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Ausgabe:

1951 Nr. 7

Spalte:

436-437

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Winterhager, Jürgen Wilhelm

Titel/Untertitel:

Kirche, Staat und Erziehung in ökumenischer Sicht 1951

Rezensent:

Harms, Hans Heinrich

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 7

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chen Geschichte, die für deren Periodisierung und für die Aufgabenstellung
im einzelnen erhebliches leistet.

Als Merkmale dessen, was er unter Volksschule im strengen Sinne des
Wortes versteht, formuliert Sp.:

„I. Die Volksschule ist eine öffentliche Einrichtung, in Deutschland eine
Sache örtlicher Gemeinden (bzw. besonderer „Schulsozietäten") unter Aufsicht
— oft auch gemäß Oesetz — des Staates.

2. Sie ist in dem Sinne allgemeinverbindlich für alle Kinder des Volkes,
ohne Ansehen von Geburtsstand, Berufsstand und Besitzstand der Erziehungsberechtigten
, daß ihr Besuch für eine festgelegte Anzahl von Jahren
vom Staat erzwungen werden kann, falls dieser nicht gleichwertige oder höherwertige
Einrichtungen als Ersatz anerkennt. (Die Volksschule ist grundsätzlich
Pflichtschule.)

3. Die Volksschule beruht auf der Muttersprache ihrer Zöglinge . ..

4. Die Volksschule gibt im wesentlichen eine allgemein grundlegende
Bildung, noch ohne Rücksicht auf Berufsverzweigungen" (S. 12).

Eine solche Volksschule gibt es erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts.
Sie hat aber Vorformen. Sp. setzt bei einer Würdigung des 16. Jahrhunderts
ein. Er zeigt, wie gewisse mittelalterliche Ansätze einer Muttersprachschule
mit Lese-, Schreib- und Rechenunterricht, durch die Reformation bestätigt
und durch die allgemeine christliche Kinderlehre wesentlich ergänzt werden.
Die Vorform der Volksschule im 16. Jahrhundert wird also vorwiegend durch
zwei Fächergruppen bestimmt: einerseits Lesen, Schreiben, Rechnen, andererseits
Christenlehre und Choralsingen.

Das 17. Jahrhundert trägt durch folgende Leistungen zur Entwicklung
der Volksschule bei: „1, Die wichtigste ist die Erklärung der allgemeinen
Schulpflicht durch den Staat . . .

2. Die deutsche Sprache erwacht zu stärkerem Eigenleben und setzt
sich mindestens für elementares Wissen als geeignetes Ausdrucksmittel durch.
3. . . . Eine Didaktik als Theorie der Lehrkunst entsteht. 4. Die moderne
Sprachforschung tritt auch in den Schulen zaghaft neben den Betrieb der
alten Sprachen: der Realismus beginnt seinen langen Kampf mit der bloßen
Wissenstradition und dem Verbalismus" (S. 19). Zu den alten Stoffgruppen des
16. Jahrhunderts, „die nunmehr methodischer betrieben wurden, war ein bescheidener
Stand an Naturkunde, Landeskunde und Wirtschaftskunde hinzugekommen
" (S. 23).

Im 18. Jahrhundert tritt zu den alten Stoffgruppen wieder eine neue hinzu
: die Industriearbeit, d. h. die Kopplung der schulischen Bildung mit kindlicher
Erwerbstätigkeit in Stadt und Land. Das Motiv ist zunächst, auf diese
Weise auch den Armen, die kein Schulgeld zahlen können, eine Schulbildung
zu ermöglichen, dann aber auch das pädagogische Prinzip der gemeinnützigen
Tätigkeit. Sp.s Charakteristik dieser Entwicklung ist besonders interessant.
„Es gehört zu den Paradoxien der Geschichte, daß das Elend der Kinderarbeit
seinen Ursprung erst in der christlichen Liebesgesinnung, und dann In philan-
tropischer Hilfsbereitschaft gehabt hat" (S. 25).

Das 19. Jahrhundert, das die allgemeine Entfaltung der deutschen Volksschule
bringt, bedeutet zunächst die „Wiederausscheidung des ökonomischen
Prinzips" durch neuhumanistischen Einfluß, sodann aber, positiv, die Geltung
des Prinzips der allgemeinen Menschenbildung als .allseitige Kraftbildung'.
Pestalozzi, gefördert durch Fichte, tritt seine innere Herrschaft über die
deutsche Volksschule an. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts löst der
Einfluß der Herbartischen Pädagogik den Einfluß Pestalozzis — nicht zugunsten
der deutschen Volksschule — ab.

In den pädagogischen Strömungen des 20. Jahrhunderts wird als wichtigstes
Anliegen gesehen, die Ausschaltung des ökonomischen Prinzips in der
Volksschule auf neuer Ebene rückgängig zu machen, d. h. den Arbeitsgedanken
von dem Erwerbsgedanken zu trennen und ihn in dieser neuen Gestalt den
Aufgaben der Volksschule dienstbar zu machen. Sp. formuliert folgenden Leitsatz
: „Die deutsche Volksschule hat die Pflicht, die Humanisierung des Arbeitslebens
vorzubereiten, indem sie den geistigen Gehalt jeder produktiven Tätigkeit
der Hand an geeigneten Urformen früh zur Anschauung bringt und gleichzeitig
die gemeinsame Arbeit an sittliche Ordnungsformen bindet" (S. 49).

Die scheinbar sehr äußerliche Gliederung nach Jahrhunderten
entspricht also nach Sp.s Uberzeugung dem Einfluß bestimmter
geistesgeschichtlicher Faktoren, die die Inhalte der
werdenden und gewordenen Volksschule bestimmen. Eine
Fülle von Einzeldaten belegen diese Uberzeugung.

Der weitgehende Zusammenklang von Sp.s Entwurf mit
W. Flitners schönem Buch „Die vier Quellen des Volksschul-
gedankens" (Hamburg 1941), das bei Sp. die verdiente Würdigung
erfährt, macht den Leser in dem Eindruck sicher, hier
Leitlinien des Verständnisses der deutschen Volksschulgeschichte
zu finden, die sich bewähren werden. Vor allem auch
in der Einzelforschung, für die Sp. sehr reiche Anregungen
gibt. Damit ist nicht ausgeschlossen, daß bestimmte Thesen
Sp.s Ergänzungen und Korrekturen erfahren werden. Z.B. ist
das für den religiösen Bereich zu erwarten. Es ist keineswegs
so, daß Sp. den Anteil des Christentums, besonders des protestantischen
, an der Geschichte der deutschen Volksschule
verschweigt, oder auch nur verkleinert; im Gegenteil könnte
man sagen, daß dieser in Sp. einen besonders gewissenhaften
Chronisten findet. Aber Bedenken werden sich bei der geistesgeschichtlichen
Würdigung dieses Anteils ergeben. Wie gezeigt,

periodisiert Sp. die Geschichte der deutschen Volksschule vornehmlich
nach den in ihr auftretenden Bildungsstoffen, bzw.
nach deren Ausscheidung. Auf die Beobachtung dieses Wiederabkommens
einmal wirksam gewordener Gegenstände lenkt
Sp. das Augenmerk des Historikers mit besonderem Nachdruck
. Es ist kein Zweifel, daß damit ein wirklich wichtiger Gesichtspunkt
für die Forschung gegeben ist. Für den Anteil des
Christentums an dem Bildungsstoff der Volksschule ergibt sich
ein fortschreitender Ausscheidungsprozeß, der sich bis zur Gegenwart
hinzieht. Zu zeigen, was er für die deutsche Volksschule
bedeutet, wird eine wichtige Aufgabe künftiger Forschung
sein. Dabei wird man freilich mit dem Verständnis des
christlichen Glaubens als Bildungsstoff nicht auskommen. Vor
allem aber wird sich die Meinung, daß es sich bei der Vertretung
christlicher Gehalte im deutschen Volksschulwesen um
kirchenpolitische Interessen handelt, in dem Umfang und mit
dem Gewicht, die sie bei Sp. hat (vgl. etwa S. 16, 53f., 65)
nicht halten lassen. Das wird besonders bei Sprangers "Würdigung
der Stiehlschen Regulative deutlich. Sp. wiederholt den
alten Vorwurf, daß diese ,,ein dunkler Fleck in der Geschichte
der preußischen Volksschule" (S. 44) seien. Ich hoffe, an anderer
Stelle zeigen zu können, daß unser Urteil heute doch wesentlich
differenzierter und damit für die weitere Entwicklung
der deutschen Volksschule und ihres Verhältnisses zur evangelischen
Kirche aufschlußreicher sein kann. —

Der zweite Aufsatz über die Volksschulpflicht ergänzt den ersten durch
die besondere Berücksichtigung der Schulpflichtbcstimmungen. .

Der dritte „Zur Geschichte der Berufsschulpflicht" ist eine durch den
großen Reichtum an Einzelheiten besonders dankenswerte Chronik des Berufsschulgedankens
. —

Man wird die Neuerschließung von Sp.s Arbeiten nicht
nur ihres Ideen- und Dateureichtums wegen begrüßen. Sie lenken
nach dem Hiatus von 1945 die Aufmerksamkeit der Forschung
in ungemein lehrreicher Weise auf Stand und Probleme
der Volksschulgeschichtc. Darüber hinaus wird deutlich, welchen
erheblichen Anteil Sp. seit seinem Buch über „Wilhelm
v. Humboldt und die Reform des Bildungswesens" (Berlin
1910) an der deutschen Bildungsgeschichte genommen hat. Ist
dies auch ein unbeabsichtigter Erfolg der Neuveröffentlichung,
so wird mau für ihn um so dankbarer sein müssen, als die Bedeutung
Sp.s als Historiker schon allzulange hinter seinen
großen systematischen Leistungen zurückgetreten ist. —

Für die Entwicklung der Schule als öffentliche Anstalt ist wichtig, daß
der „gemeine Kasten", aus dem auch Schulen Mittel zuflössen, nicht die Ratskasse
war (so Sp. S. 16 und 54). Der gemeine Kasten ist eine von Luther angeregte
Sonderkasse der evangelischen Stadtgemeinden (samt eingepfarrten
Dörfern) für die Bedürfnisse der Kirche, Schule und Armenfürsorge, an deren
Verwaltung Ratsherren neben Vertretern der Gemeinde teilnahmen. Näheres
in W.A. 12, lff. und bei Alfred Schultze, Stadtgemeinde und Reformation
1918, S.44ff.; vgl. außerdem die wichtige Würdigung dieser Einrichtung im
Rahmen der Sozialcthik des Luthertums bei Holl, Gesammelte Aufsätze I,
276 und 509.

Celle Helmuth Kittel

Winterhager, Jürgen Wilhelm, Dr.: Kirche, Staat und Erziehung in

Ökumenischer Sicht. Berlin: Christlicher Zeitschriftenverlag 1948. 32 S.
8° = ökumenische Reihe, Heft 5. Kart. DM2.10.

Wie begegnet die Christenheit der zunehmenden Entfremdung
ihrer Glieder von der Kirche ? „Hat die Kirche vergessen
, daß der Dienst des Herrn selber ein dreifacher war,
daß er zuerst lehrte, dann verkündigte und heilte?" (S. 3).
Unsicherheit und Not in den Fragen der Erziehung und der
Schule bestehen nicht nur in der deutschen Christenheit. Ein
Blick in außerdeutsche Verhältnisse kann Klärung und Hilfe
geben. „Erst wenn wir die Entwicklung der Kirche, des
Staates und der Erziehung in anderen Kulturländern verstehen
, können wir unser Beten und Arbeiten, unser Zeugnis
und unsere Nachfolge wahrhaft ökumenisch ausrichten" (S. 4).
So werden unter Verarbeitung einer Fülle von Literatur Geschichte
und gegenwärtige Lage der kirchlichen Erziehung
in den USA (S. 5—20) und Großbritannien (S. 20—32) in
knappen, dadurch gelegentlich etwas vereinfachenden Strichen
gezeichnet. Der Verlust des „inneren Friedens" in den USA,
der zum Teil durch diese Geschichte bedingt ist (S. 14), wie
die „Schuld" alten und neuen Schwärmertums, die dazu geführt
haben, werden offenbar. Und auch die Entwicklung in
Großbritannien führt zu dem Schluß: „Darum sind die Männer
der kirchlichen Schule gleichsam die Wächter über den .inneren
Frieden', über das Gnadengeschenk der Taufe" (S. 31). Die
deutsche Christenheit hat allen Anlaß, auf die Erfahrungen
der Schwesterkirchen auch in dem Bereich von Schule und
Erziehung zu achten und könnte sich dadurch vor Irrwegen
behüten. — über die Haltung der römisch-katholischen Kirche