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Ausgabe:

1950 Nr. 12

Spalte:

709-716

Autor/Hrsg.:

Morenz, Siegfried

Titel/Untertitel:

Entstehung und Wesen der Buchreligion 1950

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709

Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 12 710

des Christushandelns zuletzt erfüllt in der eigenen Unterordnung
unter Gott. Mit der Formulierung: Iva j 6 &eog ndvra
iv Ttäaiv kann dann nicht ein Aufgehen Gottes im All oder
ein Aufgehen des Menschen in Gott gemeint sein; das wäre
nur im Bereich eines geschichtslosen Denkens möglich. Bei
Paulus geht es vielmehr um die All-Mächtigkeit Gottes im
eigentlichen Sinne des Wortes: darum, daß nichts außerhalb
Gottes seine willentliche Existenz hat; darin ist auch die Zielsetzung
des Menschen beschlossen.

Damit ist nun ein Wesentliches über die Telos-Bestim-
mung Philons hinaus ausgesagt. Mit Philon gibt Paulus auf
die Sinnfrage die Antwort: Gott ist der letzte Sinn. Uber
Philon hinaus aber bekennt er sich zu dem Sinn der Geschichte
. Das Griechentum sieht diese Möglichkeit überhaupt
nicht; für seine Weltbetrachtung vollzieht sieh alles
Geschehen in einem Kreislauf, in den kleinen Perioden der
Menschengenerationen und in den großen der kosmischen
Entwickelung — diese verlaufen nicht zielstrebig, sondern in
der ständig sich wiederholenden Abfolge von Werden und Vergehen
. Hinter Philons Theologie der Offenbarung steht wohl
auch das Wissen um den Gott der Geschichte, der sieh in ihr
kundgetan hat; nicht sichtbar wird dagegen bei ihm ein
Werdeziel der Geschichte in Gott. Erst bei Paulus begegnet
im griechischen Bereich der Satz, daß die Äonen, die Geschichtsperioden
ihre Zielsetzungen von Gott her haben; sie
münden ein in das Heilshandeln Gottes durch seinen Christus
in der neutestameutlichen Gegenwart (1. Kor. 10, 11). Diese
Zielsetzungen sind von Urzeit her gegeben; aber in der Gegenwart
des Neuen Testaments beginnt ihre Enthüllung für den
irdischen und den überirdischen Bereich (vgl. 1. Kor. 2, 7;
Rom. 16, 25). Dadurch ist der Christ sehr konkret in den Ablauf
der zielstrebigen Heilsgeschichte eingeordnet: er ist ein
Teil von ihr in seinem Hier und Jetzt des Jahres 50 n. Chr. In
dem fortlaufenden Christusgeschehen verwirklicht sich das
Telos alles Geschehens: in ihm wird der Sinn der Geschichte
offenbar, der mündet in das vollendete Gottsein Gottes.

Auch die Wendung „auf Gott hin" gehört in diesen Zusammenhang (sie
findet sich meist in der Verbindung mit All-Formeln). Es ist lehrreich, daß
All-Formeln in der Fassung mit dg außerhalb des N.T.s selten begegnen1; im
Griechentum besagen sie allenfalls die jeweils gegenwärtige Bezogenheit
alles Seienden auf die Gottheit. In der paulinischen Aussage steht dahinter
das W2toen um den Erfüllungscharakter alles Geschehens, das eingefügt ist in
einen Plan Gottes: Gott ist der Gott einer echten, d.h. sinnhaften Geschichte,
in deren Vollzug der Christ mitten inne steht. Deutlich wird das ausgesprochen
1. Kor. 8, g:((}/((i> dg 6 -Tar;;o,) e{ ov rä Tiävra xai fjf/eig dg avjnv.
Hier wird die All-Formel nur in der ersten Aussage verwandt, die
Gott als den Urgrund alles Lebens bezeichnet; in der zweiten, für unseren
Zusammenhang entscheidenden folgt die ausdrückliche Beziehung auf den
Menschen: Gott ist das Endziel, in das alles Menschsein einmünden soll. Die
Fortsetzung der Bekenntnisformel zeigt dann, daß dieses Ziel erreicht wird
,.aurch Christus", durch den der Mensch erst seine eigentliche Existenz
empfängt.

In dem Sinnziel ,,Gott" gewinnt der Mensch das Leben,
die Erfüllung seines Seins: nicht üi seinem Menschsein, sondern
in dem In-Christus-sein. Vielleicht wird dieses Spezifische
besonders deutlich an den negativen Te'Aof-Aussagen,

') Zusammenstellung bei Ed. Norden, Agnostos Theos (1913), 240, 249f.

die in ironisch-paradoxer Verwendung von dem „Werdeziel"
des Menschen ohne Christus reden: es ist der Tod (Rom.6,21),
die totalfe Verheerung des Seins, bzw. die ämöXeia (Phil. 3, 19)'
Es wird hier sichtbar, daß der Begriff aus dem Bereich der
menschlichen Bemühung und Verfügbarkeit enthoben ist: das
negative ri/x>g liegt allerdings in der Möglichkeit des Menschen
; das positive dagegen ist von Gott gesetzt, und der
Mensch bekommt Anteil an ihm nur dadurch, daß er von Gott
dazu gesetzt wird — er erlangt es nur im Glauben. Ihr Telos
ist die ewige Lebendigkeit, sagt Paulus von denen, die in der
radikalen Unterordnung unter Gott stehen (Rom. 6, 22).

Erscheint hier das Leben im göttlichen Bereich als Ziel des Menschen
(ähnlich versteht bereits Clem. Alex, die Stelle, Strom. II, 134), spricht Paulus
anderswo von seinem Begehren nach der vollendeten Christusgemeinschaft
(Phil. 1, 23), seinem Verlangen nach der himmlischen Behausung (2. Kor. 5, 2),
nennt er die künftige Herrlichkeit eine Vergeltung (Kol. 3, 24), bezeichnet er
die kommende öuta und äupdaQOt'a als Lohn (Rom. 2, 6), so scheint in dieser
Aussagenreihe eine Parallele zu bestehen zu dem neuplatonischen Telos der
üüavaot'a. Aber das Mißverständnis der Sätze im Sinne eines individualistischen
Glückstrebens wird durch die übrigen Äußerungen des Paulus ausgeschlossen
(die Vokabeln evdai/t- fehlen nicht von ungefähr im Neuen Testament
).

Hier sind vor allem noch die Sätze zu nennen, die die
<5öfa &eoC<? als Endziel alles Geschehens bezeichnen. Die Missionsarbeit
des Paulus (2. Kor.4, 15), seine Fürbitte für die
Gemeinden, deren gesamtes Leben (Phil. 1, 11), das Handeln
der Christen in allen Bereichen des Menschseins (1. Kor. 10, 31;
6, 20) — all das ist im Letzten auf die Ehre Gottes ausgerichtet.
Gelegentlich nennt dann Paulus auch die Verherrlichung des
Christus als Ziel des apostolischen Wirkens und Leidens
(Phil. 1, 20 ne;>a).vv&>iGETa.i): sein Ruhm klingt mit dem
Gottes in eins; denn die Anerkennung des Herrentums Jesu
geschieht ja dg öd£av öeov fcaxQog (Phil. 2, 11), das Bekenntnis
xvoiog 'Irjoovg Xqtaxög im himmlischen und irdischen
Gottesdienst ist gerichtet auf die Ehrung Gottes. Darin hat
das Heilshandeln Gottes sein letztes Ziel (Phil. 2, 10 Iva . . .).
tig tö elvai fj/iäg dg enatvov doirjg avrov: so wird ausdrücklieh
die Zielsetzung des Christen bestimmt (Eph.i, 12, vgl. 1,6:
eig enaivov öoi-ijg Trjg xdgirog ainov und 1, 14); wenn Gott den
Menschen in den Plan der Heilsgeschiehte von Urzeit her
einfügt, so will er damit hinaus auf die göttliche öd;a.

Dem Menschen ist damit freilich die Eigenwürde der
humanistischen Selbstsetzung genommen: ihm wird seine
höchste Würde gegeben, darin gegeben, daß er durch Christus
auf Gott hin existiert. Gott erschließt sich dem Menschen in
der Heilsgeschichte, die ihm die Möglichkeit seiner eigentlichen
Sinnerfüllung gibt: der „Sinn des Lebens"'wird aufgehobenem
] dem Sinn der Geschichte, und der Sinn der Ge-
schiehte^ist'Gott selber, der handelt in Jesus Christus. Das ist
nicht die religiöse Verbrämung eines aufs höchste verfeinerten
Eudämonismus, wie er uns in den hervorragenden Vertretern
der griechischen Philosophie begegnete. Daß Gottes Wille auf
die Gemeinschaft der Menschen mit ihm geht, daß Gottes
Plan in Christus dem Menschen das Heil schenkt, daß Gottes
ö6$a in seiner Gnade sich vollendet, das ist seine unbegreifliche
Gabe: aber auch Gottes Liebeswille für die Menschheit
ist zuletzt auf nichts anderes ausgerichtet als auf die Selbst-
verwirklichung Gottes.

Der moderne Betrachter, und insofern er moderner
Mensch ist auch der Forscher, nimmt es als gegeben hm, daß
eine Heilige Schrift im Mittelpunkt des Gottesdienstes steht.
In der Tat nötigen ihm die religiösen Erscheinungen im Abeuü-
lande so gut wie im Nahen Osten und auch mancherorts sonst
in der Welt diesen Eindruck auf. Die Heiligen Schritten sind
zwar je nach der Art der Religionsgemeinschaft in verschiedener
Weise dem Gottesdienst zugruudegelegt; damit ist aber

') Dem historischen Teil des nachstehenden Aufsatzes liegt eine Untersuchung
von Jon. Leipoldt und dem Verfasser zugrunde: Heilige Schriften.
Eine religionsgeschichtliche Betrachtung zur alten Mittelmcerwelt (noch un-
gedruckt). Mir schien geraten, den bedeutenden Gegenstand außerhalb der
Einzeluutersuchung in einfachen Linien zu zeichnen und dabei die historische
Seite mit einer systematischen zu verbinden: nach dem Werden zu fragen,
aber auch das Sein zu deuten. In Gesprächen und mit Hinweisen haben mich
die Herren Professoren Alt, Eißfeldt, Kleiriknecht, Rud. Meyer und Schweitzer
gefördert. Dem Manne aber, der mich zur wissenschaftlichen Arbeit geführt
hat, sei der Beitrag als Geburtstagsgruß dargebracht.

Entstehung und Wesen der Buchreligion1

Von Siegfried Morenz, Leipzig

zugleich gesagt, daß sie überall das Fundament bilden. Von
der völligen Ausschaltung fremder Elemente, also von der
reinen Schriftverlesung und -erklärung, führt der Weg durch
mehrere Stationen zur Dramatisierung des heiligen Textes in
Darstellung und liturgischer Paraphrase. Im christlichen Bereich
hält die katholische Messe in etwa die Mitte zwischen
dem Schriftpurismus der Reformierten und dem kultischen
Drama der Ostkirche. In wundersamer Ausgewogenheit bieten
hier die kultischen Formen der Strenge des heiligen Textes
das Gleichgewicht. Wer das Dramatische überschätzen will,
wird sogleich durch die peinliche Sorgfalt berichtigt, mit der
die Bibelworte als dynamische Seele der Wandlung zu sprechen
sind. Wo der Erforscher geschichtlichen Werdens im
Bannkreis einer solch lebendigen, überall gegenwärtigen Erfahrung
steht, muß er zunächst die Kraft der Distanzierung
aufbringen. Erst von draußen wird ihm Werden und Wesen
des Kreises anschaubar werden; er wird die historische Konstellation
wahrnehmen können, aber auch der seltsamen Kraft
inne werden, welche gemeinsam die Erscheinung erzeugt ha-