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Ausgabe:

1951 Nr. 8

Spalte:

489-493

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Leese, Kurt

Titel/Untertitel:

Krisis und Wende des christlichen Geistes 1951

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 8

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Referat, vorgetragen von einem katholischen Priester, wirkte auf die Teilnehmer
geradezu erschütternd. Wie ist es möglich, daß ein Mann, der auf wissenschaftliche
Bildung Anspruch erhebt, der Christ, Priester, sogar Münch ist, also
dem ,,Status perfectionis" angehört, das Werk eines Mitchristen und Mitbruders
in einer Welse mißhandelt, die jeden Gerechtigkeitssinn, ja jeden
wissenschaftlichen Anstand vermissen läßt? Das war die Frage, welche die
Teilnehmer, Katholiken und Protestanten, stellten und die offenbar machte,
wie sehr die Pfeile, die Brunner abgeschossen hatte, auf ihn selber zurückgeprallt
waren.

Zum Schluß sei noch ein grundsätzlicher Gedanke zu
seinem Buch ausgesprochen. Für die Scholastik steht die Philosophie
im Dienste der Theologie: Philosophia ancilla theolo-
giae. Von ihr empfängt sie auch ihre obersten Normen. Damit
ist aber der wissenschaftliche Charakter der Philosophie aufgehoben
. Auf der anderen Seite aber muß sie Wissenschaft
sein, wenn sie ihre Aufgabe gegenüber der Theologie erfüllen
soll, die darin besteht, daß sie die rationalen Fundamente des
Glaubensgebäudes legt, über diesen Widerspruch, diesen
..Zirkel im System", wie man ihn genannt hat, hat sich
Brunner anscheinend keine Gedanken gemacht. Das ist um so
merkwürdiger, als diese Aporie nichts Geringeres bedeutet als
<he prinzipielle Infragestellung seiner ganzen Philosophie.

Köln Johannes Hessen

Leese, Kurt, Prof. Dr.: Krisis und Wende des christlichen Geistes.

Studien zum anthropologischen und theologischen Problem der Lebensphilosophie
. 2.,durchges. Aufl. Berlin: Junkeru. Dünnhaupt 1941. 428 S. gr. 8°.
DM 14.—.

— Die Religionskrisis des Abendlandes und die religiöse Lage der

Gegenwart. Hamburg: Hoffmann <& Campe 1948. 436 S. 8°. Pp. DM 8.50.

— Die Religion des protestantischen Menschen. 2., neu bearb. u. erw.
Aufl. München: Federmann 1948. 445 S. 8° - Ernst Reinhardt Bücherreihe
. DM 13.— ; Hlw. DM 15.—.

Der unterzeichnete Rezensent bedauert außerordentlich,
daß er infolge gesundheitlicher Behinderung und dringender
mühsamer Arbeit an der Erneuerung von Religionsbüchern
für den Unterricht der Schule erst so spät zu der Anzeige
dieser bedeutsamen Bücher kommt.

Das erste Buch, die Krisis und Wende des christlichen
Geistes, ist mit seiner ersten Auflage in dieser Zeitung 1933.
Nr. 23 von anderer Seite besprochen worden. Obwohl diese
Besprechung, wie mir scheint, der Bedeutung des Buches nicht
genug tut, darf ich heute darauf nicht weiter eingehen, da die
neue Auflage nicht wesentlich verändert ist. Ich muß mich
damit begnügen zu sagen, daß dies Buch seinerzeit auf mich
einen starken Eindruck gemacht hat und daß ich die neue Auflage
begrüßt habe, weil das Buch immer noch eine Aufgabe
hat im Dienste der großen ,,Uinformuugskri.se", in der wir
heute stehen, von der ja auch verschiedene Schriften von
E. Hirsch Zeugnis geben.

Das zu zweit genannte Buch, die Religionskrisis des
Abendlandes und die religiöse Lage der Gegenwart, erinnert
in seinem Titel an das erste Buch, ist aber eine ganz neue
Schöpfung und sollte von allen denen gelesen werden, die nach
Klarheit suchen über die religiöse Lage der Gegenwart und die
Aufgabe, die uns daraus erwächst. Das Buch geht aus vom
Atheismus (der Vergangenheit und der Gegenwart) und endigt
mit dem Ausblick auf die Una Sancta in christlicher Sicht,
einer Sicht, die zwar den konkret geschichtlichen Boden des
Katholizismus oder Protestantismus nirgends verläßt, aber
doch auch nicht in konfessionalistischer Enge steqhen bleibt.
Zwischen Anfang und Ende (Kap. 1 Atheismus unaLiottlosen-
bewegung, Kap. 6: Katholizismus und Protestantismus) liegen
die vier Kapitel über den religiösen Sozialismus, Rainer Maria
Rilke, den Mythus vom werdenden Gott und die außerchrist-
liche Welt- und Naturfrömmigkeit.

Das lange erste Kapitel, über Athelsmus und Gottlosenbewegung,
schildert an Beispielen vom Altertum bis zur Gegenwart den unechten oder
uneigentlichen Atheismus (z. B. Sokrates und Fichte im Atheismusstreit), sowie
den echten oder eigentlichen Atheismus, worin wieder verschiedene Formen
unterschieden werden: der negative oder oppositionelle Atheismus und der
positive oder schlechthin behauptende. Als die drei Grundformen des unbedingten
Atheismus unterscheidet Leese den Atheismus der Selbstvergottung,
den Atheismus des schlechten Gewissens (Franz Moor in Schillers „Räubern")
und den Atheismus des Inneren Erlöschens, die heute weitaus am meisten verbreitete
Form. — Wenn unter dem behauptenden Atheismus auch Lamettrie
und Holbach genannt werden, so könnte man zweifeln, ob ihr Atheismus nicht
im Grunde ein oppositioneller sei, da er doch offenbar aus einer sehr berechtigten
Opposition gegen ein dämonisiertes Kirchenwesen hervorgegangen Ist.
Solchen Verzerrungen gegenüber schildert Leese S. 106 die religiöse Urwirk-
lichkeit und fügt hinzu: „Damit haben wir eine Tiefenschicht des religiösen
Erlebnisses erreicht, an der die Religionskritik eines Kritias, Euhemerus, Epi-
kur, Lukrez, Hume, Holbach, Comte, Feuerbach, Marx, Schopenhauer,

Nietzsche u. a. versagt, weil sie zu niedrig gegriffen ist, weil sie günstigstenfalls
wohl die Dämonisierung und Verfratzung der Religion, ihre Entartungs- und
Verfallserscheinungen einer freilich vernichtenden Kritik zu unterziehen vermag
, aber nicht gewahr wird, daß sie damit das religiöse Urphänomen noch
nicht einmal in den Blick bekommt".

Das zweite Kapitel schildert den religiösen Sozialismus von Kings-
ley und Wichern über Stöcker und Naumann bis zu den Schweizer religiösen
Sozialisten und Paul Tillich. Wie sehr durch das Geschehen der letzten Jahre
die soziale Schichtung in Europa, vorzüglich auch in Deutschland, sich grundlegend
verändert hat, so daß die soziale Aufgabe ganz neu geworden ist, wird
auf Seite 205 anschaulich und überzeugend geschildert. Das Kapitel über
RainerMaria Rilke könnte vielleicht entbehrlich scheinen, wenn dieser Dichter
heute nicht die große Mode wäre und von vielen Zeitgenossen, die jede
lebendige religiöse Stimmung schon für Christentum halten, erheblich überschätzt
würde. Manche meinen sogar, Rilke habe Recht, wenn er das Christentum
als eine Religion betrachtet, die hinter uns liegt. Demgegenüber erklärt
Leese: „Rilkes Festhalten am primitiven Ursprungsmythus, sein mangelndes
Verständnis für die in unserm geistigen Haushalt so tief einschneidenden und
bedeutsamen Fragen der Ethik, seine Unfähigkeit, den Begriff der Sünde religiös
(nicht moralistisch) zu deuten und zu verstehen, seine monistische Verharmlosung
und Verflachung des Todes, seine hybride (überhebliche) neue
Heilslehre von der dem Menschen obliegenden Magie der Weltverwandlung,
führen nicht über das Christentum hinaus, sondern hinter es zurück".

Das Kapitel über den Mythos vom werdenden Gott wird vielen
Lesern besonders lehrreich sein, weil es ihm Neues bietet. Leese unterscheidet
pantheistische Weltwerdung Gottes (z. B. Heraklit und Nikolaus von Cusa),
transzendente Selbstwerdung Gottes (Jakob Böhme und Sendling), immanente
Selbstwerdung Gottes. Ich darf auf die Einzelheiten nicht weiter eingehen,
muß zur Sache nur das Folgende sagen: Unser Blick In Welt und Menschen ist
in den letzten Jahrzehnten so peinlich und schmerzlich geschärft, daß uns der
Schöpfungsglaube und der Glaube an das göttliche Regiment In der Weltgeschichte
nicht mehr eine treuherzige Selbstverständlichkeit ist, sondern die
Versuchung in der Tat nahe liegt, zu meinen, man könne den Gottesglauben
nur festhalten, wenn man annimmt, daß Gott selber aus Unklarheit zur Klarheit
, aus Willkür zur Weisheit, aus Zorn zur Liebe sich in Selbstüberwindung
entwickele. Aber es ist und bleibt: Versuchung.

In dem fünften Kapitel über Welt- und Naturfrömmigkeit wird
uns die Frage dringlich gemacht, ob diese Art von Frömmigkeit nicht als ein
„Korrektiv" zum kirchlich geprägten Christentum nötig sei. Als Gipfelpunkte
naturmystischer Frömmigkeit werden uns vorgeführt Paracelsus, Jakob
Böhme, Herder, Goethe, Schelllng, Fichte (in seiner Schrift „Die Bestimmung
des Menschen" 1800), Novalis, Hölderlin, Mörike, Gottfried Keller. Ich darf
nicht verschweigen, daß Leese gegenüber Uberstiegenheiten von Hauer eine
deutliche Warnungstafel aufrichtet. Er lehnt das heroisch-tragische Lebensgefühl
, dem Hauer zugeschworen ist, seinerseits ab: „Ich halte das heroischtragische
Lebensgefühl, von dem so viel die Rede war und vielleicht noch ist,
ich will nicht sagen für eine Lebenslüge im subjektiven, wohl aber im objektiven
Sinn, für ein Ausweichen, für eine Flucht vor der Tiefe der Lebenswirklichkeit
, da der Mensch von Gott verworfen wird, weil er sich selbst verwirft.
Nur der verworfene Mensch kann die Greuel begehen, die das apokalyptische
Geschehen unserer Tage an das Licht gehoben hat. . . Damit stehen wir vor
der Frage, ob mit dem Hinweis auf Sünde und Dämonie nicht die ganze Welt-
und Naturfrömmigkeit aus den Angeln gehoben wird? Sie wird es dann, wenn
sie vorgibt, ein Letztes und Definitives zu sein. Sie wird es nicht, wenn sie
das Vorläufige der Grundoffenbarung bleibt, als das sie gemeint ist, das Mitschwingende
und Begleitende, das auch da nie aussetzt, wo das Unheilige vom
Heiligen gerichtet wird".

Als ein Glanzstück wird gewiß vielen Lesern das Schlußkapltel erscheinen
: Katholizismus und Protestantismus. Mit vollkommener Objektivität
wird das katholische Kirchenwesen geschildert. Das Selbstverständnis
der katholischen Kirche kommt in ausführlichen Zeugnissen zu Worte, und
damit die höchste Idee, die sie von sich selber hat. Aber auch die Wirklichkeit
wird anschaulich geschildert. Mit Recht wird die fundamentale Bedeutung des
geistlichen Rechtes sehr stark hervorgehoben. Sodann die Tragik der Bewegung
des Modernismus. Ich muß den Protestantismus übergehen, weil davon
im dritten Buch ausführlich die Rede ist. Dies Kapitel führt uns gegen Ende
bis in die jüngste Vergangenheit. So wird uns auf S. 405f. der wesentliche Inhalt
der berühmten in deutscher Sprache geschriebenen Enzyklika „Mit
brennender Sorge" des Papstes Pius XI. vom 14. März 1937 im Wortlaut
größtenteils vorgeführt. „Protestantisches Urteil über diese Auslassung lautet:
Die Verabsolutierungen des Gegners (des Nationalsozialismus) werden bemerkt
, aber der Balken im eigenen Auge wird weder gesehen noch entfernt.
In dieser Hinsicht bleibt also alles beim alten." Über die Bekennende Kirche
lesen wir das Folgende (S.407): „Wer überhaupt noch ernsthaft zu unterscheiden
vermochte zwischen „Christentum" und „Nationalsozialismus", wer
in Hitler den „Antichristen" sah, der mußte sich, sofern er nicht Katholik war,
der Bekennenden Kirche, wenn nicht äußerlich, so doch gesinnungsmäßig zugehörig
fühlen. Aber er wird, nachdem dies ausgesprochen, als Protestant mit
seiner Kritik nicht zurückhalten können und dürfen". Zum Problem der Una
Sancta bringt Leese ein schönes Wort von A. v. Harnack: „Niemand darf
erwarten, daß die deutschen Katholiken je Lutheraner werden; aber zu hoffen
ist, daß sie das Beste aus der Entwicklung, die mit der Reformation begonnen
hat, sich aneignen und in Ihrer Weise ausgestalten werden. Umgekehrt: Niemand
darf erwarten, daß die deutschen Protestanten je wieder katholisch