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Ausgabe:

1951 Nr. 5

Spalte:

275-282

Autor/Hrsg.:

Urner, Hans

Titel/Untertitel:

Zur neuen Hamannforschung 1951

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275

Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 5

27d

formen der Toleranz im offenbarungsgläubigen Protestantismus
, 1923, S. 119): „Für Luther muß der Grundsatz aufgestellt
werden: ein privates Gewissen als Begründung religiöser
Freiheit kennt er nicht". — Wie diese „private Gewissensfreiheit
" dann im späteren Protestantismus doch zur
Herrschaft gekommen ist, das ist freilich ein sehr wichtiges
geistesgeschichtliches Problem, zu dessen Erhellung das Buch
Zeedens immerhin sehr schönes Material, aber leider nur
wenige wirkliche Erkenntnisse beibringt.

So legt man das Buch zuletzt doch unbefriedigt aus der
Hand, einerseits belehrt durch viele Mitteilungen von ziemlich
unbekannten Zügen des lutherischen Lutherbildes im 16.,
17. und 18. Jahrhundert, die einen den Weg von Luther als
dem „Wundermann" Gottes und Offenbarungsengel der Apokalypse
bis hin zum biederen Untertanen, gemeinnützigen Gelehrten
und Vorkämpfer der Geistes- und Gewissensfreiheit
wieder einmal verfolgen lassen; andererseits enttäuscht dadurch
, daß statt einer wirklichen Vertiefung der geistesge-

scliichtliclien Erkenntnis nun doch nur eine neue Variation
eines alten Liedes erklingt: der Zerfall der Moderne, die Auflösung
der Lebenseinheit, der Verlust der Lebensmitte schließlich
eine Folge der unvermeidbaren inneren Auseinandersetzung
der beiden in Luther angeblich vorhandenen und zusammengehaltenen
„Prinzipien", der Gewissensfreiheit des
Einzelnen einerseits, der die eigene willkürliche Lehre mit der
Wahrheit Gottes naiv gleichsetzenden reformatorischen Erkenntnis
andererseits. Man spürt wieder einmal, daß jedes Bemühen
um ein geistesgeschichtliches Verstehen der Reformation
zu ihrem Mißverständis führt, wenn es nur „philosophisch
", auch religionsphilosophisch geschieht und die theologische
Klärung der Sachfragen des Glaubens versäumt, wenn
an die Stelle des Ringens um die im Glauben bezeugte Wahrheit
das Suchen nach begreifbaren Prinzipien tritt, wenn die
Wirklichkeit des Daseins verwechselt wird mit der Welt der
Ideen. Es geht im Leben, — und in der Geschichte — zum
Glück nicht so prinzipiell zu.

Zur neuen Hamannforschung

Von Hans Urner, Berlin

Mit Rudolf Ungers Arbeiten war ein neuer ragender
Gipfel der Hamannforschung erreicht. Die Wege, die von da
aus weiterführen, sind noch nicht ausgeschritten, seine Anregungen
noch längst nicht völlig ausgewertet. Die theologische
wie die geisteswissenschaftliche Forschung finden hier
Ansatzpunkte. Rudolf Unger ist 1942 gestorben. Seine Persönlichkeit
und sein Gesamtwerk hat zuletzt eingehend Walter
Boehlich im 70. Bande der Zeitschrift für deutsche Philologie

(1947/49, S. 418-447) gewürdigt.....

Nun ist Josef Nadler an das Ziel jahrzehntelanger mühevoller
Arbeit an der alle bisherigen Ansätze abschließenden
Ausgabe der Werke Hamanns gelangt1. Es ist zu wünschen
und zu hoffen, daß von daher nicht weniger Antriebe für die
Forschung ausgehen als von Ungers Deutung, von der Werner
Milch sich schon früher zu sagen getraute, daß sie auch von
einer solchen Ausgabe nicht zu entwerten sei (Frankfurter
Zeitung vom 17. Mai 1936, zu Ungers 60. Geburtstage). Es
bleibt ja abzuwarten, welche neuen Züge dem Bilde Hamanns
noch einzufügen sind. Jedenfalls ist die Werkausgabe eine Tat
eigener Art, die ihrerseits ebensowenig von einer so gründlich
und allseitig begründeten Deutung wie der von Rudolf Unger
entwertet werden kann. Denn selbst, wenn der bisher ungedruckte
Nachlaß nur Einzelzüge vertieft, so ist eine historisch
-kritische Ausgabe der Werke Hamanns an sich ein unvergleichliches
Ereignis in der Forschungsgeschichte.

Sehen wir von den vielfachen Versuchen einer Auswahl
ab — der letzte und glücklichste dürfte der von Otto Mann
in der Sammlung Dieterich (Bd. 10, Leipzig [1937]) sem — >
so ist die jetzt begonnene Ausgabe des Gesamtwerks durch
Josef Nadler die erste Hamannausgabe in unserem Jahrhundert
und die erste wissenschaftliche im heutigen Sinne
überhaupt. Sie kommt in einem auffallend anmutigen Gewände
. Der broschierte Band, der mir vorliegt, trägt auf dem
Umschlag das Bild Hamanns aus der Hofmeisterzeit (1753 ?),
mit einer grünen Ranke umsponnen. Wir sind in die Epoche
der Empfindsamkeit versetzt. Mehrmals werden in Hamanns
Londoner Niederschriften (1758), die mit einer Ausnahme
in diesem 1. Bande ediert sind, Edward Youngs „Night-
Thoughts" (1742/45) zitiert. Dessen Schüler, dem Methodisten
James Hervey (1714—1758), weiß sich Hamann dankbar verpflichtet
, obwohl er seine physiko-theologische Allegorese
nicht aufnimmt und mancher Satz in Hamanns „Biblischen
Betrachtungen" im Gegensatz zu Herveys „grundsätzlicher
Parallelisierung von Natur und Schrift" verstanden werden
muß2. Des frühen Aufklärers Christoph August Heumann

') Hamann, Johann Georg: Sämtliche Werke. Historisch-kritische
Ausgabe von Josef Nadler. I.Band: Tagebuch eines Christen. Wien: Thomas-
Morus-Presse im Verlag Herder 1949. 349 S. gr. 8V DM 17.— ; Lw. DM 20.—.
Die Ausgabe soll bis 1952 vorliegen und 6 Bände umfassen.

Der Band enthält die folgenden Schriften Hamanns: Über die Auslegung
der Heiligen Schrift (S. 5—6). Biblische Betrachtungen (S. 7—249).
Betrachtungen zu Kirchenliedern (S. 250—297). Brocken (S. 298—309). Gebet
(S. 310—314). Betrachtungen zu Newtons Abhandlung von den Weissagungen
(S. 315—319).

2) Vgl. Rudolf Unger, Hamann und die Empfindsamkeit. In: Aufsätze
zur Literatur- und Geistesgeschichte. Berlin 1929, S. 17—39 = Euphorion
30. Bd. Stuttgart 1929, S. 154—175. Über Hervey schon früher Paul Konschel
, Der junge Hamann . . . Königsberg i. Pr. 1915, S. 47, Anm.

(1681—1764) 12bändige „Erklärung des Neuen Testaments"
(Hamburg 1750—1763) ist höchstens der äußeren Anlage nach
mit Hamanns Betrachtungen vergleichbar, insofern auch sie
keinen fortlaufenden Kommentar darstellt. Sonst handelt es
sich für Heumann bei aller beabsichtigten Gemeuiverständ-
lichkeit um wissenschaftliche Exegese. Zu Lukas 14, 12—14 er"
wähnt Hamann eine Schrift des Deisten Thomas Chubb (1679

— 1747) und deren Widerlegung durch Josiah Tucker (171^

— 1799)- Newton, Voltaire, Bolingbroke und Shaftesbury
werden genannt. Gegen Bolingbroke hatte Young schon polemisiert1
. Aber diese Namen genügen weder den Kreis der Gegnerschaft
noch gar den geistigen Ursprungsort genau abzugrenzen.
Andererseits geht es nicht an, jede geistige Beeinflussung zu
ignorieren und das „Tagebuch eines Christen" als Frucht der
bloßen Subjektivität Hamanns zu bestimmen. Die Untersuchung
von Fritz Thoms (Hamanns Bekehrung. Gütersloh
1933) ist in diesen Fragen, soweit sie sonst auch über die erwähnte
Arbeit von Konschel hinausführt, mehr psychologisch
als theologiegeschichtlich gerichtet, so daß trotz der Bemerkungen
zu Young und Hervey (S. 34/35. 39) von ihr keine
präzisen Nachforschungen und Antworten zu erwarten sind.
Rudolf Unger (Hamann und die Aufklärung. Halle/Saale
21025) ist hinsichtlich der Fülle geistesgeschichtlichen Materials
noch unübertroffen. Die Lektüre der gesamten „Biblischen
Betrachtungen", die nun erst durch die Ausgabe Nad-
lers möglich geworden ist, hinterläßt jedenfalls den Gesamt-
eindruck, daß sie aus dem Pietismus gespeist sind. Welchen
Modifikationen dieses summarische Urteil im einzelnen eu
unterwerfen wäre, bedarf noch einer wahrscheinlich mühsamen
Untersuchung, so gut auch die geistlichen Jugendeindrücke
durch Konschel schon geklärt sind und das „Bekehrungserlebnis
", mit dem die Londoner Niederschriften unlöslich
verbunden sind, durch Thoms vom pietistischen scharf
getrennt und der Grunderfahrung Luthers nahegerückt worden
ist. Religionspsychologisch wird Thoms im Recht sein. Deswegen
sind die „Biblischen Betrachtungen" wie die Betrachtungen
zu Kirchenliedern" doch im Stil wie in der Empfindung
und, wenn man davon sprechen darf, auch in ihrer
Dogmatik pietistisch. Die zweifellos nicht zu unterschätzende
Komponente der Aufklärung dürfte ebenfalls an diesem Gesamturteil
nichts ändern2.

Als wißbegieriger Leser ist man zunächst sehr enttäuscht,
daß Nadler in seiner Ausgabe uns jegliche Hilfe für solche und
ähnliche Überlegungen versagt. Nicht eine einzige Anmerkung
und nicht eine einzige Literaturangabe fördern das Verständnis
. Um so anziehender ist damit freilich das äußere Bild der
Ausgabe geworden.

Schon Jean Paul forderte „10000 Noten ad usum Delphinorum" (3. Dez.
1798 an Jacobi, zit. bei Josef Nadler, Die Hamannausgabe. Halle/Saale, 1930,
S. 109). Sollen wir uns mit der „von Hamann selbst anerkannten Unmöglichkeit
, alles Dunkle in seinen Schriften aufzuhellen" trösten wie Hegel in seiner

') Unger, a. a. O. S. 26. Zu allen Genannten, Heumann und Tucker ausgenommen
, vgl. neuerdings Emanuel Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen
Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des
europäischen Denkens 1. Bd. Gütersloh 1949.

2) Vgl. schon Rudolf Unger, Hamanns Sprachtheorie im Zusammenhange
seines Denkens. München 1905.