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Ausgabe:

1951 Nr. 3

Spalte:

184

Kategorie:

Naturwissenschaft und Theologie

Autor/Hrsg.:

Vetter, August

Titel/Untertitel:

Die Erlebnisbedeutung der Phantasie 1951

Rezensent:

Reisner, Erwin

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183

Theologische Literaturzeitung 1951 Nr. 3

184

in der 3. Auflage noch vermehrt sind — theologisch nicht
ausgereift. Sie ist erregend, nicht nur durch das oft schroff
gehandhabte Gesetz, vor dem — außer einigen kritiklos geschilderten
Erweckungspredigern — Weniges Gnade findet.
Erregend ist sie auch durch die biblischen Erkenntnisse selbst,
für die Vf. vorbehaltloses Hören der Schrift versucht hat. Sehl
Mißtrauen gegen Luther oder doch seine freimütige Kritik an
Luther, den wir zum protestantischen Papst gemacht hätten,
könnte sympathisch sein angesichts des selbstsicheren Ausbaues
eüies angeblich lutherischen Positivismus. Aber man
kann nicht behaupten, daß seine Luthererkenntnis den rechten
Luther trifft. Wenn O. Petras vor v. Bibra die lutherische
Rechtfertigungslehre eine neue raffinierte Methode nannte,
mit der Sünde In ein geregeltes Verhältnis zu kommen, so
hatte er Luther eben nicht verstanden, allerdings traf er weite
Partien der lutherisch geschmückten theologischen Mausoleen
und Synagogen seiner Zeit. Was Vf. angreift, ist doch nur eine
Karikatur der forensischen Theologie, die im Ganzen einfach
mißverstanden ist. Er sieht bei Luther oder etwa auch Heinrich
Vogel ein Nichternstnehmen der Sünde (vgl. z.B. S.83
Anmerkung 105). Die 3. Auflage macht in den Anmerkungen
auf die Einwendungen seiner Freunde hin die Darbietung
seiner Gedanken vorsichtiger, d.h. gewundener (z.B. S.101,
Anm.142 u. 144), aber eine helle rcforinatorische Erkenntnis
ist auch durch das sorgsame Flicken nicht erreicht. Ein Buch
wie R. Hermanns „Luthers These gerecht und Sünder zugleich
" (Gütersloh 1930) hätte ihn vor manchem Mißverständnis
bewahren können. Daß er sein Luther- und Paulusverständnis
auf Althaus (Paulus und Luther über den Menschen
, Gütersloh 1938) stützt (S.63 u. ö.), zeigt, wie nötig
eine eingehende Verarbeitung der Fragen ist, die AH haus an
die landläufige Erkenntnis des NT und Luthers gestellt hat.
Daß Rechtfertigung und Heiligung in Christus in eins gültig
zu sehen sind, daß aber Rechtfertigung und Heiligkeit zeitlich
gleichzeitig nicht in eins fallen, sondern die wirkliche völlige
Heiligkeit des gerechtfertigten Gottlosen einen verheißungsvollen
Prozeß der Heiligung in Christus allererst erschließt und
fördert, das wird unter den stürmischen Forderungen für eine
ganze statt einer halben Erlösung (S.19) gegen den Antino-
mismus der satten Christen und eines zalnn gewordenen
Luthertums zerstört. Dabei kommt auch v. B. nicht aus einer
Dialektik heraus, die zeigt, daß er ZU ehrlich ist, einfach Perfektionismus
oder Quietismus, Nomismus oder Libertinismus
zu lehren. Er entgeht nicht nomistischen Verurteilungen und
Kurzschlüssen (S.2O). Die Dialektik, als statisch verstandenes
Simultaneum mißverstanden (S. 76, Amn. 85), lehnt er ab, d.h.
er kann das Geheimnis der Rechtfertigung auf Grund der
Versöhnung nicht voll stehen lassen, worunter seine Heiligungslehre
entscheidend leidet. Daß die Versöhnung mit dem
heiligen Gott zusammenbringt, und nicht nur mit einer hypo-
stasierten Gerechtigkeit, angesichts deren der Ernst der Sünde
und das Heil des Glaubens unernst werden, möchte er wohl
retten, tut es aber mit unzureichenden Mitteln. Er möchte
Menschen einer neuen Gerechtigkeit schaffen und ist doch
auf dem besten Wege, mehr die neue Gerechtigkeit im Auge
zu haben als den treuen Gott, der sich der Gottlosen täglich
erbarmt, indem er sie gewinnt, seinem Richterspruch im
Glauben täglich recht zu geben. Seine Verunglimpfung der
Orthodoxen läßt ilm nicht erkennen, daß ihre „Unerschütterlichkeit
" auch darin einen Grund haben könnte, daß es unter
ihnen Gläubige geben könnte, die bis in eine derartige Tiefe
hinein erschüttert sind, daß sie um ihr Todesurteil (auch über
ihr frommes Streben!) wissen und nun allererst ganz an der
Gnade hängen. Dabei ist v. Bibra gerade in seinen Radikalismen
(S.32ff.) der reformatorischen und paulinischeu Erkenntnis
oft hauchnahe (vgl. besonders S.33, Anm.132). Er rüttelt
an Toren, die dort längst offen stehen. Aber er mißtraut ihnen,
wo er sie offenfindet, weil er den Mißbrauch der Gnade zur
Tradition hat werden sehen. Die Sprengkraft des Bonhöffer-
schen Protestes gegen die „billige Gnade" hat er erfahren.
Ilm leitet heilsame Unruhe. Seih Mißtrauen gegen Luthers
Bibelübersetzung führt ilm in eigenen Ubersetzungen zu
frischen biblischen Erkenntnissen. Aber alles steht nur im
Zeichen eines Aufbruches. Es ist zu fragen, ob wir eine
lutherische Theologie zu bezeugen wissen, die seinen Fragen
Antwort gibt (hier wäre hinzuweisen auf Iwands einzigartiges
Büchlein „Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre", München
1941) und ob er ehrlich genug bleibt, den Nomismus
seiner eigenen Thesen aufzugeben, wenn er durch Gottes Wort
und Führung widerlegt ist. Einstweilen liegt über dem Büchlein
mehr der Glanz des Radikalismus als der Glanz der Gnade.
Es müßte noch einmal ganz neu geschrieben werden.

Berlin Martin Fischer

MEDIZIN UND THEOLOGIE

Vetter, August: Die Erlebnisbedeutung der Phantasie. Mit einem Anhang
: Phantasie und Traum. Stuttgart: Klett [1950]. 142 S. 8°. Lw.
DM 9.—.

Es ist der besondere Vorzug fast aller Schriften Vetters,
daß sie, obgleich oft von rein psychologischen oder anthropologischen
Sonderproblemen ausgehend, doch niemals im Speziellen
stecken bleiben, sondern immer zu den letzten metaphysischen
, ja sogar theologischen Fragen vorstoßen. Das gilt
auch wieder von dem hier angezeigten Werk. Vetter ist bemüht
, das sonst etwas stiefmütterlich behandelte Phänomen
der Phautasie aufzuhellen und ihm seinen Ort im Aufbau der
geistigen Gesamtpersönlichkeit zuzuweisen. Im ersten Teil des
Buches geht es vor allem darum, deutlich zu machen, daß die
Phantasie m viel höherem Grad mit dem Gefühlsleben als mit
der Wahrnehmungstätigkeit der Sinne zusammenhängt. „Die
Gefühlsabhängigkeit des Phantasielebens besitzt entscheidenderes
Gewicht als seine Gegenstandsgebundenheit." Im Gefühl
verwurzelt hat die Phantasie jedoch zwei Pole: die nach-
schaffende und die fertiggestaldende Einbildungskraft,
die sich zueinander etwa so verhalten wie das Wissen und das
Wollen in Bereich der Objektbezogenheit, zu welchen Vermögen
sie ja übrigens auch in Relation stehen, wobei sie aber
freilich der Gefühlsmittc wesentlich näher gerückt erscheinen.
„Vom Seelengrunde her bereitet sicli im Vorstcllungsleben das
gedankliche Bewußtsem überhaupt vor; im darstellenden Verhalten
dagegen übt sich das planende Wollen ein. Insofern
kommt beiden Formen der Phantasie eine gleich wichtige
Rolle . . . zu." — Von entscheidender Wichtigkeit ist sodann
die Zusammenschau der Einbildungskraft und ihrer Pole mit
der Zeitlichkeit. Vetter hebt die Bedeutung der Erinnerung
für die Phantasietätigkeit mit Nachdruck hervor, wobei der
Kierkegaardsche Begriff der Erinnerung eine tiefe Durchleuchtung
findet. Die Erinnerung stellt sich dar als eine Art
„Auferstehung" aus dem Grab des Gemütes. Liegt die Erinnerung
auf der Seite der Vergangenheit und des Nachschaffens
, so die Erwartung auf der der Zukunft und der freien
Gestaltung. Dort also Empfangen, Passivität, hier Erzeugen,
Aktivität. Das Gemüt als die gegenwartsbezogene Mitte des
ganzen Systems hält die Polspannung im Gleichgewicht. „Die
Erwartung steht . . . gegenüber einem Nochnichtscin, das auf
sie zukommt und das Gestaltungsvermögen in uns anspricht,
wie das von der Erinnerung festgehaltene Nichtmehrsein die
Vorstellungskraft weckt und begründet. In diesen gegensätzlichen
Bereichen der Zeit bietet sich der Phantasie das Janus-
autiitz der „anderen Welt" dar, die nicht mehr oder noch
nicht ist." Zu wenig scheint mir allerdings beachtet, daß die
Phantasie nicht nur das Verbindungsglied zwischen Gefühl
und Erkennen bzw. Gefühl und Wollen ist, sondern auch an
der verhängnisvollen, das Gleichgewicht störenden und zerstörenden
Spaltung der Vermögen teilhat, womit ihr kaum eindeutig
positiv zu wertender Unwirkliehkeitscharakter zusammenhängt
. Man kann phantasieren ohne zu erkennen und
zu wollen wie auch ohne Phantasie wollen und erkennen, und
vielleicht ist das sogar die Regel. Es war wohl aber kaum möglich
, im Rahmen einer relativ kurzen Abhandlung auf alle
Fragen einzugehen. In einem Anhang „Phantasie und Traum "
gibt der Verf. m knapper Form wichtige Grundlagen für das
Verständnis des Traumphäuomens, und zwar unter den
gleichen systematischen Gesichtspunkten. Vor allem wird
gegenüber der gewöhnlich sehr einseitigen Deutung des Traumes
aus dem Triebleben auf seine grundsätzliche Polarität:
Trieb und Empfindung, d. h. sowohl unterbewußtes Wollen
wie auch unterbewußtes Erkennen, überzeugend hingewiesen.
— Der außerordentlich weite Blick Vetters regt den Leser dazu
an, die dargebotenen Gedanken fortzuspiunen und den mitschwingenden
Klang auch der nicht unmittelbar angeschlagenen
Saiten zu erlauschen.

Berlin F.rwin Rcisner

Glaser, Hugo, Prof. Dr.: Das Weltbild der Medizin von heute. Wien:

Maudrlch 1949. III, 140 S. gr. 8». Hlw. DM9.50.

Das Buch enthält eine kurzgedrängte, leicht faßliche, auch
dem Laien verständliche Geschichte der Medizin und eine
Ubersicht über ihren heutigen Stand. Im ersten Kapitel wird
der Weg von Hippokrates und Galen über Paracelsus, van