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Ausgabe:

1950 Nr. 12

Spalte:

717-722

Autor/Hrsg.:

Söhngen, Oskar

Titel/Untertitel:

Fragen und Aufgaben der katholischen Kirchenmusik 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 12

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Fragen und Aufgaben der katholischen Kirchenmusik1

Von Oskar Solingen, Berlin

Die besondere Problematik der katholischen Kirchenmusik
ist nicht zuletzt damit gegeben, daß es für sie, im Gegensatz
zur evangelischen Kirchenmusik, das Problem und
die bleibende Aufgabe einer zeitgenössischen Kirchenmusik
im eigentlichen Sinne nicht gibt. Denn sie nimmt an der Abgeschlossenheit
des kultischen Raumes der katholischen Kirche
teil: die lateinische Kultsprache ist seit Jahrhunderten
tot und keiner lebendigen Fortentwicklung mehr fähig; die
Hymnen und Sequenzen, wie erst recht die biblischen und die
Gebetstexte von Messe und Offizium liegen seit dem Trideu-
tinum fest, als cantus proprie ecclesiasticus ist die Gregorianik
durch die Vaticana bestätigt und in ihren Melodien und Modellen
offiziell festgelegt, und für den Chorgesang hat der
Motu proprio Pius' X. über die Kirchenmusik vom 22. November
1903 den Palestrina-Stil zur Norm erhoben, an der
sich alles moderne Schaffen zu orientieren hat. Wie kann
es da für den katholischen Kirchenmusiker unserer Tage noch
die Werdelust und Werdenot eines Neuen geben ? Es scheint
mir mit dieser Aporie zusammenzuhängen, daß der machtvollen
Renaissance der evangelischen Kirchenmusik in unseren
Tagen auf der katholischen Seite nichts Vergleichbares gegenübersteht
, wenn auch Männer wie Josef Ahrens, Hennann
Schröder, Josef Haas, Heinrieh Lemacher und Walther
Lipphardt in ihrer Art eindrucksvolle Repräsentanten von
Erneuerungsbestrebungen innerhalb der katholischen Kirchenmusik
sind.

Damit im Widerspruch scheint die andere Feststellung
zu stehen, daß das Problem der Säkularisierung der katholischen
Kirchenmusik viel mehr zu schaffen gemacht hat, als
der evangelischen. Und doch bezeugen das die geschichtlichen
Tatsachen. Karl Gustav Feilerer weist in seiner nunmehr in
der zweiten Auflage vorliegenden „Geschichte der katholischen
Kirchenmusik" selbst darauf hin: ,,Die strenge Tradition
der norddeutschen Kantoren hatte im protestantischen
Deutschland dem Eindringen der ungebundenen italienischen
Affektkunst durch ihre andere Grundhaltung einen Widerstand
entgegengesetzt, der für die Entwicklung der evangelischen
Kirchenmusik bestimmend wurde" (S. 124). Wenn das
aber der Fall ist, so müßte doch wohl ein Fragezeichen
hinter dem Vergleich der evangelischen mit der katholischen
Kirchenmusik gemacht werden, wie ihn Feilerer zu Eingang
seines Buches vornimmt: daß nämlich die evangelische Kirchenmusik
,.nicht liturgischer Bestandteil, sondern Ausstattung
" sei. Man könnte dieses Urteil mit gleichem, ja vielleicht
größerem Recht auf die katholische Kirchenmusik anwenden
, wenigstens was die Kunstmusik betrifft, die nach den
kanonischen Bestimmungen im wesentlichen eine Schmuck-
funktion wahrzunehmen hat. Selbst der gregorianische Choralgesang
stellt grundsätzlich ein Additum seit der Entwicklung
der Missa privata dar: „Von dem Augenblick an, da der Priester
die liturgischen Gesänge mitsprach und im gesprochenen
Gebet des Priesters die liturgische Aufgabe erfüllt war, hatte
der Gesang seinen liturgischen Eigenwert verloren und erhielt
den Charakter der Ausschmückung" (S. 27). Wir wollen gewiß
nicht die Auswirkungen der Säkularisation auf die evangelische
Kirchenmusik verkleinern, aber abgesehen davon, daß
dieser in der ständigen Bezogenheit auf den Choral, die liturgische
Schöpfung der Reformation, ein wirksames Schutzmittel
gegeben war, stand sie nicht in der permanenten Versuchung,
Musik zum Gottesdienst zu schreiben, wie die katholische
Kirchenmusik, kann doch, von der Predigt abgesehen, grundsätzlich
jedes Stück des Gottesdienstes auch musikalisch ausgeführt
werden.

M Feilerer, Karl Gustav: Geschichte der katholischen Kirchenmusik.

2., verb. u. erw. Aufl. Düsseldorf: Musikverl. Schwann 1949. 199 S. gr. 8".
Hiw. DM 8.50.

Krieflmann, Alfons: Kleine Kirchenmusikgeschichte für studierende,
Kirchenmusiker und Geistliche. 3., verb. U. verm. Aufl. Tübingen: Schultheiß
1948. 181 S. mit 33 Abb. u. 12 Notenbeispielen, kl. 8°. Kart. DM 3.60.

Kirchenmusikalisches Jahrbuch. 34 Jahrg. 1950. im Auftrage der
Musikwissenschaft!. Kommission des Allgemeinen Cäcilien-Vereins für
Deutschland, Österreich u. d. Schweiz hrsg. v. Karl Gustav Feilerer. Köln:
. Bachem 1950. 112 S. 8°. Kart. DM §.80.

Musik und Altar. Zeitschrift für der katholischen Priester und Kirchen-
mrsiker. Hrsg.: Prof. Dr. Ferd. Haberl u. Geistl. Rat Dr. Adam Gottron.
2. Jahrg. H. 3 u. 4. Freiburg/Br.: Christophorus-Verl. 1949 50. S. 69—132.
8°. Einzelheft DM 1.20, halbjährl. 3 Hefte DM 3.—.

Feilerer gliedert den Stoff seines Buches in drei große Abschnitte: Musik
des Gottesdienstes — unter dieser Überschrift behandelt er nicht nur den
einstimmigen „dienenden liturgischen Gesang", sondern auch die ersten Anfänge
der Mehrstimmigkeit, bei denen es im wesentlichen um „Klangverbreiterung
", um Ausschmückung und vertikal-tropierende Ausdeutung des
Cantus firmus geht, — Musik im Gottesdienst — in diesem Abschnitt wird
der Versuch geschildert, den inneren gottesdienstliclien Ausdruck mit künstlerischen
Mitteln zu steigern, d.h. die Entfaltung der mehrstimmigen Musik
bis zu ihrer Gipfelung in dem Werk Palestrinas; — und Musik zum Gottesdienst
— diese Phase sieht Feilerer durch den Einbruch einer auf außcrlitur-
gischer Grundlage gewachsenen Musik von subjektiver Ausdruckskunst und
Affekthaltung und damit durch das Auseinanderbrechen der Einheit von
Liturgie und Musik bestimmt; er läßt sie mit Orlando di Lasso beginnen. Ein
versöhnlicher Ausblick auf die jüngste Entwicklung, die unter dem Zeichen
einer neuen Begegnung zwischen Musik und Gottesdienst steht, beschließt die
Darstellung. Als treibende Kraft in der Geschichte der Kirchenmusik schält
sich für Feilerer das wechselnde Verhältnis von Liturgie und Musik heraus;
die äußersten Gegenpole sind dabei liturgische Erstarrung auf der einen und
„Musikalisierung" des liturgischen Geschehens auf der anderen Seite. Damit
verwandt ist die Spannung zwischen der Pflege neuer Kirchenmusik und der
Tradicrung historischer Formen der Kirchenmusik. Feilerer macht dazu kluge
Bemerkungen, wenngleich die Probleme nicht bis zum Ende durchdacht
werden, — aber das würde vielleicht auch über den Rahmen einer Geschichte
der Kirchenmusik hinausgreifen. Gern hätte man in diesem Zusammenhang
das Problem des Verhältnisses zwischen geistlicher und weltlicher Musik behandelt
gesellen; es verdient immerhin bemerkt zu werden, daß es bisher nur
drei Epochen in der Musikgeschichte gibt, in denen eine grundsätzliche Austauschbarkeit
zwischen weltlichen und geistlichen Texten bestellt, also die
Anwendung des Parodievcrfahrens möglich ist: die Notre Dame-Schule der
Perotin und Leonin um 1200, das Dufay-Zeitalter, das seine Ausläufer noch
in das Refonnationszeitalter mit seiner Technik der Kontrafaktur entsendet,
und der eine Johann Sebastian Bach, der in seiner Person eine ganze Epoche
verkörpert. Wenn nicht alle Zeichen trügen, stehen wir heute im Anbruch
eines neuen Zeitalters der Korrespondenz zwischen geistlicher und weltlicher
Musik. Feilerer sieht im Expressionismus die Voraussetzungen für eine Wiederbegegnung
zwischen Kirchenmusik und allgemeiner Musikentwicklung gegeben
; allerdings habe das abstrakte Melos der neuen Musik in der zeitgenössischen
evangelischen Kirchenmusik größere Bedeutung als in der
katholischen bekommen, immerhin finde sich bei Hermann Schroeder und
Joseph Ahrens eine sich zu besonderer Klangkraft entfaltende Lincarität des
Satzes aus dem Geiste der Gregorianik. Eine zweite Richtung der heutigen
katholischen Kirchenmusik versuche, entsprechend der altklassischen Poly-
phonie, das gregorianische Melos harmonisch zu deuten und damit einen Neu-
palestrinismus zu schaffen; als Vertreter di eser Kunstrichtung nennt Feilerer
in erster Linie den verstorbenen Direktor der Berliner Akademie für Kirchen-
und Schulmusik Karl Thiel, die Schlesier P. Blaschke und Günther Biala
sowie Kurt Doebler. Fellerers Darstellung liest sich flüssig und informiert gut;
einige Fehler müßten in der nächsten Auflage berichtigt werden: Arthur
Honegger (S. 172) schafft nicht in Frankreich, sondern in seiner Heimat,
der französischen Schweiz, außerdem ist er — trotz seiner engen Zusammenarbeit
mit Paul Claudel — überzeugter Protestant; Igor Strawinsky (ebd.)
lebt schon seit vielen Jahren in Amerika. Jon. Nep. David (S. 175) ist zwar
von Geburt Katholik, rechnet sich aber seit den Tagen seiner Tätigkeit als
Organist an der evangelischen Kirche in Wels (Österreich) zur evangelischen
Kirchenmusik, und Olivier Messiaen ist in den letzten Jahren so gewichtig
In der geistlichen und weltlichen Musik hervorgetreten, daß er es verdient,
richtig geschrieben zu werden (nicht O. Messiansl).

Es ist ein seltsames Mißverhältnis, daß z.Zt. nicht eine
einzige Darstellung der Geschichte der evangelischen Kirchenmusik
greifbar ist, während für die katholische Kirchenmusik
gleich zwei Werke in neuer Auflage vorgelegt werden. Dieses
Mißverhältnis hat sich übrigens nicht erst seit dem Zusammenbruch
ergeben: den vier katholischen Arbeiten von Otto Ursprung
(Athcnaion, Potsdam), Karl Weinmann (Kösel, Kempten
und München), Karl Gustav Feilerer und Alfons Krießmann
stehen in der Kirche des Wortes (und damit der Bevorzugung
des Ohres) schon seit Jahren lediglich Friedrich Blume's ausgezeichnete
Monographie „Evangelische Kirchenmusik" (Athenaion
, Potsdam), und Johann Daniel von der Heydt's nicht
voll befriedigende Darstellung der Geschichte der Kirchenmusik
gegenüber.

Die kompendienartige Darstellung des im Jahre 1943 verstorbenen
Dozenten an der Stuttgarter Hochschule für Musik.
Alfons Krießmann, behandelt in drei Abschnitten die gregorianischen
Melodien, das deutsche Kirchenlied und die mehrstimmige
Kirchenmusik. Ihr besonderer Vorzug ist die stichwortartig
zusammenfassende, gute Charakterisierung wesentlicher
Erscheinungen der Kirchen- und Musikgeschichte. Allerdings
entgeht auch sie nicht immer der Gefahr, von der Uberfülle
des Stoffes überwältigt zu werden; in manchen Abschnit-