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Ausgabe:

1951 Nr. 4

Spalte:

201-204

Autor/Hrsg.:

Müller-Gangloff, Erich

Titel/Untertitel:

Katholische Evangelizität? 1951

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201

Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 4

202

Mau hat angesichts mancher Bestrebungen in der evangelischen
Kirche unserer Tage, die auf eine Hinwendung zu
den Überlieferungen der vorreformatorischen Kirche deuten,
von einer ,,evangelischen Katholizität" gesprochen. Friedrich
Heiler, mit dessen Namen diese Bestrebungen sehr stark verknüpft
sind, hat selber diese Bezeichnung gebraucht, die man
auch auf die aus den „Berneuchenern" hervorgegangene
Michaelsbruderschaft wird anwenden dürfen. Denn es geht bei
diesen Bemühungen, denen man gelegentlich auf etwas plumpe
weise „katholisierende Tendenzen" unterstellt hat, um jene
echte Katholizität, die jedem evangelischen Christen, der sich
greinen, heiligen, christlichen Kirche bekennt, angelegen sein

Der Ruf nach der evangelischen Katholizität ist nicht
ohne Antwort von der katholischen Seite geblieben. Viele Erscheinungen
im heutigen Katholizismus erlauben es, geradezu
von einem katholischen ,,Evangelismus" zu sprechen, und
einer der führenden Männer dieser Richtung, der Kirchenhistoriker
Joseph Lortz, hat in seinem jüngsten Buch die
Formel ,.katholische Evangelizität" geprägt, womit gleichsam
ein Responsorium zwischen den Konfessionen begonnen

Joseph Lortz dankt seinen Ruf und Ruhm dem vor zehn
Jahren erschienenen und jetzt in zweiter Auflage vorliegenden
zweibändigen Werk über „Die Reformation in Deutschland",
was in revolutionärer und beinahe sensationeller Weise die geschichtlichen
Vorgänge, die zur Reformation führten, neu
beutete. Vor allein wurde die Gestalt Luthers hier so positiv
gesehen, wie es noch vor einer Generation bei einem katho-
1 s<raen Gelehrten einfach undenkbar gewesen wäre. Doch
iat Lortzens großes Werk den Nachteil, daß es eine allzu ura-
angreiche Gelehrtenarbeit ist, die in der Hauptsache nur der
"iteressierte Fachmann liest, so daß ihm die breitere Publi-
uniswirkung verwehrt ist. Das ist gerade bei einem Buche
do gewöhnlichen Inhalts höchst bedauerlich, und so ist es
, PP0,t z« begrüßen, daß nunmehr ein neues Buch von Joseph
^ vorliegt, das nicht allein alle in dem Hauptwerk erarbei-
w<? ji*8eWuS8e uncj Gedanken enthält, sondern sie auch noch
1 sc'nt"ch weiter entwickelt und vor allem in sehr ansprcchen-
3™ 1 lse vol'trägt. Das Buch trägt den Titel: „Die Reformation
als religiöses Anliegen heute"1.

vier L<vtz bewältigt das große und vielschichtige Thema in
, , . "Vorträgen", in denen er den Stoff von vier ganz ver-
ilif. 1 tten Gesichtspunkten her anpackt. Die Vortragsform,
weV -r ZUr Verlebendigung des Stoffes beiträgt, ist keines-
daß "nt .teclmische Finte: man merkt es den Vorträgen an,
u .*~ wirklich gehalten worden sind und mancherlei Dis-
Ch*r«£ea lx>sta"den haben. Sie haben oft fast Gesprächs-
Wort 1 illdem auch dcr Gegner mit seinen Einwänden zu
artirr i°■lnmt 1111(1 dic wichtigsten Thesen gerade aus der-

gen El»wänden entwickelt werden,
das «kM? das Vorwort enthält eine erfrischende Absage an
recht 11 APologetentum, das auf pharisäerhafte Weise
beim 1:6Jzrten< aber "icht auf den Anderen hören will. Lortz
der V IluT, sohr die Katholiken selbst der vollen Realisierung
deutet • 'Schen Idee und also der Bekehrung bedürfen und
ßefiii Vm ^usanuntnlumg damit einen später noch näher aussanier
" Gcdallkt'n an: „Heute haben die Katholiken seitin
ihr oft so wcniK Kraft, daß sie sich scheuen, Schwächen
Ke«prr~i Kirche zuzugeben. Die großen Gestalten der Kirchen-
imtw e ^schließlich der großen Päpste kannten solche
■mpotente Haltung nicht".

delt 5rste dcr außerordentlich anregenden Vorträge hangerade
11 Ursac]len der Reformation. Lortz sieht die Dinge
Er will ■! lnit cincr erstaunlichen Unvoreingenommenheit.
treibni n'C beschönigen, so entschieden er polemische Uber-
Weiter " dtr andercn Seite zurückweist. So räumt er ohne
in iE? i01"' daß die Schädigung der mittelalterlichen Einheit
wurde" rtCm-Maße auch vom Papsttum selbst geleistet
uber n ' k f zclcllnet den tragischen Weg, der von Canossa
Avipti rossa zum Triumph über Konradin, aber auch nach
geführt1! UV .zum Schisma, der großen Spaltung der Kirche
_^^J^2" 111 st'ü,er ganzen Unausweichlichkeit nach. Der

Vier von °rt7' jM*Ph! D,e Reformation als religiöses Anliegen heute.

80 M. trftKe im Dienste der Una Sancta. Trier: Paulinus-Verlag 1948. 285 S.
• H|w. DM !).(50.

Katholische Evangehziiäi?

Ein Responsorium zwischen den Konfessionen

Von Erich Müller-Gangloff

Kampf zwischen Kaisertum und Papsttum führte schon im
Mittelalter selber zur Aufspaltung der Kirche, zu jener Jahrzehnte
hindurch andauernden Zweiheit der Päpste, die sich
zeitweise sogar zu einer „verfluchten Dreiheit" des Papsttums
steigerte. Lortz weist mit Nachdruck darauf hin, was
es für das Bewußtsein des mittelalterlichen Menschen bedeutete
, daß sich, als sich beide Päpste samt ihrem Anhang
gegenseitig bannten, dadurch faktisch eine Zeitlang die gesamte
Christenheit im Bann befand.

Auch die theologischen Voraussetzungen der Reformation
untersucht Lortz mit einer vorbildlichen Sachlichkeit. Erstellt
in aller Nüchternheit die theologische Entartung des späten
Mittelalters fest, die einen Luther geradezu herausfordern
mußte: die seit dem 14. Jahrhundert steigende theologische
Unsicherheit, die am Ende des Mittelalters weithin zu theologischer
Unklarheit führte. Lortz wertet hier vor allem den
Occamismus neu, den er als eine Zersetzung der Theologie
begreift. Durch Wilhelm von Occam wurde der Nominalismus
zu einer das ganze 15. Jahrhundert beherrschenden
geistigen Großmacht, der sowohl Luther als auch sein Gegenspieler
Eck verhaftet waren. Auf diese Weise begehrte Luther
gegen einen Katholizismus auf, der nach Lortzens Formulierung
selber nicht mehr vollkatholisch war. Aus diesem Grunde ist
aber nach seiner Meinung die Reformation „eine katholische
Angelegenheit im Sinne katholischer Mitverursachung, also
auch katholischer Mitschuld".

Der zweite Vortrag, der der Gestalt Luthers gewidmet
ist, geht bereits von dieser Voraussetzung aus. Lortz sagt, die
Reformation sei das Schicksal der Welt geworden, darum
sollten wir uns bemühen, ihren Auftrag ganz zur Erfüllung zu

WUiai Wll Ulis UCIUIUKU, uuw< ---

bringen. Ketzergericht sei über Luther lange genug und viel
zu einseitig gehalten worden: „Wir haben andere Sorgen,
denn . . . wir denken aus der Liebe". Dies Denken aus der
Liebe kennzeichnet wie das ganze Buch so besonders dieses
Lutherkapitel, an dessen Eingang das bemerkenswerte Wort
steht, die Liebe zur katholischen Kirche dürfe bei den Katholiken
die Liebe zu den evangelischen Brüdern nicht verringern,
sie müsse sie eher steigern. Diese Liebe hindert Lortz nicht, in
erklärter dogmatischer Intoleranz die theologische Position
Luthers überall dort schonungslos anzugreifen, wo er sie für
angreifbar hält. Lortz bestreitet vor allem die zentrale Bedeutung
, die Luther der Rechtfertigungslehre eingeräumt hat
und meüit, der Gehalt des christlichen Glaubens lasse sich
nicht ohne gefährliche Verengung auf „die auf den Menschen
abzielende Rechtfertigung" einschränken.

Der dritte Vortrag des Buches, der die innerkirchlichen
Reformbestrebungen zum Gegenstand hat, weist nachdrücklich
auf einen bisher wenig beachteten, aber sehr bedeutenden
Sachverhalt hin, der nicht ohne unmittelbare Aktualität ist,
nämlich auf die Wichtigkeit der Innerkirchlichen Bruderschaften
für diese Reform. Die entscheidende Grundlegung
des Umschwungs geschah nach Lortz in der Form der zahllosen
spätmittelalterlichen Bruderschaften „am Rande des
offiziellen kirchlichen Organismus und nur zu einem geringen
Teil als Funktion der Hierarchie". Diese Bruderschaften, in
denen Laien und Geistliche auf gleichem Fuße tätig waren,
hatten ein sehr anspruchsloses Programm: zur Kirche zu
stehen, für sie da zu sein, durch Teilnahme an den Gottesdiensten
und regelmäßigen Empfang der Sakramente und vor
allem durch aktive Betätigung der Nächstenliebe ihre Verbundenheit
zu bezeugen, um durch diese bescheidenen Akte
der Selbstheiligung zur Erneuerung der Kirche beizutragen.
Lortz weist nach, daß allein dadurch, daß hier „christliches
Leben in ansteckender Fülle" vorgelebt wurde, ein wesentliche;
Anstoß gegeben wurde, der zu? inneren Regeneration der katholischen
Kirche führte.

Der vierte Vortrag endlich, der die Grundanliegen der
Reformation angesichts des Katholizismus von heute betrachtet
, ist besonders reich an ungewöhnlichen und nachdenkenswerten
Gedanken, die an dieser Stelle nicht alle rekapituliert
werden können. Es sei nur auf einige besonders wichtige
hingewiesen. So spricht Lortz von der zunehmenden Ent-
klerikalisierung der Kirche, die er für den bedeutsamsten
kirchengeschichtlichen Vorgang unseres Jahrhunderts hält.
Er führt die Actio catholica als „die Hereinnähme des Laien
in das apostolische Hierarchat" ebenso an wie die Heiligsprechung
des christlichen Gewissens, die er in der Kanon i-