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Ausgabe:

1951 Nr. 6

Spalte:

374

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Weizsäcker, Viktor von

Titel/Untertitel:

Arzt und Kranker 1951

Rezensent:

Delekat, Friedrich

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373

Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 6

374

heilende Kraft sich verdichten in Aussprache, Bekenntnis,
Vergebungszuspruch, Wiedergutmachung. — Eigentümlich ist
weiter die Forderung eines Aussprachepartners. Wie erfahrungsgemäß
oft erst das Gespräch unter vier Augen zu
einem Durchstoß führt, so sieht R. es als unentbehrlich für
gesundes geistliches Leben an, daß es immer wieder zu einer
offenen Aussprache kommt zwischen zwei Menschen, die sich
dauernd für einander vor Gott verantwortlich wissen. — Ein
weiterer Schritt soll nach R. führen in die seelsorgerliche
Gemeinschaft. Die Seelsorgetagung schafft eine mit geistlichen
Kräften geladene Atmosphäre; der Seelsorgekreis ist
ein Gemeinschaftswerk, das weit über das hinaus geht, was
dem einzelnen Seelsorger möglich ist; die Einordnung in einen
tätigen Menschenkreis gewährt dem Christen Halt und Zucht
bis in den Alltag hinein.

Die Ausführungen R.s verdienen m. E. ernstliche Beachtung
in Wissenschaft und Praxis. Es herrscht auf dem Gebiet
der Seelsorge so viel Unsicherheit und Ratlosigkeit und 111 ihrer
Folge so viel Resignation, daß dies gesclilossene Bild einer zielstrebig
durchgeführten Seelsorge kräftig Anstoß geben kann.
Allerdings macht es auch einige kritische Fragen nötig. Wenn
gesagt wird: In der Aussprache kommt das Böse ans Licht,
es wird klar erkannt und anerkannt ,,uud ist deshalb schon zum
Teil entmächtigt" (S. 80), ist dabei und ebenso an einigen
anderen Stellen die Grenze gegen psychoanalytische Bewußt-
rnachung deutlich genug gezogen ? Wenn die Notwendigkeit
eines ständigen Austauschpartners bezeichnet wird als ein
..Grundgesetz der Gemeinschaft mit Christus" (S. 130), läßt
sich dieser Satz neutestamentlich begründen ? Wenn zwar
deutlich der Vorrang der Gnade Gottes, die Wirksamkeit des
Heiligen Geistes hervorgehoben wird, ist — um des Verf.s
eigene Terminologie anzuwenden — die Verdichtung der
Gnade, des Geistes im Worte Gottes, seine konkrete die Begegnung
erst ermöglichende Gestalt im Worte der Heiligen
Schrift ernst genug genommen ? Mindestens auf die große Gefahr
muß nachdrücklich hingewiesen werden, daß das Wort
Gottes, dessen Alleinwirksamkeit gerade in der Seelsorge eben
Thurneysen so klar herausgearbeitet hat, zurückgedrängt
wird hinter Dinge, die doch nur abgeleitete Bedeutung haben
sollten. So wird das Zeugnis christlichen Lebens offenbar
höher bewertet als das Zeugnis der Verkündigung des Wortes
(S. 60). So wird die Atmosphäre etwa der seelsorgerlichen
Tagung als ,,geistige Akkumulation" in einer Weise bewertet,
die das Seelische wichtiger nimmt als den strengen Zusammenhang
mit dem Worte (S. 62). So wird auch die Stille, deren
Bedeutung für die Seelsorge auch ich sehr hoch einschätze,
doch beinahe als eine an sich wirksame Kraft betrachtet, wenn
es heißt: ,,Es kann auch eine Bibelstelle zum Ausgangspunkt
der Besinnung genommen werden" (S. 89). Noch bedenklicher
wird dieses ,,es kann auch", wenn es nach längeren Erörterungen
über die Aussprache heißt „Zur vollen Lösung gehört
noch etwas Unentbehrliches, die Erfahrung und Zuspräche der
Vergebung" (S. 98). Alle diese kritischen Fragen lassen sich
auf eine Frage zurückführen. So dankenswert es ist, daß hier
mit der Sachlichkeit und Hilfsbereitschaft des Arztes Seelsorge
getrieben werden soll, so droht doch damit eine Verschiebung
einzutreten. Ausgangspunkt und Richtpunkt der
Seelsorge wird der Mensch in seiner Not, in seiner Hilfsbedürftigkeit
, mit seinen Erfordernissen. Muß nicht auch für die
Seelsorge Ausgangspunkt und Richtpunkt ausschließlich der
Wille Gottes in Gericht und Gnade sein, wie Gott ihn in
semem Wort kundgetan hat ? Für alle Seelsorge, die um ihrer
Bindung an den Auftrag des Wortes willen die menschliche
Wirklichkeit übersieht und sich an reiner Lehre genügen läßt,
«t der Dienst unbedingt nötig, den R. tut. Aber die Frage ist

nun erst recht gestellt und noch nicht endgültig beantwortet,
wie eine Seelsorge gestaltet sein muß, die die Wirklichkeit des
Menschen kennt und ernst nimmt und doch ihren Grund und
ihr Recht allein aus dem Worte Gottes nimmt.

Kiel H. Rendtorff

Weizsäcker, Viktor von: Arzt und Kranker. 3., vermehrte Aufl. in zwei
Bänden. Bd. I. Stuttgart: K. F. Koehler 1949. 231 S. 8». Pp. DM6.50.

Das Buch enthält eine Sammlung der Vorträge und Aufsätze
Weizsäckers aus den letzten 25 Jahren. Bisher ist nur
der erste Band erschienen. Er beginnt mit einer Gegenüberstellung
von Hippokrates und Paracelsus (1923). Dann folgt
ein Vortrag über „medizinische Anthropologie" (1927), ferner
„Stücke einer medizinischen Anthropologie" (ebenfalls 1927).
Dies ist das Lieblingsthema Weizsäckers, das er mehrmals angeschlagen
, aber bis jetzt noch nicht durchgeführt hat. Der
Vortrag „Kranker und Arzt" wurde 1928 auf einem philosophischen
Kongreß in Leipzig gehalten. Den Schluß bilden
„Wege psychophysischer Forschung" (1934) und eine Gedächtnisrede
auf Ludolf v. Krehl (1937), dessen Schüler
Weizsäcker ist. Uber die medizinische Bedeutung der Arbeit
Weizsäckers vermag ich kein Urteil abzugeben; ich kann nur
über ihre allgemeine geistige Tendenz sprechen. Weizsäcker
gehört nicht zu den Gelehrten, die „Schule machen". Wer das
will, muß eine feste Methode haben und an seine Methode
glauben. Weizsäcker ist aber ein ausgesprochenermaßen
methodenungläubiger Mensch. Ihm geht es gerade darum, eine
starr gewordene Methodik medizinischen Denkens und Hand-
delns aufzulockern. Dies stellt ihn im gewissen Sinne außerhalb
der Fachwissenschaft, wo er infolgedessen umstritten ist.

Um so wichtiger ist die Bedeutung seiner Arbeit für die
allgemeine geistesgeschichtliche Situation. Seit den 20er
Jahren dieses Jahrhunderts hat sich die schon seit längerer Zeit
vorhandene Unsicherheit mit Bezug auf den positivistischen
Ansatzpunkt des Denkens in allen Wissenschaften zu einer
klaren Ablehnung entwickelt. Mau kann an Weizsäcker studieren
, an welchen Punkten in der Medizin die Unzulänglichkeit
einer nur auf das „objektive Gegebene" gerichteten Denkmethode
zutage tritt. Dieser angeblich „objektiv" denkenden
Methode der medizinischen Diagnose und Therapie gegenüber
betont Weizsäcker die Wichtigkeit des subjektiven Moments,
das in dem persönlichen Verhältnis zwischen Krankem und
Arzt liegt. Von da aus verändert sich die medizinische Fragestellung
. Der Arzt hat nicht zu fragen: Welches Organ ist
krank? Sondern: Wer ist krank? Und: Warum fühlen Sie
sich krank ? So tritt der unlösliche Zusammenhang zwischen
physischer und seelischer Erkrankung ans Licht. Die sozial-
medizinischen Organisationen (Versicherungen, Krankenkasse
, Rentenanstalten) werden fragwürdig usw. Dieser hiermit
angedeuteten Wendung in der Blickrichtung in der Medizin
entspricht in der Philosophie die Wendung vom weltanschaulichen
zum existentiellen Denken. Aber so fruchtbar
die Fragestellung Weizsäckers nicht nur für die Medizin, sondern
auch für die psychische und die philosophische Anthropologie
sind; es besteht doch zwischen dieser neuen Art von
medizinischer Blickrichtung und der Existenzialphilosophic
ein wesentlicher Unterschied. Weizsäckers Gedanken sind das
Ergebnis einer klinischen Erfahrung. Sie sind wie alles gesunde
medizinische Denken mit der praktischen Verantwortung
des Arztes verbunden.

Auf die Beziehungen der Gedanken Weizsäckers zur Theologie
habe ich bereits in Nr. 7 des Jahrg. 1950 der ThLZ
hingewiesen.

Mainz Friedrich Delekat

VON PERSONEN

Hans Preuß t

Am Pfingstsonntag nachmittag verschied in Erlangen nicht lange vor
oliendung seines 75. Lebensjahres der Professor der Theologie D. Dr. Hans
reuß. Er war von 1919 bis 1946 Ordinarius an der Erlanger Theologischen
ultät 'ur die Fächer der Kirchengeschichte, Konfessionskunde und christchen
Kunstgeschichte gewesen. In den schwierigen Jahren nach dem ersten
Weltkrieg (1922 23) führte er das Rektorat der Universität. — Einen umfassen-
en uberblick über sein Lehr- und Forschungsgebiet bot er in dem Band „Von
en Katakomben bis zu den Zeichen der Zeit. Der Weg der Kirche durch zwei
Jahrtausende." Im Mittelpunkt seiner Forschertätigkeit aber stand Martin

Luther, der Reformator; sein Bild ließ er in einer Folge von vier Bänden erstehen
: „Luther, der Künstler, der Prophet, der Deutsche, der Christenmensch".
Ein zusammenfassendes Bändchen, erst 1947 erschienen, ist „Martin Luther,
Seele und Sendung" betitelt. Nebenher ging mit besonderer Liebe betrieben,
seine Forschung über die Kunst der christlichen Kirche; davon zeugen u.a.
sein schönes Buch über „das Bild Christi Im Wandel der Zeiten" und seine
Skizzen über Dürer-Michelangelo-Rembrandt und Bach-Mozart-Wagner.

Die Bestattung der irdischen Hülle des Heimgegangenen fand am
Mittwoch, dem 16. Mai, um 11 Uhr auf dem Neustädter Friedhof In Erlangen
statt.

Erlangen O. Stähl in