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Ausgabe:

1951

Spalte:

372

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Thurneysen, Eduard

Titel/Untertitel:

Seelsorge und Psychotherapie 1951

Rezensent:

Rendtorff, Heinrich

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371

Theologische Literaturzeituug 1951 Nr. 6

372

radezu eine Technik der seelsorgerlichen Methode entwickelt
wird. — So aufschlußreich und interessant das Gespräch
zwischen lutherischer, pietistischer und reformatorischer Seelsorge
ist, verführt nicht die Anwendung des Dreitaktschemas
zu einer Verwischung der Konturen ? Kann man wirklich soweit
gehen, wie T. es tut, eine Übereinstimmung des seelsorgerlichen
Grundanliegens bei Luther und Calvin festzustellen ?
Führt nicht die reformierte Seelsorge als disciplina praktisch
immer wieder zu einer richterlich kontrollierenden Haltung
, von der T. selber nicht ganz frei ist, wie seine mehrfache
Formulierung verrät ,,die Kirche kann nicht dulden . . ." ?
Ist nicht von dem pure et recte in augustana VII doch noch
ein weiter Weg zu der Sicherung der Verwirklichung des
Wortes durch die Kirchenzucht ? Ist die mutua consolatio
fratrum der art. smalc. nicht doch etwas wesentlich anderes
als die Rückfrage, die vor einer konkreten Ordnung Rechenschaft
fordert ? Muß der Ansatz nicht noch wesentlich weiter
geführt werden, als T. es tut, wenn er hinter den drei von ihm
gekennzeichneten Auffassungen der Seelsorge eine Verschiedenheit
des Kirchenbegriffes ahnen läßt? Ich meine, daß in
dieser Richtung die dankenswerten Ausführungen von T. eine
große noch ungelöste Aufgabe zeigen. Und endlich: Sollte nicht
an dieser Stelle, wo es um eine Überwindung und Aufhebung
der in der Geschichte zutage tretenden Teillösungen geht, mit
ganz anderem Nachdruck das Neue Testament nach seiner Auffassung
der Seelsorge befragt werden (Joh. 4; Joh. 10; act. 28;
die Aussagen über nagwiaXelv u. a.) ? Und müßte nicht eine
theologisch entwickelte Auffassung von der Seelsorge über die
Prolegomena hinaus durch eine konsequente Anwendung in
den folgenden Kapiteln eines Lehrbuchs erhärtet werden ? Es
ist auffallend, wie wenig T. in den folgenden Kapiteln auf den
reformierten Begriff der Kirchenzucht zurückgreift. Alle
diese Fragen sollen zeigen, wie fruchtbar und vorwärtsweisend
T.s Ansatz ist.

Er wird von T. selber weitergeführt und vertieft in einer
gründlichen Darstellung der biblisch-reformatorischen Anthropologie
. Die Existenz des Menschen, dem die Seelsorge helfen
will, kann in ihrer personalen Ganzheit nur verstanden werden
unter dem Anspruch Gottes, wie er sichtbar wird in der Menschwerdung
Jesu Christi. Die allein entscheidende Frage ist, ob
der Mensch mit seinem Leibsein und Seelesein unter Gottes
Anspruch lebt oder nicht. Jede natürliche Menschenerkenntnis
, die den Menschen nur aus sich selbst zu deuten versucht,
kann nicht zum Ziele kommen. Erst in der Vergebung der
Sünden durch das Gnadenwort Gottes in Jesus Christus kann
der Mensch seine Bestimmung erfüllen. In folgerichtiger Auseinandersetzung
mit andersartigem Menschenverständnis, sowohl
einem einseitig pietistischen, wo die pietas des Menschen
neben und sogar vor das Werk Gottes in Jesus tritt, wie einer
katholischen Seelenleitung, die die Gnade an die Natur des
Menschen anknüpfen läßt, wie einer außerkirchlichen Seelenpflege
, die von ihren psychologischen Möglichkeiten aus nicht
mit der unheimlichen Wirklichkeit der Sünde rechnen kann,
tut T. für das Gebiet der Seelsorge denselben Dienst der Klärung
, um den es der jüngsten evangelischen Lehre von der
Erziehung geht, und läßt damit den bedeutsamen Wandel in
der ganzen Praktischen Theologie auch an dieser Stelle sichtbar
werden. Alles kommt zuletzt an auf die Begegnung des
Menschen in seiner Ganzheit mit dem Worte Gottes. ,,Das zu
verkündigen, und zwar dem Einzelnen und ihm konkret in
sein Leben hinein, und dies von der Predigt der Gemeinde her,
das ist die Aufgabe der Seelsorge."

Dem umfangreichen zweiten Hauptabschnitt geht es um
die praktische Anwendung der übergeordneten Alleinwirksamkeit
des Wortes Gottes und der biblisch-reformatorischen
Schau des Menschen. Die rechte Gestalt der Seelsorge ist das
Gespräch, dessen Gestalt und Inhalt in ganz eigenständigen
Untersuchungen nachgegangen wird. Es ist ein Hinhören auf
das Wort Gottes und zugleich ein Hinhören auf den Menschen,
ein Ernstnehmen des Machtbereiches Christi mitten in den
dunklen Bereichen der Lebensproblematik. Es redet den Menschen
als den Sünder an und richtet ihm die Vergebung der
Sünden in Jesus Christus in ihrer ganzen Bedingungslosigkeit
und Freiheit aus. Sowohl das vollmächtige Ausrichten dieser
Botschaft wie das Hören und Annehmen wird allein bewirkt
von der Macht der Gnade, durch die Kraft des Heiligen Geistes.
Aber gerade das kühne und geduldige Trauen auf diese Kraft
lehrt den Seelsorger, alle ihm zugänglichen pädagogischen und
psychologischen Mittel einzusetzen. Psychologie und Psychotherapie
sind als Hilfswissenschaften zur Kenntnis der inneren
Natur des Menschen unentbehrlich. Sie bedürfen freilich der
kritischen Eingrenzung durch das aus der Heiligen Schrift erhobene
Menschenverständnis und durch die Beziehung auch

von Krankheit und Heilung auf Sünde und Gnade. Das vornehmste
Mittel der Seelsorge bleibt das Gebet als Bitte um
den Heiligen Geist. Dieser Abschnitt ist reich an wertvollen
Hinweisen und Hilfen für die praktische Seelsorge.

Ein dritter Hauptteil beschreibt den Vollzug der Seelsorge
. Er fordert die rechte Aufrichtung von Evangelium und
Gesetz, von Rechtfertigung und Heiligung, die rechte freudige
Buße vom Evangelium her. Er entwickelt die Art des echten
evangelischen Beichtgespräches und bezeugt zuletzt die Vergebung
der Sünden als die Machttat des Christus, die realiter
in die Bereiche der Finsternis hineinwirkt. Ein kurzer Schluß-
abschnitt wird mit seinen praktischen Anweisungen selbst zur
Seelsorge an den Seelsorgern.

So ist diese umfassende Lehre von der Seelsorge in ihrer
Verbindung von strenger theologischer Konzentration auf das
Wort der Vergebung mit der Weite der Auseinandersetzung
mit der Wirklichkeit des Menschenlebens und der Wärine
reicher praktischer Erfahrung geeignet, die Poimenik hineinzuziehen
in die Bewegung einer vom Worte Gottes her sich
erneuernden Theologie. Mit ihren vielen offenen Fragen stellt
sie die Forschung vor bedeutsame Aufgaben und gibt zugleich
der seelsorgerlichen Praxis reiche Anregung.

Kiel H. Rendtorff

Thurneysen, Eduard: Seelsorge und Psychotherapie. München: Chr.

Kaiser Verlag 1950. 24 S. 8° = Theologische Existenz heute, N. F. 25.
DM 1.30.

Dieses Heft ergänzt das große Werk. In Offenheit für die
von ärztlicher und psychologischer Seite erarbeiteten Erkenntnisse
, in Bereitschaft hier zu lernen, ja mit der ausdrücklichen
Forderung an den kirchlichen Seelsorger, gemeinsam mit dem
Mediziner und dem Psychologen unermüdlich um das volle
Menschenverständnis zu ringen, wird doch die deutliche
Grenze gezogen durch die knappe, aber klare Herausstellung
des biblischen Menschenbildes und der Einzigartigkeit der
biblischen Botschaft. Mit ihren Warnungen und positiven
Hinweisen ist die Schrift eine wertvolle Hilfe zu einem Gespräch
zwischen Medizinern und Psychologen emerseits und
Theologen andrerseits mit dem Ziel, daß beide aufeinander
hören und voneinander lernen.

Kiel H. Rendtorff

Riecker, Otto: Die seelsorgerliche Begegnung. Gütersloh: C.Bertelsmann
11947]. 188 S. 8». Geb. DM 9.50.

Unter den Arbeiten zur Seelsorge nimmt dies Buch eine
besondere Stellung ein. Es beschreibt den Weg des seelsorgerlichen
Gespräches. Grundhaltung, persönliche Voraussetzung,
von außen nach innen, der Weg ins Persönliche, zur Selbsteinsicht
, von der Not zur Schuld; die Aussprache, die Beichte als
Hilfe zur konkreten Sündenerkenntnis, als Probe der Demut
und Ehrlichkeit, als Absage; der Zuspruch der Vergebung, die
Hingabe der Sünden und der Gaben, die Wiedergutmachung;
die Weiterbegleitung, die Einordnung in die Gemeinschaft, die
Überführung in den Alltag. Diese Stichworte zeigen, daß hier
der Versuch unternommen wird, Schritt für Schritt das seel-
sorgerliche Geschehen zu beschreiben. Das Material zu der
sorgfältig alle Möglichkeiten, Hindernisse und Hilfen abwägenden
Untersuchung stammt aus eigener Erfahrung des
Verf.s, vor allem in der Krankenhaus-Seelsorge, aus der erweiterten
Erfahrung seines Mitarbeiterkreises, aus gründlicher
durch Verarbeitung der theologischen, psychologischen und
psychotherapeutischen Literatur erworbener Sachkenntnis.
Kennzeichnend sind die warme hilfsbereite Liebe, mit der den
verschlungenen Pfaden des Menschenlebens nachgegangen
wird; die offene Bereitschaft des Hinhörens auf die Not des
Menschen und auf die Führung Gottes; das Ernstnehmen auch
der kleinen Dinge des wirklichen Lebens, an denen so oft die
Entscheidung fällt; die unbedingte Achtung vor der Freiheit
des Andern, die jede gewaltsame Führung und jeden Glauben
an eine sichere Methode ablehnt.

Als besondere Eigenheiten der von R. erstrebten Seelsorge
seien unter anderen die folgenden hervorgehoben.
Gegenüber der protestantischen Einseitigkeit, alles geistliche
Geschehen zu konzentrieren auf die rein forensisch und damit
praktisch nur zu oft rein gedanklich verstandene Rechtfertigung
drängt er auf die Verwirklichung. Es geht um die
wirklichen, d. h. ganz konkreten Sünden; um einen wirklichen
Weg, mit ihnen fertig zu werden; um das wirkliche Gericht
Gottes, die wirkliche Vergebung, ein wirkliches neues Leben.
Wie die Sünde (sing.) die Macht der Finsternis sich verdichtet
in ganz konkreten Sünden (plur.), so kann und muß auch die