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Ausgabe:

1950 Nr. 11

Spalte:

669-670

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Balthasar, Hans Urs von

Titel/Untertitel:

Prometheus 1950

Rezensent:

Schultz, Werner

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 11

670

forscher gesagt ist, das zu beurteilen weiß ich mich nicht zuständig
, auch nicht gegenüber der Verschiedenheit des Urteils
von Schweitzer und Seaver über den älteren Buddhismus.
Man erfährt eüie Menge sonst wenig bekannter Einzelheiten,
z- B. daß Schweitzer die Neger zwar verstellt, aber zu ihnen
doch oft noch durch Dolmetscher spricht, und daß über das
Leben der dortigen Eingeborenen schon Maria Kingsley, eine
Nichte Charles K.'s, viel berichtet hat (was Schweitzer nicht
wußte). Was wir über seine Europareisen bei Seaver lesen,
zeigt die erstaunliche Kunst des Doktors, die Zeit auszunutzen.
Festländische Leser mögen die Regesten von Schweitzers Auf-
fnthalt in Britannien zu ausführlich finden, aber sehr lehrreich
>st wiederum ein Stück, das der englische Arzt Dr. Chester-
nian schrieb: er zeigt ganz schlicht die unermeßlichen praktischen
Schwierigkeiten, die für ein Spital im Urwald bestehen
, von denen aber Schweitzer in seiner Bescheidenheit
kaum je spricht.

Drei Anhänge sind besonders wertvoll: ein Aufsatz
Schweitzers über Zivilisation und Kolonisation; d.h. es ist
da ein Aufsatz aus der Contemporary Review 1928 übersetzt
und es sind einschlägige Stücke des Buchs „Aus meinem Leben
und Denken" eingeschoben. Zweitens Schweitzers Rede zur
Verleihung des Goethe-Preises 1928. Er scheidet hier konstruktive
Geistesphilosophie von der schlichteren Naturphilosophie
; daß Goethe, obwohl Zeitgenosse Hegels, jener nicht
verfiel, ist für Schweitzer wichtig geworden ebenso wie die
Menschenfreundliche Absicht von Goethes mühsamer Harzreise
, einem seelisch Gefährdeten zu helfen, und Goethes Zug
zu praktischer Arbeit: Faust und Wilhelm Meister (der Wundarzt
wird) enden beim Dienst am Nächsten. Vom Wert der
Naturwissenschaft für uns sagt Schweitzer hier: ,,Jedes Denken
wird dadurch gefördert, daß es in einem bestimmten
Augenblick sich nicht mehr mit Erdachtem abgeben darf, sondern
durch die Wirklichkeit hindurch muß". Drittens ein Aufsatz
Schweitzers aus dem Christian C ntury (New York) 1934
über die Religion in der modernen Kultur. Daß die Religion
heute machtlos sei, beweise der Krieg. Schweitzer tut seine
Grundgedanken hier namentlich in Auseinandersetzung mit
Barth dar. Ihn persönlich schätzt er, aber der sachliche Gegensatz
ist tief, weil das Reich Gottes — der Hauptbegriff der Botschaft
Jesu — bei Barth ungefähr ebensowenig bedeute wie
in den altkirchlichen Bekenntnissen — wie fern rücken beide
damit der Denkweise Jesu! Werden so Aufsätze Schweitzers
aus englischen oder amerikanischen Zeitschriften uns bekannt,
so drängt sich der Wunsch auf: möge in nicht allzu ferner Zeit
eine Gesamtausgabe der Werke dieses Mannes möglich macheu
werden.

240 gehört die 1) vor die Klammer 239 unten. 242 Z. 6 I. dem an Titus.
301 Z. 12 v. u. würde ich statt Wiedergeburt (weil dieser Begriff bei uns festgelegt
ist) sagen Seelenwanderung Ein Scherz, den Seaver mitteilt, sei den
Freunden Schweitzers nicht vorenthalten: ursprünglich predigte er nicht (hatte
ja, mit Rücksicht auf besorgte strenggläubige Missionsfreunde versprochen, es
nicht zu tun) Sein neues Spital liegt abervonderMissionsstation zu weit, alsdaß
Patienten dorthin zur Kirche fahren könnten So tut er es jetzt, mit vollem
Einverständnis der Missionare Ein schwarzer Evangelist, der als Kranker ihn
hörte, erzählte dann diesen: „Der Doktor kann so predigen als ob er Theologie
studiert hätte wie ihr I"

Lind schreibt als Schüler und langjähriger Freund
Schweitzers und hat die Gefahr, Bekanntes zu wiederholen,
glücklich vermieden, indem er namentlich über Schweitzers
vorjährige Reise nach den Vereinigten Staaten berichtet. Man
erfährt da auch allerlei nicht bloß im Blick auf Schweitzer
Interessantes, über die im Felsengebirge neu aufgebaute Stadt
Aspen, wesentlich für Feste des Geistes bestimmt, eine so
wohl nur in Amerika mögliche Schöpfung, und über die verstorbene
Kanadierin Russell, die literarisch und als Leiterin
der arbeitenden Eingeborenen in Lambarene Schweitzer wertvolle
Dienste geleistet hat. Gut ist die Kennzeichnung
Schweitzers, daß der Wahrheitsucher Faust und der raen-
scheuliebende heilige Franz zugleich in ihm Gestalt gewonnen
haben.

Horstmeier sagt in meisterhafter Kürze alles Wesentliche
gemeinverständlich; das Heft ist namentlich auch geeignet
, Heranwachsenden Schweitzer nahe zu bringen.

Niederbobritzsch H. M u I e r t

Balthasar, Hans Urs von: Prometheus. Studien zur Geschichte des deutschen
Idealismus. 2. Auflage des ersten Bandes der Apokalypse der deutschen
Seele. Heidelberg: Kerle [1947]. XXV, 735 S. 8°. Hlw. DM 14 50.
Das Buch des katholischen Studentenseelsorgers an der
Universität Basel erscheint als zweite unveränderte Auflage
des Werkes, das betitelt war mit „Apokalypse der deutschen
Seele". Der Verf. bemerkt, die Zeitlage habe eine Änderung
des Titels nahegelegt. Aber diese Änderung ist eigentlich

zu bedauern. Der erste Titel wurde dem Inhalt des Buches und
der Aufgabe, die es sich stellt, besser gerecht. Der neue Titel
legt die Gefahr nahe, den ungeheuren Reichtum der deutschen
Seele in ihrer Entwicklung von Lessing bis Nietsche auf ein
Motiv hin zu deuten und festzulegen, was dann zu einer Ver-
deutung führen würde. Das Prometheus-Motiv ist gewiß ein sehr
wichtiges Motiv in dieser Entwicklungszeit, aber nicht das einzige
. Und zumal wenn der Verf. sich das „passiv objektive",
„geduldige Hinhorchen" auf die geistigen Erfahrungen im
Sinne der phänomenologischen Methode zur Aufgabe macht
(S. 10), wäre der erste Titel dem Ganzen angemessener gewesen
.

Man liest die Einführung in das Werk zunächst mit einigen Bedenken.
Ihre Gedankenführung ist nicht immer eindeutig, wie auch die dann folgende
Analyse öfters eine gewisse Klarheit und Schlichtheit in der Beherrschung des
Stoffs vermissen läßt. Der Verf. will eine Apokalypse, d. h. eine Enthüllung
der deutschen Seele im 19. Jahrhundert geben. Er identifiziert dabei „Apokalypse
der Seele" mit Eschatologie und definiert Eschatologie als „das Wissen
vom Stehen des konkreten Geistes vor seinem eigenen, ihn vollendenden,aber ihm
verhüllten Letzten, das ihm als seine Apokalypse in Selbstverwirklichungsich
enthüllen soll" (11). Er erweitert also den theologischen Begriff der Eschatologie
ganz erheblich, ohne die von Troeltsch und Althaus eingeführte Trennung von
axiologischerund teleologischer Eschatologie fallen zu lassen. Er spricht dann von
zwei Eschatologien: einer menschlichen und einer religiösen und von ihrer Auffüllung
durch die Formel Nietzsches, „Dionysos und der Gekreuzigte", wobei
dionysisch die Letzthaltung genannt wird der ganzen Linie von Hamann bis
Karl Barth (8). Bleibt es schon unbegreiflich, inwiefern es möglich ist, Karl
Barth in diese dionysische Linie einzuordnen, so entläßt die nicht streng genug
durchgeführte Trennung von philosophischer und theologischer Eschatologie
den Leser der Einführung in das Zwielicht einer Unklarheit. Nur mit Mühe
wird die eigentliche Absicht des Verf.s deutlich: er will „die Geschichte der
Apokalypse des deutschen Geistes gleichsam in einem Bilderbuch darstellen",
die Begegnung des deutschen Geistes in seinen einzelnen Vertretern mit den
letzten Dingen aufdecken, unter dem Aspekt des Prometheus-Mythos.
Er will sich In diesem Sinne in die Seele der Repräsentanten dieses Geistes
hineintasten und sie in lebendig-persönlicher Darstellung selbst reden lassen.
Ist ihm das gelungen?

Ubersieht man das Ganze seiner Darstellung, die auf dem
Hintergrund von Mittelalter und Reformation mit der Aufklärung
beginnt und mit Nietzsche endet, so muß man diese
Frage bejahen. Mit einer — besonders für den katholischen
Menschen — erstaunlichen Sachlichkeit und Feinheit der Einfühlung
, die sich immer bemüht, das Ehizigartige und Unver-
tauschbare der einzelnen Gestalt zu Wort kommen zu lassen,
wird der großen Bewegung des deutschen Geistes im vorigen
Jahrhundert nachgegangen. Beherrschend ist zwar der Prometheus
-Aspekt. Aber dieser besonders von dem jungen Goethe
formulierte Mythos wird ohne jede theologische Belastung
ganz aus sich selbst verstanden und nirgends der Versuch
unternommen, von ihm aus den Stoff irgendwie zu vergewaltigen
oder zu konstruieren. Gewiß könnte man die Verbindung
dieses Mythos mit den einzelnen Repräsentanten der ganzen
Bewegung anders sehen. Man könnte darauf hinweisen, daß
bereits im Raum des deutschen Idealismus von dem späten
Fichte, dem späten Schilling und Goethe, zum Teil auch von
Heg 1 selbst, besonders aber von Schopenhauers „Metaphysik
des Todes", die vom Verf. eigenartigerweise nur berührt wird,
der Mythos völlig durchbrochen ist. Der Verf. selbst sieht den
Höhepunkt der Prometheus-Entwicklung in Heg^l. Er sondert
aus ihr dann die „Nachtseite" der Seelenapokalyptik mit einer
„christlichen Mündung" bei Baader, Fr. Schlegol und Novalis
und einer „nichtchristlichen Mündung" bei Tieck, Hoffmanu,
Kleist und Schopenhauer. Diese Nachtseite findet dann ihre
Fortsetzung in dem „Pantragismus" Hebbels, der sehr ausführlich
zu Worte kommt, und in der negativen Weltschau
Richard Wagners, in der als symbolisches Ende der Idealismus
des Prometheus-Mythos von dem Ahasver-Mythos abgelöst
wird. Die Darstellung mündet aus üi einem Vergleich von
Kierkegaard und Nietzsche, der das Verbindende und Unterscheidende
der beiden großen Gestalten des 19. Jahrhunderts
in sehr feinfühlender Abwägung der einzelnen Momente ausgezeichnet
zum Ausdruck bringt und damit gleichzeitig auf
das Thema des zweiten Bandes: die Existenzphilosophie hinweist
.

So wird sehr anschaulich und lebendig in einer durchaus
sachlichen Haltung, die von tiefer Sachkenntnis getragen ist,
das Bilderbuch des deutschen Geistes vor Augen geführt. Gewiß
wird bei den einzelnen Zügen dieser Bilder die Kritik oft
herausgefordert werden. Aber das Ganze ist wohl geeignet, den
Leser einzuführen in die Seele der großen und so reichen
geistigen Entwicklung mit ihrer Tag- und Nachtseite, von der
sich die heutige geistige Situation des deutschen Geistes
scharf abhebt.

Kiel Werner Schultz