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Ausgabe:

1950 Nr. 2

Spalte:

108

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Steiner, Rudolf

Titel/Untertitel:

Goethes Weltanschauung 1950

Rezensent:

Koepp, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 2

108

Heilsereignisses. Die Eschatologie kommt dabei entschieden
zu kurz, und manchmal hat man geradezu das peinliche Gefühl
, als ob dem Fleisch gewordenen Logos die Rolle eines
Kultur- und Fortschrittsfaktors zugewiesen werden sollte.
Berlin-Zehlendorf Erwin Reisner

Bolkovac, Paul, S. J.: Perspektiven. Weltanschauung und Gegenwart.
Nürnberg: Sebaldus-Verlag [1948]. 89 S. 8°. Kart. DM3.20.

Der Verf., Mitarbeiter an den „Stimmen der Zeit" und
Herausgeber der Schriften des bekannten Jesuiten Delp, gibt
in vorliegendem Büchlein drei (nicht zwei, wie im Vorwort
steht) Abhandlungen katholisch-metaphysischen Charakters.
Dargestellt werden das „dämonische Prinzip der abendländischen
Krise", „Humanitas als Ordnungsgesetz der Gegenwart
" und „der Mensch und das Schicksal". Formal ist die
Schrift schlechthin vorbildlich: kristallklar im Aufbau und
vornehm in der Haltung. Sachlich erfährt man nicht viel
Neues, da der Verf. sich engstens an die offizielle Kirchenlehre
anschließt und eigentlich nur reproduziert und nicht
argumentiert. Daß die „Meisterung der Welt" an die „Treue
zum Dekalog" gebunden sei (38t.), daß das Christentum „offen
für den Humanismus" (59) und der Humanismus „offen für das
Christentum" (62) zu sein habe, daß der Mensch in der Hand
Gottes ruht (mit den Worten des Vaticanums geschildert, 83! )
— das alles ist für einen kirchlich-korrekten Katholiken ja
selbstverständlich, und eine irgendwie originale Auswertung
erfahren diese Themen nicht. Interessant ist dagegen die mehrfache
Feststellung, wie nahe innerhalb der heutigen Lage sich
Katholizismus und Protestantismus stehen, wozu sich freilich
die These „Die Ablehnung des Katholizismus führt zur Absage
an das Christentum überhaupt" (24) in einer gewissen Spannung
befindet. Aber daß „trotz aller dogmatischen Unterschiede
die beiden Konfessionen heute in einem politischen
und sozialen Credo zusammengehen" (62), trifft in der kirchenpolitischen
Praxis und in der seelischen Haltung des Kirchenvolkes
sicherlich weithin zu. Daß es so sein müßte oder,
grundsätzlich betrachtet, auch nur so sein könnte, ist keinesfalls
zuzugeben.

Potsdam H. Schlemmer

DICHTUNG UND CHRISTENTUM

Hermann,Rudolf, Prof. D.: Die Bedeutung der Bibel in Goethes

Briefen an Zelter. Berlin: Evangelische Verlagsanstalt [1948]. XI, 180 S.,

6 Abb. 8°. Kart. DM 7.20.

In der vorliegenden Schrift wendet Rudolf Hermann die
ganze Kunst sorgfältigster philologischer Analyse und Einfühlungskunst
, die seine Lutherforschungen so bedeutend
mächte, auf einen ganz andersartigen und doch nicht schlechthin
unvergleichlichen Gegenstand an. Goethes Briefe an
Zelter werden auf ihre Beziehung zur Bibel hin durchmustert.
Nur einen Teil des Raumes nehmen die ausdrücklichen
Stellungnahmen Goethes zu biblischen Themen ein. Darüber
hinaus verfolgt Hermann mit einer geradezu bewundernswerten
Feinfühligkeit die zahlreichen — hätte Hermann sie
nicht wirklich aile unter die Lupe genommen, würden wir
sagen: zahllosen — Anspielungen auf die biblische Geschichte
und Anklänge an den biblischen Sprachgebrauch. Mächtig
und unverwischbar ist der Eindruck der Intensität und Universalität
, mit der Goethe die Bibel in sein Denken und Fühlen,
in das tägliche Erleben und den alltäglichen Umgang hinein-
genommen hat. Für manchen vielleicht unerwartet, aber auf
alle Fälle bemerkenswert ist, wie Goethe, der ja drastische
Wendungen liebt und auch voller Humor war, in seinen Anspielungen
, auf biblische Erzählungen kaum je in Trivialität
oder angemessene Burschikosität abgeleitet. Der Verf. zeigt
immer wieder, wie Goethe freilich so, wie wir es alle tun, den
biblischen Sprach- und Bilderschatz benutzt, um Ereignisse
und Erfahrnisse des täglichen Lebens zu charakterisieren.
Aber Hermann zeigt zugleich, wie bei Goethe solche Verwendung
fast durchgängig in eine Sphäre einer irgendwie gehobenen
Feierlichkeit führt. Groß ist der Aufwand an Scharfsinn
und philologischer Akribie, mit welchen der Verf. die
brieflichen Gelegenheitsäußerungen Goethes unter die Lupe
nimmt. Aber es hat sich gelohnt. Es ergibt sich, daß Goethes
Worte, auch wenn sie zufällig hingeworfen sind, Gewicht haben
und auf die Goldwaage gelegt werden dürfen. Zugleich hat
Hennann selber eine so große Beweglichkeit einfühlenden
Geistes und einen solchen Sinn für leichte Nuancen des Ausdrucks
, für das Wellengekräusel flüchtiger Stimmungen, für
die unendliche Verflochtenheit anklingender Nebengedanken,
daß in dem begrenzten Ausschnitt, den er sich als Stoff gewählt
hat, doch die ganze große Menschlichkeit und Vielschichtigkeit
von Goethes Erleben zutage tritt. In der Schlußzusammenfassung
greift Hermann die alte Frage an, „ob
Goethe Christ sei". Gerade auch in seiner eigenen Arbeit lehnt
Hermann solche Fragestellung ab. Es helfe dem Christentum
weder, wenn es durch irgendwelche „Kronzeugen" sich ein
„Alibi" verschaffen wolle, noch gehe es ihn an, über das
Innerste anderer Menschen zu urteilen (S. 141).

Was sich erfassen läßt, das ist jene ungemeine Stärke und
Breite, in der nicht nur die biblische Sprache, sondern die
biblischen Gestalten und Gehalte das Denken Goethes durchdringen
. Hier liegt auch der entscheidende christlich-pädagogische
Gesichtspunkt gegenüber der deutschen Klassik, und
es ist ein Verdienst des Verf .s, rein durch die Ergebnisse seiner
oft mühevollen Arbeit, ihn eindrücklich zur Geltung gebracht
zu haben: Für den evangelischen Christen gibt es keine
menschlichen Autoritäten, denen er in Glaubenssachen sich
zu unterwerfen hat. Aber eben darum ist es auch mit der
bloßen Ablehnung irgendwelcher bestimmten Standpunkte
nicht getan. Selbstverständlich können wir heute die Geistes-
haltung der deutschen Klassik nicht uns einfach zu eigen
machen. Aber es gilt, auf die Gehalte zu lauschen, die uns angehen
, es gilt auf diese Gehalte überall da zu lauschen, wo sie
sich geltend machen, gerade auch bei der deutschen Klassik.
Denn abgesehen von der einen gewaltigen Ausnahme Dantes
haben wir in Deutschland im Unterschied von der Klassik
anderer Länder die einzigartige Lage, daß unsere Klassik
wesenhaft von der christlichen Substanz gespeist ist und eben
diese auch spiegelt.

Marburg/Lahn Th. Siegfried

Steiner, Rudolf: Goethes Weltanschauung. Freiburg: Novaiis-Verlag

[1948]. 195 S. kl. 8°. Kart. DM5.—.

Der Novalis-Verlag hielt es für am Platze, grade diese
Schrift Rudolf Steiners (nach ihrer 5.—12. Auflage, Berlin
1921, mit den Vorreden zur 1. und zur 2. Auflage, 1897 und
1918, sowie mit dem Nachwort von 1918 und mit einem Nachwort
des Verlags) jetzt zum Goethejahr 1949 neu herauszugegeben
. Die Schrift behandelt Goethes Weltanschauung von
der bis zu ihr hin ganz ungewohnten und kaum bekannten
Seite der naturwissenschaftlichen Arbeiten Goethes her.
Goethe selbst hat diese Seite seines Lebenswerks zuweilen
höher geschätzt als die Geschenke seiner Dichtungsgabe. — Es
kann einem allerdings begegnen, daß heute ein wissenschaftliches
Buch zum selben Thema: Dr. Fritz Seidel, „Goethe
gegen Kaut. Goethes wissenschaftliche Leistung als Naturforscher
und Philosoph", Berlin 1949, in seiner erheblichen
Nachweisung des benutzten Schrifttums an Steiner ganz vorübergeht
, aüch nicht erwähnt, daß der hier wohl wichtigste
Aufsatz Goethes „Versuch einer allgemeinen Vergleichungslehre
" erst durch Steiner 1892 veröffentlicht wurde (vgl.demgegenüber
M. Heymacher, „Goethes Philosophie aus seinen
Werken", 1922, S. 47 Anm. und S. 126 Anm.). Doch liegt das
wissenschaftliche Verdienst Steiners auf diesem Gebiet offenkundig
genug fest. — Die Darstellung Steiners vermengt sich
so wenig mit der eigenen „anthroposophischen" Denkweise
des Autors, zeigt so sauber bei den wenigen in Frage kommenden
Stellen den Punkt an, wo die Betrachtung über Goethe
hinausführt, und ist wissenschaftlich so ernsthaft, daß die
Schrift nicht nur als historisches Dokument, sondern auch als
noch gegenwartswertvoll angesehen werden darf. Der Theologe
, der sich über Goethes Weltanschauung ein Bild schaffen
will, täte noch immer gut, auch zu diesem Buch zu greifen.
Wenn es auch zu der „Religion Goethes" keine direkten Worte
sagt, so ist es indirekt zu diesem Thema um so bezugreicher.
Auch dürfte es immerhin sachlich einführender sein, Goethe
bei Steiner durch sein Verhältnis zur platonischen Denkweise
(etwas breit) und, am Schluß, zu Hegel, als bei Seidel zu
Kant (historisch gut in seiner Unsicherheit nachgewiesen) und
zu Rehmke beleuchtet zu finden. Das Goethesche Verstehen
vom „Urorganismus", aus „Urphäuomeneu" und von einem
letzten Urphänomen her könnte zudem auch in der Theologk-
etwa sich neu entwickelnden Methoden wissenschaftlichen
Hörens auf das Kerygma mancherlei Anregung geben.

Greifswald Wilh. Koepp

Gadamer, Hans-Georg: Goethe und die Philosophie. Leipzig: Volk u.

Buchverlag, 1947. 34 S. kl. 8°= Die Humboldt-Bücherei. Bd. 3. DM2.—.
G. geht mit Recht davon aus, daß für Goethe die dichterische
und religiöse Unmittelbarkeit das Grundlegende ist
gegenüber der Vennittelung des Begriffs. Aber nicht verschwommen
-mystisch tastet er sich ins Unendliche, sondern
forschend, beobachtend, gestaltend geht Goethe „im Endlichen
nach allen Seiten", um Unendliches zu finden. So scheidet
er sich von Spinoza, wie er, unter Schillers Einwirkung,