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Ausgabe:

1951 Nr. 8

Spalte:

496-497

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hübscher, Arthur

Titel/Untertitel:

Philosophen der Gegenwart 1951

Rezensent:

Merkel, Franz Rudolf

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 8

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2. Zwar sind bei Piaton die befreiten Menschen zu Befreiern
aufgerufen. Aber wer hat die Vollmacht zur ersten Befreiung
der Gebundenen ? Hier wird doch offenbar, daß ein vorchristliches
Denken und damit auch das abendländische Denken
in seiner Gefolgschaft notwendig religiös berichtigt werden
muß. Bei Heidegger sieht es immer so aus, als fürchte er durch
eine solche Anerkenntnis des Religiösen in seiner uranfänglichen
Fragestellung beeinträchtigt zu werden. Auch hier bleibt
er bei der Unterordnung der Theologie unter die Fundamentalen
tologie, wie er es schon in „Sein und Zeit" ausgeführt hatte.
Deshalb mußten dort schon wesentliche Bezüge des Menschseins
übersehen werden, auch wenn sie formal anklangen wie:
Gewissen, Schuld und Tod. Auch in dem notvollen Umbruch
werden wir inhaltlich zu keiner anfänglichen Wahrheits- und
Seinserkenntnis kommen können, wenn wir weiterhin wie in
früheren Jahrhunderten als Verächter der Religion unser Denken
betreiben. Dies sei nicht als Anklage, sondern als Verheißung
über der so notwendigen Denkaufgabe ausgesagt.

Bei der Vorbereitung einer französischen Ubersetzung dieser
Wahrheitslehre waren Fragen entstanden, die Heidegger in
einem Brief über den „Humanismus" an Jean Beaufret
(Paris) zu klären versucht. Dieser Brief (66 S.!) ist zugleich ein
bedeutsamer Kommentar zu „Sein und Zeit". Wir wollen das
Ganze in vier Einzelabschnitte aufgliedern.

1. Die Aufgabe des Denkens. Heidegger will das Denken wieder
als die Urfunktion des menschlichen Seins hervortreten lassen. Es steht als
solches noch vor allem Handeln, das in seinem Vollbringen auf das angewiesen
ist, was schon vor allem ist. Das Denken bringt dieses Sein zur Sprache. Zwar
ist seit Piaton und Aristoteles das Denken zu einer technischen Angelegenheit
geworden, das auf Praxis ausgeht und nach seinem Nutzen beurteilt wird. Das
Denken hat sich deshalb immer wieder darum bemüht, als wissenschaftlich
anerkannt zu werden, obwohl ihm eine viel ursprünglichere Funktion zukommt
. Das Denken ist das Denken des Seins in einer zweifachen Bedeutung:
es gehört dem Sein und es wird vom Sein her ermöglicht. „Als das hörend dem
Sein gehörende ist das Denken, was es nach seiner Wesensherkunft ist" (57).
Weil unsere Sprache diese Beziehung zum Sein eingebüßt hat, mußte sie ihr
eigentliches Wesen einbüßen, nämlich „das Haus der Wahrheit des Seins zu
sein" (60). Der Mensch muß sich also wieder vom Sein ansprechen lassen.

2. Die Ablehnung des metaphysischen Begriffs der Humanität
. In diesem Versuch, den Menschen für das Sein bereit zu machen, daß er
in sein Wesen finde, liegt die echte Bemühung um Humanitas: Sinn und
Sorge, daß der Mensch menschlich sei. Das Wesen des Menschen ist verschieden
bestimmt worden, von der Geschichte her oder von der Natur aus
oder religiös in Abgrenzung gegen die deitas. Diese verschiedenen Lösungsversuche
rechnet Heidegger zur Metaphysik: sie bestimmen die Humanitas aus
einer bereits feststehenden Auslegung der Natur, der Geschichte, der Welt
und des Weltgrundes. Es wird über das Seiende im Ganzen verfügt, ohne die
Frage nach der Wahrheit des Seins zu stellen (64, 65). „Die Metaphysik denkt
den Menschen von der animalitas her und denkt nicht zu seiner humanitas
hin" (66); sie erkennt nicht den Tatbestand, daß der Mensch nur in seinem
Wesen west, in dem er vom Sein angesprochen wird" (66). Im Gegensatz zum
Existenzialismus von Sartre (72) bestimmt Heidegger das Wesen des Menschen
von seiner Ek-sistenz her, von seinem „Stehen in der Lichtung des Seins" (67).
In dieser Ek-sistenz steht der Mensch in der Wahrheit des Seins und wird von
dieser angesprochen. Nur deshalb hat der Mensch Sprache; denn sie ist „lieh-
tend-verbergende Ankunft des Seins" (70). Wieder kommt wie in „Sein und
Zeit" bei dieser Wesensbestimmung des menschlichen Daseins der Wurfcharakter
und das Geschick des schickenden Seins zum Ausdruck. „Ob und
wie der Gott und die Götter, die Geschichte und die Natur in die Lichtung des
Seins hereinkommen, an- und abwesen, entscheidet nicht der Mensch. Die Ankunft
des Seienden beruht im Geschick des Seins" (75). Die ganze Untersuchung
drängt also auf das Wesen des Seins. Welche Antwort erhalten wir?
„Es ist es selbst" (76). Das Sein ist weiter und näher als alles Seiende. Die
Lichtung selber ist das Sein. Die Ek-sistenz ist im Sein gehalten, „insofern
Es die Ex-sistenz in ihrem existenzialen, d. h. ekstatischen Wesen an sich hält
und zu sich versammelt als die Ortschaft der Wahrheit des Seins inmitten des
Seienden" (77). Deshalb ist der Mensch nicht Herr des Seienden, sondern Hirt
und Hüter des Seins (75,90). Auf Grund seiner verschiedenen früheren
Hölderlinveröffentlichungen weist Heidegger mehrfach auf die Erahnung des
wesenhaften Seins durch diesen Dichter hin, besonders auch auf dessen geheimnisvolle
Bezüge zum Osten (85). Aber selbst solche Gegensätze wie Hegel,
Marx und Nietzsche faßt er positiv für die Geschichte der Wahrheit des Seins.
„Weil Marx, indem er die Entfremdung erfährt, in eine wesentliche Dimension
der Geschichte hineinreicht, deshalb ist die marxistische Anschauung von der
Geschichte aller übrigen Historie überlegen" (87).

Das Sein ist nicht das Göttliche. Aber in der Nähe zum Sein kann das
Heilige sichtbar werden. Erst wenn das Sein in seiner Wahrheit sich gelichtet
hat, kann das Göttliche erscheinen. Die Heimatlosigkeit des modernen Menschen
kommt im Grunde aus seiner Seinsverfehlung.

3. Die Dimension des Heiligen. Wenn sich Heidegger gegen den
metaphysischen Begriff der Humanität wehrt, darf er doch nicht als Vertreter
der Inhumanitas verstanden werden. In erschütternder Weise wird nun deutlich
, wie sein Bemühen um das anfängliche Fragen und Denken, das sich
gegen bestimmte Positionen ausgesprochen hatte, immer nur als Negation

mißverstanden worden ist. Am schmerzvollsten scheint ihn der Vorwurf des
Nihilismus und des Atheismus getroffen zu haben. Dabei betont Heidegger mit
Recht, daß jegliche Einordnung des Göttlichen in die Wertsphäre eine Herabwürdigung
seines Wesens bedeutet, weil Gott dadurch abhängig wird von der
wertsetzenden Subjektivität (99). Während in „Sein und Zeit" von der Dimension
des Heiligen noch nicht die Rede ist, spricht Heidegger jetzt mehrfach
von ihr. Aber wenn er von dem Verhältnis des Menschen zu Gott spricht, verlangt
er vom Menschen zuvor die Kenntnis der Wahrheit des Seins. Wenn die
Dimension des Seins nicht gelichtet wird, kann sich die Dimension des Heiligen
nicht eröffnen (102). Er sieht geradezu in der Verschlossenheit der Dimension
des Heilen für unsere Zeit das einzige Unheil (103).

4. Die Ethik als eine Folge fundamentalontologischer Erkenntnis
. Das Denken nach dem Sein ist bei Heidegger im Grunde ergebnislos
(111), weder praktisch noch theoretisch, weil es vor dieser Unterscheidung
dem Sein nachdenkt und von diesem her sich ereignet. Der Mensch steht in
der Lichtung des Seins im Aufgang zum Heilen und zugleich zum Bösen.
Beides west im Sein, weil das Sein selber das Strittige ist (112). Wenn nun von
Heidegger eine Ethik verlangt wird, dann kann er nur auf die Schickung des
Seins zurückverweisen. Aus dieser empfängt der Mensch allein die echte Zuweisung
für das Leben. In der jetzigen Weltnot ist es nötig: „weniger Philosophie
, aber mehr Achtsamkeit des Denkens; weniger Literatur, aber mehr
Pflege des Buchstabens (119). Das künftige Denken muß in die Armut seines
vorläufigen Wesens hinabsteigen und soll das Sein selbst zur Sprache bringen".

Uberblicken wir das Ganze, so besteht Heideggers wesentliches
Anliegen in einer großen Destruktion der abendländischen
Philosophie. Aber genau wie in „Sein und Zeit" vermag
er auch hier das Ziel seines Denkens nur anzudeuten, ohne ihm
irgendwelche konkreten Umrisse geben zu können. Ks muß die
Frage erhoben werden, ob dies überhaupt jemals gelingen kann.
Es würde dann doch das Sein an die Stelle Gottes treten müssen,
wie es z.B. in der Grundfrage der Ethik tatsächlich geschieht.
Hier erfährt der Mensch aus dem Sein heraus das Prinzip seines
Handelns. Aber da nach Heidegger im Sein das Heile und das
Böse wesen und deshalb auch das menschlich Seiende anwesen,
wird doch in Fortführung des früher entwickelten Nichtcharak-
ters des Seinsgrundes eine Ethik nicht mehr unmittelbar ableitbar
aus dem Sein. Es muß sich die Frage erheben, aus welcher
Kraft der Mensch im strittigen Sein dem Geschick des Seins in
rechter Weise begegnen kann. Das zweite Bedenken ergibt sich
uns in derselben Richtung, aber nun nach der theoretischen
Seite hin. Es ist anzuerkennen, daß ein so abgründiges Denken
an die Dimension des Heiligen überhaupt heranführt. Aber ist
die Vorordnung des Seins vor dieser Dimension philosophisch
gerechtfertigt ? Kaut war in dieser Hinsicht zurückhaltender
mit dem Urteil. Heidegger macht die Erscheinung des Heiligen
abhängig von einer primären Seinserhellung. Religiös gesehen
ist es oft doch geradezu umgekehrt. Erinnert sei nur an Nikolaus
von Cues, der erst aus dem Glauben heraus seine tiefsten
Gedanken über die Coincidentia oppositorum hat denken können
. Von hier aus gesehen muß auch die gleichmäßig abwertende
Beurteilung der verschiedenen Formen der Metaphysik
als ein Unrecht angesehen werden. Aber es scheint die Tragik
der modernen Philosophie zu sein, daß sie ungerecht ist, gerade
indem sie versucht, radikal sein zu wollen: So war es bei dem
kulturkritischen Philosophen Eberhard Griesebach, so ist es
auch bei Heidegger. Nachdem die Philosophie immer wieder
nur die Grenzsituation des Menschen aufzuweisen vermag,
wird die Zeit kommen müssen, daß wir auch philosophisch den
ernst nehmen, der in aller Zeitenwende steht.

Gegenüber der ungeheuren Aufgabe, die sich Heidegger
gestellt hat, dem Sein nachzudenken, möchten diese Fragen
nicht als Ablehnung seiner philosophischen Thematisierung
verstanden werden, sondern als bescheidene Versuche, vom
Glauben aus Sichtmöglichkeiten für diese Seinserhellung in
den Blick zu stellen. Bei aller Tiefgründigkeit von Anaximau-
der und Heraklit, auf die Heidegger zurückgeht, stehen sie
doch noch grundsätzlich vor dem, der in seinem Wahrsein
die Unverborgenheit christlichen Gemeindeseins auch als philosophisch
bedeutsame Wahrheit offenbar werden läßt. Die
Zeit eines Leibuiz ist vorbei; aber ein neuer Leibniz ist uns not.

Jena H. E. Eisenhuth

Hübscher, Arthur: Philosophen der Gegenwart. Fünfzig Bildnisse. München
: Piper [1949]. 176 S., 15Taf. 8°. Lw. DM8.50.

Der bekannte Journalist und Schopenhauer-Forscher Dr.
Arthur Hübscher entwirft uns in gedrängter Kürze 50 Bildnisse
der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart in meisterhafter
Skizzierung, „Versuche, ein paar wesentliche Züge nachzubilden
". Es ist ein vorzüglicher Beitrag zur Typologie der
menschlichen Strukturgestaltung unserer Gegenwart, denn
„die Frage, was der Mensch sei, wird heute nicht mehr im
Sinne der monumentalen geistesgeschichtlichen Fragmente
Diltheys auf dem Umweg über die Geschichte beantwortet