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Ausgabe:

1951 Nr. 10

Spalte:

599-604

Autor/Hrsg.:

Richter, Liselotte

Titel/Untertitel:

Nachlese zum Leibnitz-Jubiläum 1951

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599

Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 10

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Wert nicht erschienen. Bis zu welcher Verwirrung es gekommen
ist, beweist der Aufsatz von C. Claoue ..Bach
d'apres son visage" (Rev. Int. de Mus. A 6). Darin wird z. B.
der bekannte Grießmannsche Stich, der Johann Sebastians
gleichnamigen Enkel darstellt, als ein Jugendbildnis des späteren
großen Thomaskantors betrachtet und als ,,un docu-
ment, qui nous semble capital" bezeichnet, von anderen Versehen
zu schweigen. Auch was C. Freyse über das in seiner
Echtheit mit guten Gründen bestrittene Bach-Bild des
Eisenachcr Museums sagt (Bach in Thüringen. D 3), enttäuscht
, geht es doch über das seit vierzig Jahren Bekannte
nicht hinaus. Um so mehr ist die Publikation von Hans
Raupach (E 3) zu begrüßen. Zum erstenmal wird hier ein
Bildnis Bachs veröffentlicht, das E. G. Haußmami im Jahre
1748 geschaffen hat. An anderer Stelle habe ich den Nachweis
geführt, daß hiermit das so schmerzlich vermißte und schon
als verschollen geltende Porträt des Thomaskantors aus dem
Besitz seines zweiten Sohnes wieder zutage gekommen ist.
Das fraglos authentische lebensgroße Ölgemälde ist im Gegensatz
zu dem Leipziger, dem bisher einzigen ohne Zweifel
echten Bach-Porträt, vortrefflich erhalten und vermittelt
einen starken Eindruck von Bachs äußerer Erscheinung. Die
Reproduktion des Bildes ist zugleich für die große Zahl der
Bach-Verehrer eine hochwillkommene Gabe. — C. P. E. Bach
aber besaß, wie wir aus seinem Briefwechsel mit Forkel wissen,
zwei Bildnisse seines Vaters, neben dem Ölgemälde ein Pastell.
Dessen Verbleib liegt urkundlich völlig im Dunkel; schon im
Naehlaßverzeichnis C. P. E. Bachs kommt es nicht mehr vor.
Nunmehr legt K. Geiringer (E 4) ein solches Gemälde in
farbiger Reproduktion vor. Das Original befindet sich im Besitz
von Herrn Paul Bach, einem unmittelbaren Nachkommen
des Malers Gottlieb Friedrich Bach, der seinerseits ein der
Meininger Linie entstammender, also weitläufiger Vetter
Johann Sebastians war. Einen zwingenden Beweis für die
Authentizität des fraglichen Bildes vermag Geiringer zwar
nicht zu bieten. Das hierdurch erstmalig der Öffentlichkeit zugänglich
gemachte Stück hat jedoch Anspruch darauf, ernste
Beachtung und Untersuchung zu finden.

Das Fortleben und die über den Tod hinausreichende
Wirkung eines Künstlers gehört mit zu seinem Bilde. Bei Bach
stehen wir dem in der neueren Kunstgeschichte wohl einzigartigen
Phänomen gegenüber, daß die Wirkung erst nach
seinem Tode, ja sogar erst relativ spät danach, einsetzt, sich
seitdem aber bis in unsere Tage in unvergleichlicher Weise
steigert. Dies gilt ebenso von der Pflege seiner Werke wie von
der von ihm ausgehenden Befruchtung des Schaffens Späterer.
Diese Befruchtung hat jedoch nicht ganz so spät eingesetzt,
wie man gemeinhin annimmt. Zu den Verdiensten der Mozart-
Biographie Alfr. Einsteins gehört die Aufzeichnung der Revolution
, die die Begegnung mit Bach gerade bei Mozart hervorrief
. Zugleich konnte Einstein den Weg zeigen, auf dem
die Werke Bachs nach Wien gelangten. Jeder, auch ein kleiner
Beitrag zur Aufhellung des Problems „Bach und Mozart" bedeutet
daher eine willkommene Gabe. Das Bach-Gedenkjahr
hat tins einen solchen beschert in der Arbeit von Emst Fritz
Schmid (2. Bach-Heft d. Ztschr. f. Musik, A6). Er wird
seinen Platz in der Bach- wie in der Mozart-Literatur behaupten
. — Die Aufnahme Bachs in den verschiedenen Ländern
und die dortige Pflege seiner Musik ist Gegenstand
mehrerer Arbeiten von Gewicht: H.F. Redlich, „Anfänge der
Bach-Pflege in England" (Bach-Probleme, A 4), V. F^dorov,
„Bach en France" (Rev. Int. de Mus., A 6) und C. F. Pfat-
teicher, „Bach in America" (Bach-Gedenkschrift, A 3) sind
hier vor allem zu nennen. Tief eindrucksvoll ist Karl Straubes
Lebensbekenntnis „Rückblick und Ausblick" (ebenfalls in der
Bach-Gedenkschrift, A 3); es ist zugleich das Vermächtnis des
im Bach-Gedenkjahr Verstorbenen, au dessen Lebens- und
Künstlerwege man die Geschichte des Bach-Verständnisses
der letzten Jahrzehnte ablesen kann. Vielgestaltig und umstritten
ist heute die Frage der Deutung des Thomaskantors.
Als Repräsentanten vieler anderer nenne ich O. Gaillard,
der in den drei Vorträgen, die vom Städtischen Kulturamt
Weimar herausgegeben wurden, das Schaffen Johann Sebastians
aus seiner Ubereinstimmung mit dem „Kollektivempfinden
", „mit den lebenskräftigen, zukunftweisenden
Kräften seiner Epoche" zu erhellen versucht. — An uns richtet
sich die ernste Frage, ob wir von unsern geistig-seelischen Voraussetzungen
her in der Lage sind, einen legitimen Zugang
zu Bachs Werk zu gewinnen. Versteht man Bach als Erben
der Reformation, wie, um nur einen zu nennen, O. P. Kretzmann
(The little Bach Book, A 5), so kann man an der kirchlich
-theologisch höchst aktuellen Frage nach unserm eigenen
Verhältnis zu Luthertum und Reformation nicht vorbeigehen.
Daß es sich dabei aber nicht ausschließlich um theologische
Fragen, sondern um solche allgemein geistigen Charakters
handelt, zeigt J. Hand sc hin in seinem bedeutenden Aufsatz
„Bach et le XIX« siecle" (Rev. Int. de Mus., A 6).

Drei Reden über Bach, die ich von den mir zu Gehör und
Gesicht gekommenen für die wesentlichsten halte, wollen, jede
auf ihre Weise, zur Lösung dieser schweren Frage verhelfen.
Hanns Liljes Göttinger Gedenkrede (B 1) sagt in ihrem Untertitel
„Musik aus Glauben" alles Gemeinte; sie ist zusammen
mit dem zwei Jahre vorher im gleichen Verlag erschienenen
„Präludium der Ewigkeit" desselben Verfassers die würdigste
kirchliche Dokumentierung des Bach-Verständnisses. W. Gerstenberg
, auf H. Zencks Göttinger Akademie-Abhandlung
„Grundformen deutscher Musikanschauung" fußend, diese
aber organisch entfaltend und weiterbildend, vermag wie nur
wenige uns, auch uns Theologen, auf dem Wege „zur Erkenntnis
der Bachschen Musik" (B 2) belehrend zu fördern. Paul
Hindemith spricht von dem „verpflichtenden Erbe", das
wir mit Bach überkommen haben (B 3). Wir danken dem
lebenden Meister der Musik von Herzen für diesen starken
Anruf.

Wenn wir von dem literarischen Ertrag des Bach-Gedenkjahres
sprechen, so darf schließlich ein Unternehmen nicht unerwähnt
bleiben, das zwar noch in seinen ersten Anfängen
steckt, und doch als eine Frucht dieses Jahres besonderer
Bach-Pflege zu begrüßen ist, der Plan zu einer neuen kritischen
Gesamtausgabe der Werke J. S. Bachs. Im Gegensatz zu der
bisherigen will diese Edition zugleich der Wissenschaft und
der Praxis dienen. Sie nimmt damit die schon abgebrochen
scheinende Verbindung von künstlerischer Pflege und wissenschaftlicher
Erforschung des Bachschen Werkes wieder auf.
Möge es ihr beschieden sein, ihr großes Ziel, wenn auch nur
langsam und in mühevoller Arbeit, zu erreichen.

Nachlese zum Leibniz-Jubiläum

Von Liselotte Richter, Berlin

Ein volles Lustrum nach dem 300. Geburtstag von Gottfried
Wilhelm Leibniz läßt sich nunmehr die anläßlich dieses
Jubiläums erschienene Leibniz-Literatur hinsichtlich ihrer
bleibenden Bedeutung klarer übersehen und eindeutiger abschätzen
. Hierbei darf es nicht wundernehmen, wie sehr
schnell man in unserer allzu spannungs- und ereignisreichen
Zeit über solche Erscheinungen zur Tagesordnung übergeht.
Gerade deshalb gebietet die Gerechtigkeit, die bleibenden Verdienste
jener Jubiläums-Literatur festzuhalten, wenngleich
diese Würdigung heute in wesentlich knapperer Form erfolgen
muß, als dies anläßlich ihres Erscheinens vorauszusehen
war.

Im Verlage Walter de Gruyter sind in der Zeit von 1946
bis 1948 unter dem Titel „Leibniz zu seinem 300. Geburtstag
" eine Reihe von Einzelpublikationen verschiedener Fachgelehrter
erschienen. Unter ihnen ist zweifellos die bedeutendste
die Abhandlung von Nicolai Hartmann, „Leibniz als Meta-

physiker"1. Es ist sehr reizvoll und belehrend zu sehen, in
welcher Weise der Bahnbrecher der „Neuen Wege der Onto-
logie" die Vorarbeiten seines illustren Vorgängers in ihrer
historischen Bedeutung würdigt und zugleich vom Standpunkt
der modernen Ontologie aus kritisiert. Er kommt zu
dem Resultat, daß Leibniz in Fortsetzung nominalistischer
Fragestellungen im Grunde nach dem eigentlichen prineipium
individuationis gar nicht gefragt habe. Alles Reale hat immer
beides zugleich an sich, Allgemeinheit und Individualität.
Hartmann kommt hierbei zu folgenden bemerkenswerten Formulierungen
:

„Alles Reale ist individuell, aber nur als Ganzes, nicht in den einzelnen
Bestimmungen. Diese sind generell und bleiben auch im Einzelfall das Gene-

') Hartmann, Nicolai: Leibniz als Metaphysiker. Berlin: de
Gruyter 1946. 28 S. gr. 8° = Leibniz zu seinem 300. Geburtstag 1G46—1946
Lfg. 1. DM 1.50.