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Ausgabe:

1951 Nr. 6

Spalte:

341-346

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Leeuw, Gerardus van der

Titel/Untertitel:

Wegen en Grenzen 1951

Rezensent:

Rosenkranz, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 6

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historisch, ,.religionsgeschichtlich" beantwortet werden ? —
Die Tiefe des Problems kann erst „im christlich-abendländischen
Kulturkreis" aufgedeckt werden. — Die Wendung
kommt mit der Erscheinung Jesu Christi. Er spricht den
Glaubenden die Sündenvergebung zu und zu ihrem Erweis
heilt er die Krankheit. Unabweisbar ist der Zusammenhang
der Krankheit mit der Sünde, mehr noch mit Sündhaftigkeit
und Erbsünde, — aber zugleich wird die unerbittliche Kausalverknüpfung
im konkreten Ereignis gelöst. Wenn (Job. 9.
die Jünger nach der Ursache der Krankheit des Blindgeborenen
fragen, weist Jesus auf den Sinn hin: „die Werke Gottes
sollen an ihm offenbar werden". Aus Erbarmen, um die Liebe
Gottes kund zu tun, nimmt Jesus sich der Armen und Kranken
an, der Kranken, die eben in ihrem Leiden ihre Armut, ihre
Bedürftigkeit erkennen und damit auf die Verheißung im Glauben
verwiesen und zugleich vor die Entscheidung gestellt werden
. Ein ungeheurer Einschnitt in der Geschichte. — Im
Mittelalter ringen, wie an zahlreichen Beispielen und Berichten
gezeigt wird, Dämonenglaube und allzustrenge Gesetzlichkeit
in oft verwirrender Fülle mit der durch Jesus geschenkten
Freüieit des Glaubens. Luther sah „zwar viele Mißstände
und Verirrungen der Kirche klar und brachte neue
Möglichkeiten einer vertieften Gläubigkeit", aber „er leistete
zugleich durch seine Lehre von der ursprünglichen und grundsätzlichen
Sündhaftigkeit des Menschen ... all den wirren
Vorstellungen von Sünde, Krankheit und Schuld nur Vorschub
. Und da der Mensch von sich aus keiner guten Tat fähig
war, letztlich alles nur durch die Gnade Gottes erwirkt wurde,
war ja auch die Freiheit des Wollens, die Entscheidung zwischen
Gut und Böse in Gefahr, aus der menschlichen Ebene
herausgerissen zu werden. So war der Wirrnis kein Ende".
Daß mit dieser einseitigen Sicht das Anliegen der Reformation
wirklich erfaßt wäre, wird man kaum zugeben können. — Wenn
die Reformation „das Verdienst hatte, die Einzigkeit des
Menschen" zu betonen, so trat zugleich der „Gliedcharakter,
das Mitteiihineingestelltsein in den Kosmos in den Hintergrund
".

In die Spannungen dieser Zeit wurde Theophrast von
Hohenheim hineingeboren, dessen Geist „von bester protestantischer
Gesinnung Zeugnis ablegen könnte", dessen
Lehre sich aber in die alten, astrologischen, philosophischen
und katholischen Überlieferungen einfügt, „indem er sie belebt
und mit neuen Augen sieht". Paracelsus' Lehre von den
4 Entia wird ziemlich eingehend entwickelt; er hat erkannt,
daß die Medizin eine Erfahrungswissenschaft sein muß, er hat
unablässig beobachtet und gesammelt, aber er wurde zugleich
der „geistigen Richtung, die in der Krankheit die Wurzeln
außerhalb der sinnlichen Erfahrungen sucht, gerecht". Um
die Diagnose zu stellen, „führen wir einen heidnischen stylum,
obgleich wir christgeboren sind". Kranksein ist Störung der
göttlichen Ordnung, auf diesem Boden erwächst die Krankheit
, und der Sinn der Krankheit ist eine „Katharsis", durch
die enie neue Ordnung hergestellt werden soll. — In den sehr
interessanten Ausführungen über die Romantik wird über
den ungeheuren Einfluß von Schelling, über Görres, Win-
dischmann und Ringseis berichtet. Vor allem von Windisch-
mann werden zahlreiche eindrucksvolle Zitate angeführt, die

wir heute doch sehr viel besser verstehen als noch zu Anfang
des Jahrhunderts. Wenn man bedenkt, daß in neueren Lehrbüchern
der Geschichte der Medizin Windischmann nicht oder
kaum erwähnt oder mit großer Verachtung abgetan wird, so
merkt man deutlich, wie die Medizin sich gewandelt hat oder
wandelnd sich bewegt. Seitdem Freud so entscheidende psychische
Hintergründe aufgedeckt hat und seitdem nach ihm
die Grenzen des Psychologismus und die metaphysischen Probleme
wieder gesehen werden, können wir — bei aller notwendigen
Kritik — bei Windischmann wichtige Ansätze sehen,
so wenn er erkeimt, daß das Individuelle vom „orgiastischen
Geschlechtstrieb um alle feste Konsistenz gebracht wird", daß
aus echter Existenznot „Empfindungs- und Seelenleiden folgen
", daß diese Erscheinungen „selbst krankhaft sind und
vielfaches Leiden hervorbringen". Auch der nur psychologische
Standpunkt wird als sublimierter Materialismus aufgezeigt
. Sünde ist Abfall von Gott, leiblich und geistig, und
zugleich Ursache der Krankheit. Es ist die Zeit der System-
bildungen und zugleich die überschäumender Gefühle, in der
schließlich nur in der katholischen Kirche feste Form und
Halt gesucht und gefunden wurde. Auf Windischmann folgte
Ringseis, der mit seinem „System der Medizin (1841)" großes
Aufsehen erregte. Hier wird ganz ausdrücklich die Medizin
von den Dogmen der Kirche aus entwickelt und die Naturwissenschaft
hi einer „grotesken Ablehnung von Mikroskop
und Sektion" (Leibbrand) scharf bekämpft. Die Disposition
zur Krankheit kommt durch die Erbsünde, durch den Sündenfall
; der ursprüngliche, der wirkliche Mensch, wie ihn Gott erschaffen
, ist frei von Sünde und von Krankheit. Heilung
kommt aus Glauben. — Wir übersehen heute die Einseitigkeit
der Naturwissenschaft jener Zeit, die unbedenklich völlig blind
für die ihr gesetzten Grenzen war, aber gegen die allzu direkte
und kurzschlüssige Verbindung von Verfehlung und Krankheit
möchten wir doch noch ernstere Bedenken geltend
machen als von Siebenthal, der freilich selbst auf die viel
vorsichtigere und zurückhaltendere Stellung der modernen
katholischen Moraltheologie hinweist. Die Naturwissenschaft
fragt nach Kausalzusammenhängen und nicht nach Sinn-
bezügen. Sie kann aber — in den Grenzen ihrer Wissenschaft —
nicht „übernatürliche Krankheitsursachen negieren". Echtes
Christentum sieht davon ab, eine bestimmte Erkrankung als
Folge einer bestimmten Sünde anzusprechen, aber der Christ
kann „im Widerfahren der Krankheit zugleich den Augenblick
des religiösen Erfahrens gewinnen". Für die Problematik
des „Geistigen", das „das spezifische Menschliche" ist, ist die
Medizin heute wieder ganz anders aufgeschlossen, nicht zuletzt
, weil sie die Bedeutung tiefer psychischer Zusammenhänge
erkannte. Sie ist damit erneut vor die „Sinnfrage" gestellt
, und im Zusammensein von Arzt und Kranken kann sie
(oder vielmehr müßte sie) über das „Biologische" hinaus-
greifeud, „die Existenz als Geschenk der Transzendenz" erfahren
. Sie kann erkennen, daß Krankheit, „selbst eine Weise
des Menschseins", „ein sinnvoller Durchgang zu Neuem" ist,
„gleichsam nur ein Schatten, der andeutet, was wirklich geschieht
". Daß damit ärztliche Therapie einen neuen Auftrag
hat und auf neue Wege verwiesen ist, leuchtet ein. Wir stehen
an einem Anfange.

RELIGIONSWISSENSCHAFT

Leeuw, O. van der, Prof. Dr.: Wegen en Grenzen. 2., verm. Aufl. Amsterdam
: Paris 1948. XV, 473 S., 95 Abb. auf Taf. gr. 8°. Lw. hfl. 13.50.

Der Verfasser dieses Buches, der bekannte holländische
Theologe und Religionswissenschaftler, ist am 18. November
I950, erst 6o Jahre alt, gestorben. Es ist uns schmerzlich, daß
wir seine Stimme, die uns so oft in unserem Forschen und
Lehren weitergeholfen hat, nicht mehr hören werden. Seine
wissenschaftliche Arbeit hatte mit der Theologie unserer Zeit
gemeinsam, daß sie in immer neuer Besinnung aus der biblischen
Botschaft schöpfte; sie hatte eines vor vielen anderen
Ideologien voraus, daß sie das menschliche Leben im weitesten
Umkreis seiner religiösen Äußerungen in ihre Untersuchungen
hineimiahm und wertend unter das Wort der Bibel
stellte.

Davon zeugt auch das vorliegende Buch. Es ist, wie seine
erste Auflage im Jahre 1932, eine phänomenologische Untersuchung
des Heiligen und Schönen in ihrem Verhältnis zueinander
geblieben; aber was damals mit „theologischen Perspektiven
" geschrieben wurde, ist jetzt stärker zur Theologie
~ Beziehung gesetzt worden, freilich nicht zu einer Fach-
tlieologie; denn ,,Fachtheologie ist unfruchtbar wie Fach-

gelehrtheit und Fachweisheit", wie van der Leeuw im Vorwort
schreibt. In der Einleitung teilt der Verf. mit, daß er das
Heilige inhaltlich in Rudolf Ottos („Das Heilige"), formal in
Eduard Sprangers („Lebensformen") Sinn versteht; daß er
keine historische oder dogmatische, sondern eine phänomenologische
Darstellung des Verhältnisses von Religion und Kunst
geben will, um deren Grenzen, aber auch um deren Ulientbehrlichkeit
für alle historische und systematische Untersuchung
er weiß; daß es ihm dämm zu tun ist, nicht das Verhältnis
zwischen Heiligem und Schönem an sich, sondern zwischen
„heiligem Handeln und schönem Handeln der Kunst" zu
untersuchen; daß sich — bei seiner Auffassung vom Heiligen
als dem ganz Anderen — die Frage ergeben kann, ob Kunst
heilige Handlung, nicht aber die andere, ob Religion Kunst
sei oder sich in Kunst auflösen kann; und daß schließlich, wo
von „primitiv" und „modern" zu sprechen sei, darunter keine
Entwicklungsstufen, sondern Strukturen des menschlichen
Geistes zu verstehen seien.

Der erste Hauptteil trägt die Uberschrift „Die schön e
Bewegung". Mit bewundernswerter Meisterung des vielfältigen
Materials und einer faszinierenden Kunst der Darstellung
, wie wir sie aus anderen Veröffentlichungen van der
Leeuws kennen, und die sich auch in den übrigen Teilen des
Buches bewähren, werden in ihm die Beziehungen zwischen