit seinen
nordisch-germanischen „Barditen" unbillig zu sein. Da hat
der alte Vilmar mit seinem aus vollem Herzen strömenden
Lobpreis wohl eher das Richtige getroffen. Auch Meyer wird,
wie ich meine, ungerecht behandelt, wenn ihm vorgeworfen
wird, er habe nach dem Kriege 1870/71 aus politischem Opportunismus
sich für die deutsche statt für die französische
Sprache seiner Dichtung entschieden. Hier hat wohl ein bedauerliches
Ressentiment gegen das Deutschland nicht nur
der Hitlerzeit, sondern beinah der letzten 150 Jahre das Urteil
des Verf.s verhängnisvoll irregeführt. Nur eine Stelle als
Beleg: „Grillparzer mußte erleben, was er doch bis zuletzt für
undenkbar gehalten hatte, daß Osterreich blutend auf der
Straße des Raubes und der Gewalt liegen blieb, die der eiserne
Kanzler bei der Gründung des neuen Reiches beschritt." Dieses
Fehlurteil über Bismarck wird auch durch Jacob Burck-