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Ausgabe:

1951 Nr. 8

Spalte:

493-494

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Nohl, Herman

Titel/Untertitel:

Einführung in die Philosophie 1951

Rezensent:

Menzer, Paul

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Seite 1

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493

Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 8

494

nichts abbrechen. Ein Buch, das anregt, das Neues bringt,
steht immer in dieser Gefahr, wenn man das eine Gefahr
nennen will. Jeder unbefangene Leser wird die unerhört weite
Belesenheit des Verf.s, den wunderbaren Spürsinn, mit dem
er die Probleme aufdeckt und die Zeugen und Gegenzeugen
hervorholt (auch die Gegner von Troeltsch kommen reichlich
zu Wort) bewundern müssen, vor allem aber die Treffsicherheit
der Urteile und der Schilderung der Gestalten. Er hat eine ungewöhnliche
Gabe, das Wesentliche der Personen aus allen
Wissensgebieten zu erfassen und anschaulich hinzustellen. Ich
wünsche dem Buch viel aufmerksame und nachdenkliche Leser.
Hannover-Kleefeld Hermann Schuster

NOhl, Herman: Einführung in die Philosophie. 3. Aufl. Frankfurt/M.:
G. Schulte-Bulmke 1947. 112 S. gr. 8°. DM3.50.

Nohl will eine Einführung für Anfänger schreiben und
nicht ein System der Philosophie in nuce geben. Die Eigenart
des philosophischen Denkens sieht er in vier Merkmalen: 1. in
der Erhebung über das tägliche Leben unter dem Gesichtspunkt
, den Sinn des Ganzen zu ergründen, 2. in der Richtung
auf wissenschaftlich begründete objektive Wahrheit, 3. in dem
Bauwilleu au der Zukunft. Das vierte Moment ist die Wendung
der Philosophie zu ihrem Werkzeug, dem Denken. So entsteht
der Schulbegriff. Sie sucht die Methode, d. h. den sicheren Weg
zur Wahrheit (14). Die deshalb notwendige erkenntnistheoretische
Untersuchung beginnt dann mit dem Nachweis der Problematik
einer natürlichen Weltansicht, die die Subjektivität der
■Wahrnehmungen nicht sieht. Die an ihr geübte Kritik führte
zum skeptischen Relativismus des Protagoras und dem Pragmatismus
(James und Nietzsche). Ihre Widerlegung geschieht
durch Verwertung der Argumente Piatos im „Theätet" und
die Einsieht, daß die Erkenntnis ihren Grund im Denken, in
der Einheit der denkenden Seele hat. Von hier aus ergibt sich
die Wendung zum Rationalismus, in dem „jede Erkenntnis-
Stellung, die die Welt aus einem Zusammenhang von Begriffen
widerspruchslos erklären zu können" (41) gesehen wird. So
entsteht die rationale Metaphysik, die dann durch Locke und
Hume widerlegt wird. Kant versucht eine Lösung, die als eine
Verbindung zwischen Rationalismus und Empirismus bezeichnet
wird. Es folgt nun eine Kritik seiner Lehre, die zu manchen
Bedenken Anlaß gibt, die ich aber unterdrücken möchte. Nohl
glaubt die Lösung in einer Philosophie des Lebens geben zu
können, die in der Erlebniswirklichkeit anschauliche Wahrheit
sieht. Der gegen Kant immer wieder erhobene Vorwurf ist
wohl der, daß er an die Stelle seelischer Gegebenheit Begriffe
setzt, die unmöglich die Wirklichkeit voll erkennbar machen.
Diese Berufung auf die in der Mannigfaltigkeit der Erlebnisse
gegebenen Wahrheiten muß aber natürlich jeden systematischen
Zusammenhang aufheben und unmöglich machen. Die
oben an zweiter Stelle genannte Aufgabe der Philosophie wird
sicherlich auf diese Weise nicht gelöst. Der immer wiederkehrende
Hinweis auf das Ich oder „unsere gute, alte ehrliche
Seele" (78) genügt wohl kaum. Die notwendige Folge dieser
Grundanschauung ist, daß die bis zur Lehre von den Weltanschauungen
führende Untersuchung mit einer Psychologie
beginnt. Nach Bekämpfung einer einseitigen, naturwissenschaftlichen
Lehre und unter Hinweis auf Diltheys bekannte
Untersuchung über beschreibende und zergliedernde Psychologie
denkt Nohl das seelische Leben in drei Schichten aufgebaut
: die mechanistische, die Welt der schöpferischen Akte
(verstellende Psychologie) und das Ich als Einheit des Willens.
Nach diesem Schema werden das sittliche Leben und die
ästhetische Wirklichkeit behandelt. Die Lehre von den Weltanschauungen
gibt Diltheys Einteilung in Positivismus,
Idealismus der Freiheit und objektiven Idealismus wieder,
um zu dem gesperrt gedruckten Ergebnis zu kommen: „Die
drei typischen Systemformen entwickeln nur die drei Konsequenzen
je einer dieser Schichten unserer Lebendigkeit für das
Ganze des Lebens" (103). Weder Wissenschaft noch Ethik
können das Ganze des Lebens gestalten. Hier stoßen wir auf
die Grenze der Philosophie und die religiöse Haltung wird
sichtbar, nur der Glaube kann „uns Macht und Sinn des
Ganzen vergegenwärtigen". Der Glaube an das Transszendente
darf aber nicht das Leben seiner Würde entkleiden, vielmehr
..realisiert sich die Transzendenz in allem höheren Tun des
Menschen und jede geistige Erfahrung ist darum Symbol für
den unfaßlichen Gehalt jener Transzendenz, wobei „Symbol"
Wirklichkeit und Bild zugleich bedeutet" (112).

Fragt man schließlich, inwieweit Nohl die durch die Aufzählung
von vier Merkmalen der Philosophie bei dem Leser erweckte
Erwartung befriedigt hat, so kann die Antwort wohl nicht
ohne Einschränkung gegeben werden. Enttäuschend wirkt besonders
d ie B ehandlung des dritten Merkmals, des Bauwillens der
Philosophie an der Zukunft. Er sollte sich wohl besonders in

der Lehre vom sittlichen Leben offenbaren, aber dies Kapitel
schließt mit den Worten: „Die Ethik kann das Problem des
Daseins nur heroisch oder unter Tränen lächelnd lösen" (101).
So wird man gut tun, den Hinweis des Verf's. im Nachwort zu
beachten, die in dieser Schrift nur angedeuteten Gedanken in
seinen Büchern zur Ethik, Ästhetik, Pädagogik und Menschenkunde
zu verfolgen.

Halle/S. PaulMenzer

Heidegger, Martin: Piatons Lehre von der Wahrheit. Mit einem Brief

über den „Humanismus". Bern: Francke [1947]. 119 S. 8» = Sammlung
„Überlieferung und Auftrag" in Verb. m. W. Szilasi hrsg. v. E. Orassi.
Reihe Probleme u. Hinweise Bd. 5. Pp. DM 7,50.

Diese neue Abhandlung von Heidegger ist eine kritische
Ablehnung der gesamten abendländischen Metaphysik, von
Piaton an bis zu Nietzsche. Er erhebt gegen sie den Vorwurf,
daß sie die Frage aller Fragen, die nach dem Sein überhaupt,
nicht gestellt habe. Sein Bemühen geht daher darauf aus, auch
in Piatons Lehre von der Wahrheit ein Ungesagtes aufzuweisen
, das noch nicht beachtet wurde, und das die Wandlung in
der Wesensbestimmung der Wahrheit heraufgeführt hat.

Nach einer erläuternden Übersetzung des Höhlengleichnisses gibt Heidegger
die Deutung im Blick auf jenes Ungesagte hin. In der Höhle leben die
Menschen; sie sind festgebunden und sehen nur die Schatten des Seienden,
das erleuchtet wird durch ein Feuer hinter ihrem Rücken innerhalb der Höhle.
Aber die Höhle hat einen Ausblick in eine obere Welt. Der Mensch kann in
vier Übergängen leben, die immer eine neue Ein- und Umgewöhnung verlangen
: 1. In der festen Bindung nimmt der Mensch die Schatten für das
Seiende selbst. 2. In der Befreiung verbleibt er zunächst noch in der Höhle
und nimmt sogar die Schatten für das Wahrere, well er, geblendet durch das
Höhlenfeuer, das Seiende nicht mühelos erkennt. 3. Erst im Aufstieg aus der
Höhle kann der Mensch im Lichte der dort scheinenden Sonne das Unverborgenste
schauen. 4. Im Rückgang zu den Gebundenen soll der Befreite die
Gebundenen befreien, selbst wenn diese ihn töten wollen wegen der Verwirrung
, die er bei ihnen hervorbringen muß.

Wenn auch nach den einleitenden Sätzen das Gleichnis den Unterschied
zwischen Bildung und Bildungslosigkeit aufzeigen soll, so trifft Heideggers
Deutung im Blick auf die Wandlung des Wahrheitsbegriffs doch seinen Sinn,
weil Bildung nur im Bereich der Wahrheit, des Unverborgensten, sich vollziehen
kann (25). Die Wahrheit hat schließlich bei Piaton einen privativen
Charakter; sie ist das, was der Unverborgenheit abgerungen werden muß. Sie
wird auf den verschiedenen Stufen der Befreiung in verschiedener Weise erschaut
. Sie ist aber immer auf die Ideen angewiesen, die von der oberen Welt
außerhalb der Höhle her alles Erscheinende in ihrem Erscheinen erst ermöglichen
. Die oberste Idee gilt als die Idee des Guten oder des Göttlichen.

Heidegger hat nun innerhalb dieser Darlegung eine bedeutsame Wandlung
festgestellt. Ursprünglich besaßen die Ideen einen Vorrang vor der Wahrheit
, weil diese erst durch die Ideen möglich wurde. Nun aber kommt es im
Gleichnis bei der Wahrheit darauf an, daß das Sich-ermöglichende richtig
gesehen wird. Damit hat die Wahrheit (d-f.jjd'eia) ihre Unverborgenheit aufgegeben
(41) und ist selber nicht mehr im Seienden, sondern im menschlichen
Verhalten sichtbar. Die Wahrheit wird zur Richtigkeit und ist von den Ideen
unterjocht.

Heidegger sieht die gesamte abendländische Philosophie in der Gefolgschaft
dieser Wendung: Thomas, Descartes und Nietzsche. Gemeinsam ist
diesen so verschiedenen Denkern, daß Ihnen In irgendeiner Weise irgendwelche
„Ideen" feststehen und vorgegeben sind. Diese von Piaton selbst veranlaßte
Entwicklung wird von Heidegger in Frage gestellt. Sein Ziel ist die Wahrheit
als Wahrheit des Seins.

Dieser Vortrag ist 1940 geschrieben worden als Ergebiiis
einer Vorlesung aus dem Jahre 1930. Als er 1942 in der Schweiz
erschien, durfte er in Deutschland nicht erwähnt und besprochen
werden. An zwei Stellen deutete damals schon Heidegger
die kommende Not und Umwälzung im Denken an. Aus Not
heraus muß der Mensch einen neuen Blick bekommen, so daß
ihm auch die Grundfragen des Menschseins neu aufgehen.

Heidegger hat diese schwierigen Gedanken so sehr mit den
Grundfragen des Menschseins verbunden, daß ihnen notwendig
in unserer Neubesinnung auf den Humanismus nachgegangen
werden muß; denn es gibt auch für eine theologische Anthropologie
kein Menschsein ohne Wahrheit.

Bei diesem Grundbemühen, dem wir zustimmen, sei aber
auf zwei kritische Fragen aufmerksam gemacht:

1. Schon die uranf angliche Unterscheidung von Höhle und
Himmel muß in Frage gestellt werden; denn in ihr liegt es begründet
, daß nach der Ubereinstimmung von Erkenntnis und
Erkenntnisgegenstand, von Schatten-Seiendem und jenseitiger
Seinsermöglichung gefragt werden muß. Kant hatte doch durch
seine Kategorienlehre diesen anfänglichen und auf die Dauer
unlösbaren Dualismus überwunden. Dieser anthropologische
Grundansatz für das Da-sein müßte also primär kritisch überprüft
werden.