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Ausgabe:

1950

Spalte:

53-54

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Vershofen, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Erlebnis und Verklärung 1950

Rezensent:

Jelke, Robert

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Seite 1

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B3

Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 1

„Vision" von der möglichen Verweigerung oder der Ermöglichung
der Auferstehung des Ich endet. Man ist heute nachgerade
sehr empfindlich gegen eine emphatische Beschwörung
solcher Begriffe wie Abendland, Autonomie usw. Man hat
schon zu viel von solchen Dingen hören müssen, daß man noch
genügend Zutrauen hätte zu solchen Konzeptionen, obwohl
dieses Buch an manchen Stellen auch treffende Analysen
bietet, auf deren kritische Würdigung wir hier nicht eingehen
können.

Vom christlichen Glauben her wird es besonders schwer
sein, den hier vorgetragenen Gedanken die nötige Glaubwürdigkeit
abzugewinnen, solange nicht gesehen wird, daß der
Schritt vom Es zum Ich nur gelingen kann, wo für das Es ein
Er eingetreten ist, der in der Lage ist, den Menschen aus der
Fessel des Es zu befreien und ihn als Ich in eine Gemeinschaft
zu stellen vermag, ohne daß er aus jener Bindung zum Er entlassen
wäre, in die er aus Gnaden gestellt ist. Es geht heute
nicht mehr um ein Christentum im Sinne eines „religiösen
Pfeilers", auf den man notfalls auch verzichten kann (S. 197),
sondern um die Entscheidung für Christus als den Herrn aller
Bereiche des Lebens. Von da aus kann es — recht verstanden —
Sozialismus, kann es „Auferstehung des Ich" geben, als Er-
möglichung und Verwirklichung von Jesus Christus her.

Bethel Hans-Heinrich Wolf

Vershofen, Wilhelm: Erlebnis und Verklärung. Stuttgart:Reciam

[1949]. 176 S. 8°. Geb. DM6.50.

Es sind philosophisch tiefgründige Betrachtungen, die als
höhere Soziologie den Rahmen der Wissenschaft gleichwohl
sprengen und die Tür zum Leben öffnen, wo die wahre Gesellung
unter den Menschen wieder Gültigkeit hat. Der Verf.
erklärt sie als Geschenk der Einsamkeit empfangen zu haben.
So sind es keineswegs nur gedankliche Assoziationen, die dem
Verf. die Einsicht vermitteln, daß der Mensch nur in der Gesellung
leben und existieren kann, daß er also nur in Gesellung
ein besseres Leben zu gestalten vermag. Das Erlebnis
ist allemal das Moment, das die einzelnen Betätigungen auslöst
und formt. Dieses Erlebnis soll verklärt werden, d. h. es soll
deutlich werden, welches seine Faktoren sind und welches die
Aufgaben sind, die dem Menschen aus dem Erleben erwachsen
. Die Basis des Ganzen stellt die aus dem Innern
unseres Wesens, aus unserem Sosein, bewußt geschöpfte Erfahrung
dar, daß wir einen Widerstreit in uns selbst auszukämpfen
haben. Dieser Widerstreit besteht darin, daß zwei
Anpassungskräfte, über die der Mensch verfügt, einander
widerstreiten. Wie alle Lebewesen, mit denen zusammen der
Mensch der Natur angehört, wird er getrieben von Triebkräften
, deren Gesamtheit wir bei den anderen Lebewesen
Instinkt nennen. Beim Menschen aber stehen gegen diese seine
natürlichen Triebkräfte andersartige Kräfte, die dem Umstand
entspringen, daß er von sich als einem Wesen für sich weiß.
Diese eigenartige Stellung des Menschen zu sich selbst bezeichnen
wir, indem wir von seinem Selbstbewußtsein sprechen
und das, was wir dabei als veranlassend denken müssen, im
Abstand von der Natur als Geist bezeichnen. In diesem Geiste
wurzelt die Freiheit des Menschen, die beim Einzelnen insofern
gegeben ist, als er sich in gewissen Lagen so, aber auch
anders verhalten kann. Diesen Befund sieht Vershofen nun in
dem Bilde der Ellipse, das ihm die Zwiepoligkeit des menschlichen
Wesens anschaulich zum Ausdruck Dringt. Damit kommt
er zu dem, was unverkennbar der wichtigste B egrif f seines philosophischen
Denkens ist, zu dem Begriff der Exzentrizität, womit
das Maß der Spannung zwischen den beiden Brennpunkten oder
Polen versinnbildlicht ist. Solche Exzentrität, solche polare
Spannung ist dann auch die Grundtatsache unseres geselligen
Sems, nnd es ist für uns, die wir doch leben wollen, die dringlichste
Aufgabe, mit ihr fertig zu werden. Sie ist notwendiger
als die, mit der Natur fertig zu werden. Wenn es nun weiter
keinen Menschen gibt und geben kann, der nicht nach Verwirklichung
von Werten strebt, der höchste Wert aber für uns
nur das in grenzenloser Vollkommenheit sein kann, was wir
selbst in unserer Besonderung nur andeutungsweise darstellen,
so kommen wir damit zu Gott als dem hell bewußten, alles
mit seinem Bewußtsein Umfassenden und Durchdringenden,
über Gott hinaus ist für uns kein Wort vorstellbar. Wir
müssen ihn finden, weil wir werten, und können semer nicht
entbehren, weil wir leben wollen. Leben aber können wir nur
in der Geselluug. Die Gesellung aber kann uns nur helfen,
wenn sie Teuerschaft ist, weil sie nur dann die Exzentrik in
uns, zwischen jedem Einzelnen und jedem Anderen, sowie
zwischen jedem Einzelnen und sich selbst fruchtbar zu
machen vermag. Damit gibt sie uns Sicherheit und Gewißheit.

Damit dürfte das Ziel umschrieben sein, das sich der Verf.
gestellt hat, und ebenso dürfte der Weg deutlich geworden

sein, auf den der Verf. zu diesem Ziele zu gelangen versucht«
Dabei dürfte die Bedeutung, die im Ganzen dieser Weltanschauung
Gott zukommt, allen Christen in gleicher Weise
recht sein. Und doch werden Katholiken und Protestanten die
Ausführungen nicht völlig gleich hinnehmen. Der katholische
Llintergrund des Ganzen läßt sich doch nicht verkennen. Die
rationale Auswertung des Erlebnisses, das für den Verf. das
Ganze trägt, ist doch stark katholisch-scholastischer Natur.
Das möchte nicht ungesagt bleiben. Umgekehrt möchten wir
aber bedenken, daß es eben Auswertung des Erlebnisses ist,
um die es geht. Damit haben wir es doch nicht mit der eigentlich
katholischen Sicherung des objektiven Faktors des Glaubens
, d. h. mit der Kirche zu tun, sondern wir befinden uns
im Bereich typisch reformatorischer Begründung des Glaubens
, d. h. im Bereich der persönlichen Erfahrung. Und eben
das ist es, was auch uns Protestanten das Buch wertvoll und
interessant machen dürfte. Darum wollen wir zu diesem
Buche greifen. Das Buch liest sich nicht leicht, denn der Dichter
und Wirtschaftspolitiker, der hier zu uns redet, spricht in
seinen, selbst geschliffenen Begriffen, die dem Theologen nicht
geläufig sind. Dabei wollen wir uns dann gegenwärtig halten,
daß die Forderung des Buches, daß wir guten Willens sein
müssen und uns im übrigen der Vorsehung anzuvertrauen
haben, um so mehr Gewicht hat, weil sie von einem Manne
der Wirtschaftswissenschaft kommt, der erkannt hat, daß die
Wechselwirkung von Mensch zu Mensch in der Form der Gesellung
auf dem gutwilligen Verstehensverhältnis beruht.
Heidelberg Robert Jelke

Weisgerber, Leo, Prof. Dr.: Die Entdeckung der Muttersprache im

europäischen Denken. Lüneburg: Heliand-Verlag [1948]. 152 S. 8° =
Schriften der Gesellschaft für Deutsche Sprache. H. 1. Kart. DM4,50.
Wie steht der einzelne Mensch, wie ein ganzes Volk zu
seiner Muttersprache? Das ist eine Frage von hohem sittlichem
Rang. Die theologische Ethik hat die Sprache bisher
noch nicht in den Blick genommen, obwohl der Mensch überhaupt
erst Mensch ist kraft seiner Sprache (Wilhelm von Humboldt
). Die Aussprache über den „Anknüpfungspunkt" wäre
vor Jahren gewiß nicht so ergebnislos geblieben, wenn die Beteiligten
bei der Sprache eingesetzt hätten. Und der Dognia-
tiker würde auch heute noch erschrecken, wenn ihm einmal
zum Bewußtsein käme: jede Nationalsprache ist Lebensraum
wie Grenze menschlichen Denkens; jede Nationalsprache bedeutet
eine bestimmte Sicht der Wirklichkeit. Was hätte diese
Einsicht in die perspektivische Struktur der menschlichen
Sprache für Folgen für die christliche Lehre und Verkündigung
!

Wer in dieses Gebiet tieferer sprachwissenschaftlicher
Forschung eindringen will, der wird auch aus der hier anzuzeigenden
Schrift des hochverdienten Professors der Sprachwissenschaft
Gewinn ziehen. Der Eigenart unserer innerwelt-
lich gegründeten Geisteswissenschaften verhaftet, bewegt er
sich durchaus auf menschlich-weltlichem Wege („Religion" ist
ihm nur „eine der vielen im Volksleben wirksamen Kräfte" —
so sagt er im Gegensatz zu G. Ritters Satz: „Aus religiöser
Wurzel ist das nationale Selbstbewußtsein und die nationale
Freiheit der Niederländer erwachsen", S. 95).

Weisgerber erleuchtet den Leser darüber, wie die einzelnen
abendländischen Völker zum Beginn der Neuzeit ihre
Nationalsprachen ergriffen, bejaht und ausgebildet haben.
Er setzt beim urtümlichen Sprachglauben der Zauberwörter
und beim heiligen Wort der Indogermanen ein, handelt vom
Sprachverständnis der Griechen und Römer, durchwandert
das Mittelalter, erklärt das Werden einiger Nationalsprachen
und deutet Grundwörter wie „deutsch" und „Muttersprache"
und damit auch das ihnen zugrunde liegende Erleben, um
schließlich die Sprachenfrage im heutigen Europa kurz zu
streifen.

Der theologische Leser ist erstaunt, daß der gelehrte Verf.
nicht auch die Bibel als Quelle abendländischen Sprachericbens
heranzieht. Das Verhältiiis der Kirche zur Muttersprache ist
ziemlich außerhalb seiner Arbeit geblieben. Auf Luther kommt
er nur sehr kurz zu sprechen. Die Stärke seiner Arbeit liegt im
Geschichtlich-Tatsächlichen. Wo er darüber aus seinen Forschungen
berichtet, ist sein Stil auch klar und leicht zu lesen.
Wo er dagegen grundsätzliche Gedanken erörtert, findet sich
der Leser — leider — im Papierdeutsch der Gelehrtensprache
eingefangen.

Adelberg Friso Melzer

Meurers, Joseph: Um die Einheit derWiSSenschaft. Bonn: Hans Scheur
1947. 24 S. 8°= Bonner Universitäts-Schriften H. 10. DM 1.80.
Der Aufsatz kam als Heft 10 der „Bonner Universitäts-Schriften" heraus
. Die mit einer „Universitas-Iiterarum"-Reihe gegebene Verpflichtung wird