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Ausgabe:

1951 Nr. 9

Spalte:

563-564

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Porret, Eugène

Titel/Untertitel:

Nikolaj Berdjajew und die christliche Philosophie in Russland 1951

Rezensent:

Müller, Ludolf

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 9

564

sehen Heiligtümern seiner Größenordnung. Anders steht es
mit unserem Wissen um die Göttin und ihren Kult. P.s Beitrag
zu diesem Problemkreis, der den Band abschließt, stellt
denn auch mehr Fragen als zu beantworten sind. Für immer
sind die kostbaren Weihgaben der wohlhabenden Gläubigen
verloren, die uns viele Aufklärung hätten geben können. Wir
sind auf die billigeren Geschenke aus Ton und die kleinen
Figuren aus Bronze angewiesen, von denen der größere Teil
noch unveröffentlicht ist. Für das Alter des Kultes zeugt der
Mythos von Meleagers Tod, aus dem Artemis nicht herauszulösen
ist und den das I der Ilias als etwas Bekanntes
erzählt. Das würde gut zu den hypothetischen geometrischen
Resten passen (Mykenisches oder Älteres ist im
Heiligtum nicht gefunden worden). Artemis ist hier eine
agrarische Göttin, der man die Erstlinge der Feldfrucht darbringt
. Dieser ihr Charakter bleibt in Kalydon immer vorherrschend
: Jagd, Viehzucht, Ackerbau und Gartenbau finden
ihre Anteilnahme, daneben kümmert sie sich um die Seefahrt,
die Spiele der Kinder, das Kindbett der Frauen und die Aufzucht
der Säuglinge. All das verbindet sie mit vielen griechischen
Artemiskulten, etwa mit dem der brauronischen Artemis
, und trennt sie von der harten jungfräulichen Göttin,
die uns aus der griechischen Dichtung vertrauter zu sein
pflegt. Der Kultname der Laphria ist bislang unverständlich,
die Übernahme eines vorgriechischen Kultes samt demNamen
durch Artemis (nur unter diesem Namen kennt sie die Ilias)
erscheint wahrscheinlich. In Kalydon liegt das Heiligtum
außerhalb der Stadt auf einem 78 m hohen Hügel (zu 339, 6:
wenn Bacchylides V 106 Kalydon als xaÄM/OQog bezeichnet, so
ist das nicht eben seltene Epitheton ohne spezielle Rücksicht
auf die lokalen geographischen Gegebenheiten verwandt); nach
der Uberführung des Kultes nach Patrai durch Augustus hatte
die Göttin ihren Sitz auf der Akropolis. Aus Patrai kennen
wir auch einige Einzelheiten der Kultbegehuiigen und Opfergebräuche
(durch Pausanias VII 18, 11). Hier ist eine große
Prozession beachtenswert, an deren Ende die jungfräuliche
Priesteriii auf einem von Hirschen gezogenen Wagen fuhr.
Diese Prozession kann sehr wohl aus Kalydon übernommen
worden sein, wo die Terrasse um den Tempel Platz dazu bietet.
In Patrai findet am Tag darauf ein großes Opfer statt. Durch
einen Kranz von Scheiterhaufen wird ein Kreis um den Altar
gebildet, in den allerlei Opfertiere, von Geflügel angefangen
bis zu Wildschweinen, Rehen und angeblich sogar Wölfen und
Bären hineingetrieben werden, wonach der Scheiterhaufen entzündet
wird. Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß mit
der Göttin auch die Einzelheiten der Kult- und Opferbräuche
von Kalydon nach Patrai verpflanzt worden sind, aber Sicherheit
ist hier nicht zu erzielen und viele Fragen bleiben offen.

Schon das, was die vorliegende Publikation über das
Heiligtum berichtet, verpflichtet uns zu lebhaftem Dank den
Verfassern gegenüber. Darüber hinaus aber ist von hier aus
eine gewisse Korrektur an unseren Vorstellungen von Aitolieu
und den Aitolern möglich. Seit dem Ausgang des 5. Jahrhunderts
v. Chr. werden sie in der Literatur eigentlich nur abschätzig
erwähnt, als halbe Barbaren und weit entfernt von
jeder feineren Gesittung oder gar Kultur. Die reichen Funde
aus archaischer Zeit und der große Tempel des 4. Jahrhunderts
zeigen demgegenüber, daß Aitolien damals den lebendigen
Strömungen des griechischen Lebens keineswegs fern stand.
Gewiß, selbst in den Zeiten ihrer höchsten Machtentfaltung
ist die Landschaft für das geistige Leben unfruchtbar geblieben
(vgl. K. Latte, Gnomon 9, 1933, 414), aber wenigstens in den
Städten Kalydon, Pleuron und Thermos spüren wir im 7. und
6. Jahrhundert etwas von dem Einmaligen und Bewegenden,
das aller griechischen Kunst eignet.

Göttingen Walter H. Groß

PHILOSOPHIE und RELIGIONSPHILOSOPHIE

Porret, Eugene: Nikolaj Berdjajew und die christliche Philosophie in

Rußland. Übers, a. d. Franz. v. H. Violet. Heidelberg: Kerle [1950]. 223 S.
8°. Lw. DM 6.80.

Der Verf. dieses Buches begnügt sich'damit, eine Einführung
in das Denken Berdjajevs und die christliche Philosophie
in Rußland zu geben. Berdjajev soll hier vor allein
aus seinen russischen Geistesahnen erklärt werden. Zu diesem
Zweck wird ein gedrängter Uberblick über das russische
religiöse Denken im 19. Jahrhundert gegeben (S. 27—124).
Der Verf. erhebt hier keinen Anspruch auf besondere Originalität
, sondern er stellt das Leben und die Gedanken der wichtigsten
religiösen Denker Rußlands dar, anscheinend fast ausschließlich
au Hand der in westeuropäischen Sprachen vorliegenden
Bücher zu diesem Thema, die zum Teil in etwas unkritischer
Weise benutzt werden (vgl. etwa die naive Darstellung
des Lebenslaufes Solovjevs, S. 92t.). — Im zweiten
Teile stellt der Verf. die Philosophie Berdjajevs in der Weise
dar, daß er einige Hauptthemen des Philosophen (christliche
Anthropologie, Philosophie der Geschichte, Kommunismus
und Christentum) in der Form eines Referates der wichtigsten
Werke wiedergibt. So erfüllt das Buch die bescheidene Aufgabe
, die der Verf. ihm gestellt hat, und es mag manchem
Anleitung und Anregung zu weiterem selbständigen Studium
der russischen Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts
bieten.

Die Übersetzung geht an einigen Stellen in erfreulicher Weise über das
französische Original hinaus (z.B. S. 20f. Ergänzung der bibliographischen
und biographischen Daten), ist aber im übrigen nicht immer ganz korrekt. Ein
Seminar halten ist etwas anderes als eine „Seminararbeit machen" (S. 19); die
Gegner der Bolschewiki aus dem russischen Bürgerkrieg sollte man nicht „Weißrussen
" nennen(S.19), um nicht die gesamte Einwohnerschaft von Minsk und Umgebung
in den Verdacht konterrevolutionärer Betätigung zu bringen; „essai
d'etique paradoxale" wird mit „ein Werk von paradoxer Ethik" wohl doch
nicht ganz treffend wiedergegeben (S. 20); „die Ikon" (S. 33) klingt mindestens
eigenwillig; „faire des Conferences" bedeutet etwas anderes als „Konferenzen
halten", und wenn der Verf. sagt, daß die Philosophie Berdjajevs „se prete ä IM
examen critique", so meint er damit etwa das Gegenteil von dem, was der
Übersetzer herausliest, der schreibt: „Die Philosophie Berdjajevs hält einer
kritischen Prüfung . . . stand" (S. 210).

Schließlich haben jene Moskauer Philosophen, die der Übersetzer die
„Jungen der Archive" nennt (S. 61), auch in der deutschen Sprache schon
einen Namen bekommen, der etwas sinnvoller und schöner ist als diese neue
Bezeichnung: sie heißen „die Archivjünglinge". Man sieht hier wieder einmal,
daß ein Übersetzer nicht nur zwei Sprachen kennen, sondern möglichst auch
mit dem Gegenstand der von ihm übersetzten Arbeit vertraut sein sollte.
Auch die Bibliographi>.i:ätte für die deutschen Leser noch stärker umgearbeitet
und ergänzt werden können.

Marburg/Lahn Ludolf Müller

Jordan, E.: The Good Life. Chicago: The Univcrsity of Chicago Press
[1949J. VI, 453 S. gr. 8°. Lw. 15.—.

Mr. Jordan, länger als ein Vierteljahrhundert Dozent für
Philosophie und Ethik, Verfasser einer Reihe von Schriften,
von denen „Forms of Individuality", „Theory of Legislation"
und „The Aesthetic Object" zu den bekannteren gehören, legt
in dem vorliegenden Werk ,,eine gründliche und geschickte
Rekonstruktion einer ethischen Theorie" vor, „eins von den
drei oder vier amerikanischen Büchern, die etwas Wichtiges
über die Grundlegung und die zentralen Begriffe einer ethischen
und politischen Philosophie sagen", wie es auf dem
Buchumschlag heißt. Die fünf sorgfältig gegliederten Teile behandeln
: I. Die Tatsachen des sittlichen Lebens, S. 3—71;

II. Das Wesen (nature) der sittlichen Person, S. 75—171;

III. Die subjektiven oder teilweisen Tugenden, S. 175—243
(u.a. Sympathie; Großmut; Freundschaft); IV. Das Wesen
der sittlichen Welt, S. 247—373 • V. Die objektiven oder vollkommenen
Tugenden, S. 377—441 (u. a. Weisheit oder objektiviertes
Wissen; Mäßigung; Mut; Gerechtigkeit). — Die Richtung
des ethischen Systems Jordans ist durch folgende Sätze
gekennzeichnet: "If by ,the Good Life', considered SS an ulti-
mate object, we mean the active lifc-system as embodied in
an appropriate world, then goodness, as the quality attaching
to individual acts, will refer to that feature of the act by which
it is related to the whole and by which it is known as a con-
stituent of the whole incorporate life-system. The goodness
of an act is just this quality in it by and through which the
act is given a place and funetion in the total life-system, and
the question of the presence or absence of this quality in
connection with a given act may become one of extraordinary
iinportaucc and difficulty because of the lack of knowledge 1
of the total life-world" (S. 27).

Da zu der „Lebenswelt" in ihrer Gesamtheit für den
Menschen auch die „Religion" gehört, ist ihr unter den acht
Kapiteln des IV. Teils das fünfte gewidmet unter dem Thema:
„Religion and the Organization of Faith" (S. 314—323;
1. Kap. The World as a Moral Object; 2. The Family as Or-
gauized Instinct; 3. Industry as Organized Work; 4. Edu-
cation and the Organization of Intelligence; 6. Art as Organized
Beauty; 7. Folitics and the Unity of Life; 8. The Moral
Life as End-Object). — Aber auch diese zehn Seiten enttäuschen
, ebenso wie die im ganzen ohnehin sehr spärlichen
Bezugnahmen auf die Möglichkeit, die Welt und den Menschen
„religiös" zu verstehen, die Hoffnung, wenigstens eine Aus-