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Ausgabe:

1951 Nr. 4

Spalte:

221-222

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Leeuw, Gerardus van der

Titel/Untertitel:

Die Bilanz des Christentums 1951

Rezensent:

Lau, Franz

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Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 4

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Gegenüber dem Wert des Werkes fallen einige Fragwürdigkeiten kaum
ins Gewicht. Hindustani wird nicht, wie eine mir unter dem 9. 12. 1950 aus
Indien gegebene Auskunft bestätigt, „von den meisten Indern" gesprochen
oder doch verstanden (S. 7). Zu S. 10: „Zwischenkasten" sind niemals „out-
castes" (im Text ohne ,,e" geschrieben); die Herkunft der Parias aus den
„Zwischenkasten" abzuleiten Ist abwegig und unbewiesen; ebenso die Bemerkung
auf S. 8: „Viele Brahmanen sind einfach alte Stammespriester aus
Naturvolkern". Fraglich ist die Aussage S. 13/14, die mitteleuropäischen Umsiedlungen
nach 1945 seien „ein Kinderspiel" gegenüber den Umsiedlungen
zwischen Pakistan und Indien. Bei diesen handelte es sich „nur" um 10 bzw.
8 Millionen (Bourke-Whitc: Halfway to Freedom, New York 1949, S. 8;
Th. Ohm: Das Christentum im neuen Indien, St. Ottilien 1949, S. 13 u. Anm. 11
auf s. 90). Nach Lord Mountbatten's Angaben wurden von den indischen Unruhen
nur 3'/o aller Inder betroffen (Ohm: w.o. S. 13 u. 90). Die Zahl der
heutigen Indischen Christenheit ist mit 6,3 Millionen zu niedrig angegeben
(S. 17). Der Oebrauch falscher, weil eindeutig christlich vorbelegter und
darum irreführender Vokabeln auf S.23, gegenüber S. 81, sollte in einer 2. Aufl.
wegfallen.

In einer 2. Aufl. wäre auch ein Wort über Gandhis Stellung zu den Arbeitern
zu erwarten. Gerade die Textilarbeiter des „Oastgebers Gandhis", des
'ndustriellcn G. D. Birla, hielten sich während seines Fastens zurück, sie
fühlten sich von Gandhi nicht verstanden, sie erreichten sein Ohr nicht (Bourke-
White: Halfway to Freedom, S. 49, 51, 57; auf S. 229 wird das „blind eye"
beklagt, das ihn, wie andere auch, hinderte, die Arbeiternot zu sehen).

Halle/Saale Arno Lehmann

Leeuw, G. van der, Prof. Dr.: Die Bilanz des Christentums. Zürich:
Rascher Verlag 1947. 133 S. 8°. Lw. sfr. 7.20.

Das Buch ist in den Niederlanden kein neues Buch mehr.
£s ist im Jahre 1939 aus Anlaß der Willibrord-Gedächtnisfeiern
geschrieben. Die deutsche Übersetzung ist 1947 in 1. Auflage
herausgekommen. In zwei Nachworten („Im Gespräch
»dt den Lesern" und „Im Gespräch mit dem Feind") wird
kenntlich, daß mehrere Auflagen des hollämlischen Originals
erschienen sind und daß das Buch beachtet worden ist. Verf.
geht davon aus, daß das Christentum offensichtlich einen
schlimmen Verfall und eine „Abtakelung" erlebt. Der große
• .Abmagerungsprozeß" scheint in unseren Tagen sein Ende gekommen
zu haben. (NB: Drastische bis zu burschikoser Ausdrucksweise
fällt an manchen Stellen des Buches auf; so heißt
es beispielsweise: „ ... so wenig wie ein Schnelligkeitsrekord
das Königreich Gottes, ebensowenig kann ein Telephongespräch
mit Niederländisch-Indien die Offenbarung ersetzen"
~T S. 58.) Bestenfalls ist das Christentum Erbe; nicht mehr
aber ist es das, was es in Wahrheit ist, etwas, wozu man sich
bekehren soll, Entscheidung. Was ist überhaupt noch übrig ?
v.erf. zieht schonungslos Bilanz. Der Teil „Passiva" ist ausführlicher
gehalten als der Teil „Aktiva". Alles, was christliche
fcntscheidungshaltung verfälscht, zersetzt, verschleiert usw.,
geht in die Passiva; und da ist die Rede von Säkularisation
"»d Abmagerung, Aufklärung und Romantik (diese unterschied
sjch nach van der Leeuw in bezug auf die Grundstruktur der
christlichen Offenbarung und den Charakter der christlichen
Botschaft nicht wesentlich von der Aufklärung), Fortschritt,
£yolution, Technik, Nihilismus und — von der Haltung der
£lrche in diesen Dingen, der Kirche, die jedenfalls in der
JJelensive blieb. Die Aktiva? Das Interessante an diesem Ted
«es Buches ist, daß in ihm, nicht bei den Passiva, über die
grundgofahrlicheii Angriffe auf die christliche Botschaft gesprochen
wird. Hier ist gehandelt von dem bevorstehenden
*ampf zwischen indischem Unendlichkeitsbewußtsein und
ennstliehcin Gehorsam, von dem wachsenden Bewußtsein der
,'Kkeit des Lebens und der Welt, das zu einer neuen, heidischen
Religion werden will, von der Eigenreligion des Staa-
un 1 "die sicn zwar mit mancherlei Religionen vertragen kann
gWl verträgt, nur nicht mit jener Religion, die, wie das
^-'instentum, eine Kirche, ein .neues Volk' bildet" (S. 95t.)
Chv **' sieht. daß dic neuen w°gen dcn Untergang des
»p.ris.tc»tunis bedeuten können. Aber sie weisen auch auf die
inr b eit eines neuen Anfanges. Sie zwingen aus der Ruhe
ühn Bowegung und nötigen zur Entscheidung. Was nun Verf.
t "v neue Anfänge im Christentum sagt, ist etwas fragmen-
nariT1' auch hier un<1 flort unter Vorbehalte gestellt, in den
Wj(,,traglich angeschlossenen Abschnitten zum Teil sogar
eh./ 1 fraglich gemacht. Zu Barth und zur Gruppe sagt Verf.
ttSSv Ä?« Ja' nicht naiv, sondern in klarer Siebt der Proble-
ali >U' r'nilM,c Imt seiner letzten Sicht nach freilich nicht
Sät galten, was sie versprach. In erst 1946 geschriebenen
von • 'Sl offen (he Tatsache ausgesprochen, „daß bis jetzt
coiiiCUKr starken Bewegung des Evangeliums, wieder die
schliVVtUn,e niesure' herzustellen, nicht viel zu spüren ist". So
Sei , , s Buch "dt der Pfingstbitte an den Schöpfer Geist,
tarksten Stellen sind die, an denen deutlich wird, wie
u"-ni-ig Verf. vom „christlichen Nihilismus" berührt ist: „Das

Evangelium ruft auf zum Verlassen der Abgötter, sowohl derjenigen
zur linken als derjenigen zur rechten: der elementaren
, überpersönlichen Mächte sowohl als auch des menschlichen
Urteils und der eigenen Verfügung" (S. 119)- ,,Es geht
im Christentum nicht um christliche Kultur, nicht um christliche
Religion, .sondern um Christus" (S. 119/120). „Gott ist
nicht unser höchster Gedanke. Gott ist nicht unsere tiefste
Leidenschaft. Gott ist die große Unruhe, der, der in die Welt
kommt und in der Welt sein Reich gründet" (S. 121). Die
Sprache des Buches ist eigenartig, oft, wie bereits gesagt,
drastisch; aber sie geht ein. Die Einzelheiten sind nicht alle
neu. Der Gesamteindruck ist doch stark. Und ein Zeugnis dafür
, daß die Probleme, die wir für unsere Probleme halten,
Weltmaßstab haben, ist das Buch auch.

Leipzig Franz Lau

Leipoldt, Johannes, Prof. D. Dr.: Die Mysterien / Das Christentum. —
Spuler, Bertold, Prof. Dr.: Der Islam (Sunniten). — Strothmann,

Rudolf, Prof. Dr.: Der Islam (Sekten). Berlin: Wissenschaftliche Editionsgesellschaft
1948. 112 S. gr. 8°= Handbuch der Religionswissenschaft
, hrsg. v. Gustav Mensching. 1. Teil: Allgemeine Religionsgeschichte.
IV. Die Universalreligionen. DM7.30.

Mit diesem Teil eines neuen Handbuchs der Religionswissenschaft
sieht man sich erneut Fragen gegenüber, welche
Fachkreise schon seit geraumer Zeit bewegten. Ist eine Gesamtdarstellung
der Religionswissenschaft oder einzelner ihrer
Bereiche noch möglich, und wie soll sie angelegt werden ?
Daß die Sache nicht einfach ist, zeigt der komplizierte Titel
des vorliegenden Faszikels. Der Herausgeber hat für ein das
Gesamtgebiet der Religionswissenschaft umgreifendes Unternehmen
offenbar den gleichen Weg gewählt, wie er für ein
Teilgebiet, das der Religionsgeschichte, vor Jahren bereits
in dem von Chantepie de la Saussaye begründeten, von Bertho-
let und E. Lehmann neu edierten Lehrbuch der Religions-
geschichte anscheinend erfolgreich beschritten wurde, wie ihn
auch ähnlich angelegte, größere oder kleinere ausländische
Unternehmen gingen. Prinzipiell könnten sich Bedenkengegen
eine solche Methode melden, da sie den ganzen Problemkomplex
naturgemäß nicht restlos überschauen kann und so
ein Auseinanderfallen in kleine und kleinste literarische Gebilde
reportageartigen Charakters möglich wird, die keine
eigenständige Bedeutung haben, isoliert wenig belangvoll erscheinen
und zusammengefaßt der großen inneren Linie einer
souveränen Gesamtinterpretation entbehren. Andererseits
wird man sich fragen müssen, ob und inwieweit zusammenfassende
und orientierende Werke über das Gesamtgebiet der
Religionsgeschichte heute überhaupt noch von einem einzigen
Wissenschaftler geschaffen werden können, ohne in zahlreichen
Partien der Gefahr des Dilettierens bzw. des unfruchtbaren
Reproduzierens aus zweiter oder dritter Hand zu erliegen.
Man wird dann vielleicht um der absoluten Zuverlässigkeit
des jeweils vorgetragenen Einzelgebietes willen lieber auf eine
zusammenhängende Deutung verzichten, wie sie sich etwa in
Tiele-Söderbloms Kompendium der Religionsgeschichte findet,
so sympathisch sie sein mag.

Beide Standpunkte sind beachtlich und vermögen vielleicht
zu erklären, warum bisher — seit Jahrzehnten — keine
befriedigende Lösung einer Gesamtdarstellung der Religionsgeschichte
mehr geboten worden ist. Sie machen auch kritisch
gegenüber dem vorliegenden neuen Versuch, in dem anscheinend
das „Lehrbuch der Religionsgeschichte" wieder
aufleben will, wenn er auch durch den Herausgeber weit ausholend
in einen größeren methodischen und wissenschaftstheoretischen
— freilich auch nicht unumstrittenen — Zusammenhang
hineingestellt worden ist. Der Gesamtplan des
Werkes wird leider noch nicht recht deutlich.

Mysterien, Christentum und Islam werden als Glieder der
Gruppe „Universalreligionen" behandelt (was übrigens bei den
Mysterienkulten nur anlagemäßig oder ideell, nicht aber
historisch-faktisch zutrifft, da sie niemals echte Weltreligionen
gewesen sind). Damit ist der streng geschichtliche Rahmen zugunsten
systematischer Gesichtspunkte verlassen, d. h. die
Weltreligionen sind nicht in Verbindung mit ihren national-
bzw. kulturreligiösen Mutterböden dargestellt. Das vermißt
mau beim Islam besonders schmerzlich, dessen primitive Elemente
gegenüber Dogma, Recht und Typen des religiösen
Ausdrucks naturgemäß bei dieser Anlage des Werkes völlig
zurücktreten. Ebenso würde man sich im Rahmen eines
religionsgeschichtlichen Handbuches eine stärkere Berücksichtigung
der zum Christentum, Judentum und Griechentum
führenden Linien wünschen, was jedoch angesichts des
Raumes von 35 Seiten, die den Verfassern nur zur Verfügung
standen, sicherlich schwer oder gar nicht durchführbar war.
Demgegenüber sind das Christentum und die Mysterien reicher