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Ausgabe:

1950 Nr. 11

Spalte:

676-677

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Kierkegaard, Søren

Titel/Untertitel:

Tagebücher 1950

Rezensent:

Gloege, Gerhard

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 11

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fragwürdigere Versuch, auf eineinhalb Seiten (!) das gewichtige Thema „Dämonologie
und Satanalogie" zu erörtern? Das führt zwangsläufig zu einem für
das Gesamtthema des Buches denkbar ungeeigneten, ja seiner unwürdigen
Feuilletonismus, durch den das ganze Buch gekennzeichnet und belastet ist. —
Erstmalig der kurze Abschnitt über den „Typus Antichrist" bietet so etwas
wie eine ansatzweise positive Ausführung zum Thema, obwohl es mehr als
kühn ist, das Wort Joh. 5, 43 als das „wichtigste aller Herrenworte über den
Antichrist" zu bezeichnen. Der Verf. bleibt uns für diese überraschende Behauptung
leider den Beweis schuldig. — Inwiefern der Antichrist als die „zentrale
Figur der christlichen Geschichtsbetrachtung" zu bezeichnen ist, wird
wohl erst das soeben erschienene und mit berechtigter Spannung erwartete
Buch von P. Schütz über „Das Mysterium der Geschichte" dartun. — In
seinem Element scheint der Verf. erst angelangt zu sein bei den sich anschließenden
aufschlußreichen Ausführungen über „Faust und Don Juan".
Hier stellt sich auch in der Person von Reinhold Schneider ein sehr ernst zu
nehmender Gewährsmann ein; auch der Hinweis auf E. Dacque ist dankenswert
. Zu der verblüffenden Einbeziehung — in nächster Nachbarschaft von
Goethe! — eines erst neuerlich bekannt gewordenen modernen Antichristspieles
(aus der Feder eines Berliner Geistlichen) in diesen Kreis anerkannter
literarischer Werke vermag der Schreiber dieser Zeilen propter ignorantiam
leider noch nicht Stellung zu nehmen. — Interessant sind auch die Ausführungen
über Dostojewski, von dem der Verf. in starker Übertreibung behauptet
, bei ihm fände sich eine „Theologie des Bösen, wie sie von keinem
Theologen besser und kenntnisreicher geschrieben werden könnte". Der Wahrheitskern
dieses Satzes liegt darin begründet, daß zweifellos gerade Dichter es
sind, deren besonderem Spürsinn und deren intuitivem Blick wir Teilerkenntnisse
aus der Welt des Bösen verdanken, wie sie dem grüblerischen und forschenden
Auge etwa auch des Bibellesers und Dogmatikers nicht, oder nur
ganz selten, gegeben zu sein scheinen. Sind es dann noch Menschen, die — wie
Dostojewski — im Sieb des Leidens geschüttelt worden sind, so werden sie tatsächlich
auf diesem dunklen Gebiet zu unentbehrlichen Wegweisern. Zusammenfassend
ist über das erste grundsätzliche Kapitel „Geist des Antichrist
" zu sagen, daß seine Stärke im Literaturgeschichtlichen liegt. Vom
Geist des Antichrist verrät es noch nicht allzuviel. — Noch weniger von demselben
wird sichtbar in der sich anschließenden „Geschichte des Antichrist",
dem eigentlichen Hauptteil des Buches. Wenn das der Antichrist sein soll,
dessen angebliches Wesen jene Vorläufer partiell wiederspiegeln, so ist es zu-
allermeist ein harmloser, denaturierter Antichrist, zu dessen Bekämpfung und
Vernichtung Christus nicht in diese Welt gekommen zu sein brauchte. Gleich
der erste praecursor Cola di Rienzo ist geradezu eine Beleidigung des Antichrist
, aber kein Vorläufer desselben. Die bloße Tatsache, daß ihn seinerzeit
ein avignonensischer Papst als solchen bezeichnet hat, daß ein Mann vom
geistigen Format eines Petrarca ihn verhimmelte, ist für die Bewertung selbst
mehr oder weniger belanglos (was der Verf. sogar im Blick auf Luthers Per-
horreszierung des Papstes mit Recht zugibt). Wenn M. von ihm behauptet, er
sei in der Theologie wie ein Zauberlehrling gewesen — nun, das Gegenteil
davon ist beim Bösen der Fall, von dem P. Schütz mit Recht bemerkt, er sei
„in der Theologie gewaltig zu Hause, und alle Künste der Metaphysik stünden
ihm spielend zu Gebote". — Dasselbe gilt von dem zweiten „Vorläufer", dem
aus der Kirchengeschichte sattsam bekannten pathologischen Sonderfall des
Jan Bockelson. Was hier der Verf. auf S. 92 (und anderswo) an Details über
gewisse erotische Exzesse bietet, hat mit dem Schwergewicht des Themas auch
nicht das mindeste mehr zu tun. Hier waltet, leider sehr zum Nachteil des
Buches, der Geist des Mannes, dem das Buch gewidmet ist, des in kulturgeschichtlichen
Abstrusitäten bestens bewanderten und vielbelesenen F. Reck-
Malleczewen (ehemals Ostpreußen). Auf dieser Linie läuft tatsächlich „jede
Feder Gefahr, indem sie gegen den Bösen schreibt, von ihm selbst geführt zu
sein" (P. Schütz). — Nicht anders liegt es bei dem dritten Vorläufer, dem
falschen Demetrius. In einem Buch über Hochstapler der Weltgeschichte wäre
er sehr am Platze, nicht aber im vorliegenden. Ihm wird vielzuviel Ehre erwiesen
durch Aufnahme in die Zahl der Vorläufer des Antichrist. Diese Spukgestalten
der Weltgeschichte erledigen sich von selbst. Sie anzuprangern bedeutet
nichts zur Entlarvung des Antichrist. In diesem Zusammenhang muß
auch ein geschichtliches Fehlurteil des Verf.s erwähnt werden: der S. 125 erwähnte
Kerenski ist hier völlig fehl am Platz. K war gewiß so etwas wie ein
Volkstribun, aber ohne jeden religiösen oder pseudoreligiösen oder gar dämonischen
Einschlag. Darüber sind für jeden Rußlandkenner die Akten längst geschlossen
. •— Nicht unerwähnt kann auch eine schwerwiegende theologische
Entgleisung bleiben, die sich auf S. 105 findet: die Kirche weiß durch die Auferstehung
des Herrn keineswegs „den letzten Feind, den Tod, bezwungen".
1. Kor. 15,26 behauptet mit Recht das genaue Gegenteil. — Das Kapitel über
Wallenstein bietet zum Thema selbst nicht das Geringste. Ihn als Vorläufer des
Antichrist zu bezeichnen ist schlechterdings unmöglich, da jeder Ansatzpunkt
dafür fehlt. — Das Kapitel über die selbst für Geschichtskundige wenig bekannte
Gestalt des jüdischen Messiasprätendenten Sabbatai Zewi ist höchst
unerfreulich und sachlich unfruchtbar. Was da in den Abschnitten mit den
verdächtig reißerischen Überschriften „Messias ohne Mannbarkeit" und „der
Heiland und die Hure" an pikanten Belanglosigkeiten mitgeteilt wird, hat mit
ernster Wissenschaft auch nicht das mindeste mehr zu tun, und muß um der
Sache willen energisch abgewiesen werden. So geht es wirklich nicht weiterl —■
Das Kapitel über Cagliostro, das in der in Reinkultur verwirklichten berufsmäßigen
Scharlatanerie eine Vorwegnahme des Antichrist erblicken will, wäre
besser ungeschrieben geblieben. — Etwas günstiger liegt es mit dem Kapitel
über Robespierre, der immerhin unter die dämonisch geprägten Persönlichkeiten
der Weltgeschichte zu rechnen ist, wenngleich ebenfalls noch nicht unter
die Vorläufer des Antichrist. Dazu fehlen bei ihm nahezu alle wesentlichen
Charakterzüge des Antichristlichen. Wohl aber trifft das in gewissem Umfange
auf Napoleon zu, dem die Geschichte das im Buche zitierte Wort nachsagt:
„Ich wollte eine neue Religion stiften" — er, der selbst „ein völlig glaubensloser
Mensch war", dabei aber gleichzeitig (was dem Verf. unbekannt zu sein
scheint) in dem, dem Volke aufgezwungenen Katechismus zum 4. Gebot erklären
ließ, „ihm zu dienen heißt soviel wie Gott selbst ehren und dienen",
und der in Ägypten verkünden ließ: „Wer wider mich ist, findet weder in dieser
noch in jener Welt einen Rettungsort. Selig aber sind die, welche fest an mich
glauben". Was hier der Verf. (auf S. 230f.) an Einzelheiten bringt, läßt ehestens
die Annahme berechtigt erscheinen, daß wir es in Napoleon tatsächlich mit
so etwas wie einem Vorläufer des Antichrist zu tun haben. Er ist auch der
einzige unter den Genannten und noch zu Nennenden (der Taipingkönig in
China und Enver Pascha) geblieben. Was bezüglich der beiden Letztgenannten
vom Verf. berichtet wird, kann man nur kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen
und ad acta legen. Die Sache des Antichrist wird durch sie nicht tangiert.
Wenn man zusammenfassend die Auswahl der zehn sog. Vorläufer des Antichrist
betrachtet, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier
Willkür und mangelnde biblisch-dogmatische Vertiefung in den Gegenstand
obwalten. Die Auswahl hätte genau so gut anders getroffen werden können.
Ein Caracalla wurde selbst von dem großen Humanisten Jac. Burckhardt „der
Satan" genannt. F. Thieß bietet in seinem überaus sachkundig geschriebenen
„Reich der Dämonen" geradezu eine Musterkollektion von dämonisch bestimmten
Gestalten mit und ohne Format aus der Geschichte des oströmischen
Kaiserreiches. Der Kreis ließe sich beliebig erweitern — aber nicht auch zugleich
der Kreis der Vorläufer des Antichrist. Es hat sie hin und her gegeben,
wenngleich sie als metaphysisches Einsprengsel in die Geschichte zu werten
sind, aber sie scheinen bisher glücklicherweise äußerst dünn gesät zu sein. Der
Verf. zählt zu ihnen zu guter Letzt mit besonderer Ausführlichkeit auch Hitler
(im Schlußabschnitt „Gegenwart des Antichrist"). Als Kostprobe führe ich
einen Satz von S. 283 an: „Noch nie in der Geschichte hat sich uns Güte, die
böse ist, und Grüße, die klein ist; Wahrheit, die Lüge, und Tugend, die Tücke
ist, so unmittelbar deutlich wie im Bilde Hitlers vor Augen gestellt". Die hier
fallenden Urteile sind begreiflicherweise von großer Einseitigkeit und Subjektivität
. So wird (S. 291) zustimmend von seiner — non sit venia verbo! —
„Exkrementalvisage" gesprochen. Bismarck wird als „ausgesprochen dämo-
nisch-luziferischer Typ" bezeichnet, Wilhelm II. als „echter Vorläufer Hitlers"
und als ein „Machthaber vom Typus Antichrist" (!) (S. 299). Die „Mächte der
preußischen Wirklichkeit" seien als „nicht mehr dämonisch, sondern nur nocli
als satanisch" zu begreifen. Hitler wird (ein billiges Vergnügen!) (S. 302) in
seiner bürgerlichen Existenz aufs schwerste desavouiert — alles Dinge, die
man in radikal gegnerisch eingestellten politischen Büchern allenfalls gelten
lassen kann, schwerlich aber in einem Buche, das vom Verf. ernsthaft als eine
immerhin wissenschaftliche Leistung gewertet sein will, dem man aber, wie
dargetan, diesen Charakter leider nicht zusprechen kann. In Ihm finden sich
zweifellos eine Fülle geschichtlicher und kulturgeschichtlicher Einzelheiten von
jeweils wechselnder Bedeutung. Der diesbezüglich Interessierte wird also in gewissem
Sinne auf seine Kosten kommen, nie und nimmer aber der ernsthaft
nach den wirklichen „Vorläufern des Antichrist" fragende Leser. Es werden
uns in Wahrheit Personen und Begebenheiten geschildert, die man höchstens
als Teufeleien der Weltgeschichte, als Giftblasen auf dem Teufelsmoor der Geschichte
, als Ausgeburten der Hölle, als Spukgeister auf der Bühne des
theatrum mundi bezeichnen kann, zum mindesten aber insgesamt als notorische
Bösewichter — während der Verf. eingangs mit Recht einmal darauf
hinweist, daß der Antichrist nicht als Bösewicht kommt. Nein, der Verf. hat
offenbar nicht genügend Ernst gemacht mit dem „großen Magier, der sich
selbst wegzaubert" (P. Schütz), mit dem „Meister der Tarnung". So leicht ist
der Antichrist (bzw. seine Vorläufer) nicht zu erkennen. Hier wäre weniger —•
mehr gewesen. Der Sache selbst, die groß und überaus wichtig ist, wäre besser
gedient mit einer Einstellung, wie sie etwa im folgenden Satze eines unlängst
verstorbenen Theologen (Lic. W. Spitta, zitiert in der MoPaTh April 1949)
zum Ausdruck kommt: „In Judas (Ischarioth) ahnen wir (siel) das mysterium
iniquitatis".

Zechlinenhütte, Kr. Ruppin Roland Buhre

Kierkegaard, Süren: Tagebücher. Eine Auswahl. Ausgewählt u. übers,
v. Elisabeth Feuersenger. Wiesbaden: Metopen-Verlag 1947. 207 S. m.
1 Titelb, 8°. Hlw. DM 9.50.

Wenn eine Schriftstellerin am Abend eines langen Lebens,
das sie zugleich als Medizinerin und Sozialfürsorgerin in den
Dienst der Allgemeinheit stellte, aus den Tagebüchern Kierkegaards
fast 300 größere oder (meist) kleinere Abschnitte auswählt
und übersetzt, so darf dies nicht unbeachtet bleiben.
Was die Herausgeberin an dem dänischen Denker angezogen
hat, ist offenbar außer seiner ,scharfen psychologischen Beobachtungsgabe
" sein „Bemühen, um eine neue Auffassung
grundlegender Probleme der Welt, des Geistes und der Religion
" (204) und die Unerbittlichkeit seines „ethisch-religiösen"
Radikalismus (12ff.). So ist sie wesentlich an der Person des
Autors und an seinem auf persönlichen Voraussetzungen beruhenden
Denken interessiert, an dem großen Denker, „in
dem phantasiereiche Dichtung sich mit scharfer Dialektik verband
" (5). Eine vorwiegend literarisch-ästhetische Grund-