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Ausgabe:

1950

Spalte:

49-50

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hessen, Johannes

Titel/Untertitel:

Max Scheler 1950

Rezensent:

Schneider, F.

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Seite 1

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49

Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 1

SO

sätzlichen Problematik untersucht. Kein Leiter und kein Mitarbeiter
des Kirchlichen Außenamtes, kein Auslandspfarrer
und keine Auslandsgemeinde wird sich diese wertvollen Erfahrungen
entgehen lassen dürfen. Darin liegt die Stärke der
Schrift, aber auch ihre Schwäche. Sie sieht die Auslandsdiaspora
allzu sehr vom Standpunkt des Kirchlichen Außenamtes
aus. Unter den drei Gruppen, den Gemeinden in den
Welt-, Haupt- und Handelsstädten, den evangelischen Synoden
in Übersee und den sog. „Volksdeutschen" Kirchen
kommen deshalb die letzteren am schlechtesten weg. Sie werden
nur auf einer Seite abgehandelt (S. 34/35) • sie wären „bis auf
einen Rest — die evangelisch-lutherische Kirche in Siebenbürgen
— ausgelöscht". Ihre Verbindung mit der Heimatkirche wäre
mehr eine karitative als eine amtliche gewesen. „Die Tätigkeit
der Heimatkirche war auf Anregung, auf Schutzstellung
in gefährdeten Zeiten, auf theologische und manchmal personelle
Hilfe begrenzt." Wert und Bedeutung der Auslandsdiaspora
scheint hier von dem Grade der verwaltungsmäßigen
Verbundenheit mit der Heimatkirche, dem Anschluß der Gemeinden
und Geistlichen an das Kirchliche Außenamt abhängig
gemacht. Kirche ist aber nicht so sehr eine Rechtsund
Verwaltungseinheit, sondern eine Glaubens- und Liebesgemeinschaft
. Gerade weil der Verf. sonst immer auf Diasporaprobleme
eingeht, hätte man erwartet, daß er auch das Eigenleben
der selbständigen Auslandskirchen etwas gründlicher
behandelt hätte, ihre besonderen Probleme, die sich aus ihrer
Selbständigkeit und Eigenart ergeben und die nicht verlöschen
durch die teilweise Zerstörung der einen oder der anderen Auslandskirche
. Auch die vernichteten Auslandskirchen hätten
ehien liebevolleren Nachruf verdient für ihre tapfere Vertretung
der Grundsätze des Evangeliums auch gegenüber den
nationalsozialistischen Unterdrückungsversuchen, wie die
evangelische Kirche in dem „Mustergau" Wartheland, die
auch nach der „Befreiung" besseren Widerstand geleistet hat
als manche Heimatkirche und dann als völlig intakte Bekenntniskirche
in der wandernden Diaspora aufgegangen ist. Auch
in der Aufzählung der verlorenen Kirchenprovinzen (auf S. 8)
ist die Posener Kirche vergessen worden; sie war bis zum
Schluß integrierender Bestandteil der evangelischen Kirche
der altpreußischen Union, stand also mit dem Berliner Oberkirchenrat
und nicht mit dem Kirchlichen Außenamt in Verbindung
.

Diese Einschränkung hindert nicht die Anerkennung der
umfassenden Behandlung der Probleme in den angeschlossenen
Auslandsgemeinden und -synoden. Von der Grenzsituation,
der Gliederung, dem Gestaltwandel der Auslandsdiaspora und
ihrer kulturellen Bedeutung führen uns die einzelnen Kapitel
zu den Auswanderungsfragen und zur katholischen auslandsdeutschen
Arbeit. Im einzelnen werden die Probleme der Mehrsprachigkeit
, der Dissimilation oder Assimilation, der interkonfessionellen
Unterschiede behandelt. Erschöpfend kann
dies auf 100 Seiten natürlich nicht geschehen. Der grundlegende
Diasporabegriff wird zwar im Alten und Neuen Testament
und in der Kirchengeschichte untersucht, aber eine
klare Abgrenzung der konfessionellen Diaspora von nationaler
Vereinzelung wird nicht durchgeführt. Es wird nicht ausdrücklich
ausgesprochen, daß wir den Begriff einer nationalen Diaspora
ablehnen müssen und das Wort Diaspora allein für den
kirchlichen Raum in Anspruch nehmen. Aber in welchem Sinn
sind dann die baltischen Kirchen Diaspora unter den ebenfalls
lutherischen Esten und Letten oder die deutschen evangelischen
Gemeinden in Schweden, Holland usw. ? Um konfessionelle
Diaspora handelt es sich dabei sicher nicht. Das
wäre einer der Wünsche für eine zweite Auflage an den sachkundigen
Verf., der in klarer Sprache und systematischer Darstellung
uns theologisch und kirchlich viel zu sagen hat.

Berlin Richard Karamel

PHILOSOPHIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Hessen, Johannes: Max Scheler. Eine kritische Einführung in seine Philosophie
aus Anlaß des 20. Jahrestages seines Todes. Essen: v. Chamier [1948].
134 S. 8°. Kart. DM 3.80.

Die vielen, zerstreuten Schriften und Aufsätze Schelers,
die heute fast alle vergriffen sind, finden in diesem Buche des
bekannten Kölner Philosophen eine treffliche Zusammenfassung
in den Kapiteln: „Wesen derPhilosophie" („Philosophie
ist ihrem Wesen nach streng evidente, durch Induktion
unvermeidbare und unvernichtbare, für alles zufällig Daseiende
a priori gültige Einsicht in alle uns an Beispielen zugänglichen
Wesenheiten und Wesenszusamnicnhänge des

Seienden, und zwar in der Ordnung und dem Stufenreich, in
denen sie sich im Verhältnis zum absolut Seienden und seinem
Wesen befinden"), „Erkenntnistheorie", „Ethik" (objektive
Wertethik; „Absage an den Subjektivismus und Relativismus
"), „Religionsphilosophie" („Wesensontik des Göttlichen
"; „Grundgedanke . . .: das religiöse Objekt ist eine onto-
logische und eine axiologische Größe zugleich"), „Philosophische
Anthropologie" („Stellung des Menschen im Kosmos
"; Dualität von Leben/Seele und Geist), „Gesellschaftsund
Geschichtsphilosophie", „Metaphysik". So vermittelt
das Buch einen starken Eindruck von der Art und dem
Inhalt des Schelerschen Philosophiereus. Dabei wird jeweils
auch die Entwicklung des Schelerschen Denkens, z. B. in der
Bestimmung des Geistes, Gottes, herausgestellt. Hessens sachkundige
, kritische Anmerkungen am Ende jedes Kapitels
zeigen die „Grenzen" Schelers und die Möglichkeiten seiner
fruchtbringenden Weiterbildung. Am knappsten ist — leider
— der Abschnitt über „Erkenntnistheorie" gehalten. Hier
dürfte auch Hessens Darstellung Schelers als Fortbildner der
(idealistischen!) „Phänomenologie" und Begründer eines
„Realismus" ergänzungsbedürftig sein (Schelers Lehre von
den „Bildern"; die Probleme des „Vergegenständlichen"). Den
Theologen wird besonders die metaphysische Spätlehre vom
„werdenden Gott" und ihre Kritik fesseln. Ob die von der
Lebensphilosophie bestimmte Ausprägung dieses Gedankens
aber nur hybriden-gnostischen Ursprungs ist oder ob nicht
doch auf eine Einseitigkeit der christlichen Gotteslehre mit
ihrem „reinen" (u. a. neuplatonischen) Spiritualismus von
Scheler hingewiesen wird, darf gefragt werden.

Hessen widmet sein Buch den „Anti-Nihilisten". Ihnen
wird es wertvolle Dienste leisten; denn Scheler glaubte „an
den Sinn des Daseins ... an Gott und Geist". Gleichzeitig
bedeutet Schelers „durch und durch" metaphysische und gerade
so „universal gerichtete" Philosophie in der Gegenwart
vielleicht den stärksten Gegenpol zu der einseitig am menschlichen
Dasein (und damit kantisch!) orientierten Existenzphilosophie
, obwohl sie selbst aus dem Leben und Erleben geschöpftes
„existentielles Philosophieren" ist. „So kann uns
ihr Studium zur hohen Schule eines wahrhaft universalen
Philosophierens werden".

Jeder wird dieses flüssig geschriebene, klar disponierte
Buch mit innerem Gewinn aus der Hand legen.

Manubach b. Bacharach/Rh. F. Schneider

Wilpert, Paul: Was heißt philosophieren? Nürnberg: Glock und Lutz
1947. 16 S. 8°. DM—.80.

Dieser Aufsatz wurde 1944 durch die philosophisch-theologische
Hochschule Passau an deren im Felde stehende Hörer
versandt und stellt eine Auseinandersetzung mit der Ideologie
des Nationalsozialismus dar, der unter dem Begriff des Biologismus
bekämpft wird. Die Schrift geht von einer Aussage
über den Menschen aus, der als Geistwesen innerhalb der
vitalen Sphäre gedeutet wird. Abgelehnt wird die These, daß
der Geist nur ein Mittel biologischer Selbstbehauptung sei.
Der Wert des Menschentums bestehe darin, sittliche Werte
gerade auch im Gegensatz zu vitalen Werten anzustreben und
zu verwirklichen. Der handelnde Mensch steht in Freiheit und
Verantwortlichkeit. „Philosophie ist das Ringen des Menschen
um seine Selbstbehauptung als vernünftiges Wesen angesichts
der Bedrohung durch die Rätsel des Daseins" (S. 11). Sie
schließt die wissenschaftliche Weltsicht ein und ringt auf ihrem
Boden um einen letzten Maßstaß des Handelns. Sie ist sich
dabei durchaus ihrer Begrenztheit bewußt und kann deshalb
auch neben dem Glauben bestehen. Der Glaube schließt nicht
aus, daß der Mensch um die Wahrheit ringt. So ist von der
Philosophie die Selbsterkenntnis zu fordern, daß sie sich oft
geirrt hat, aber ihr Recht besteht in der immer neuen Suche
nach der Wahrheit. Berücksichtigt man den Anlaß, aus dem
die Schrift entstand, so kann mau sie durchaus bejahen. Es
handelte sich um eine kurze, mehr schlagwortartige Auseinandersetzung
mit der nationalsozialistischen Ideologie. Als
solche hat sie zweifellos ihre Wirkung auf die Leser getan.
Dennoch kann sie heute nicht mehr als eine Anregung zum
Nachdenken sein. Die letzten Fragen um die Deutung der
Philosophie in ihrem Verhältnis zum Leben, zur Wissenschaft
und Religion bedürfen doch wohl einer gründlicheren
Auseinandersetzung. Die gegebene Definition der Philosophie
(s. oben) ist als Antithese gegen den Biologismus verwendbar,
von dieser Antithese abgelöst erscheint sie "mir allerdings nicht
ausreichend. Es wäre zu begrüßen, wenn der Verf. seine Gedanken
heute ausführlicher darstellen würde.

Leipzig Hans Köhler