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Ausgabe:

1950 Nr. 11

Spalte:

653-664

Autor/Hrsg.:

Schmidt, Martin

Titel/Untertitel:

Karl Barths Geschichte der evangelischen Theologie im 19. Jahrhundert 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 11

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Pestalozzi bald Gesang und Schönheitsgefühl, bald den
menschlichen Körper und das Quadrat, Linie und Bogen, bald
Wort, Form und Zahl, welch letztere bis zu seinem Lebensende
beibehalten werden1. Als Elemente menschlicher Verhältnisse
treten dazu Liebe, Glaube, Vertrauen (Dank, Ge-
norSam)2. Seit der Schrift „Geist und Herz in der Methode"
zeigt sich das klare Bestreben, die intellektuelle und diemanuelle
^■unstbildung (Berufsbildung) der geistigen Schicht der Herzensbildung
unterzuordnen3. Auch auf physisch-technischem
gebiete werden solche Fundamente gesucht, ebenso im Bereiche
der Sprache: die Grundformen jeder Sprache und
^pracherlernung bzw. die Normalform der schon so lange gesuchten
allgemeinen Sprachlehre4.

Die angeführten Elemente sind sowohl objektive Ding-
eigenschaften wie subjektive Ur- oder Grundkräfte, zu denen
später noch das Anschauungsvermögen tritt6, und konstituieren
die allgemeine Basis der Menschennatur. Auf Grund
ihrer Harmonie ist Menschenbildung möglich an den Real-
Regenstünden wie an den menschlichen Verhältnissen mit Hilfe
wer aus der Natur durch Vereinfachung und Abstraktion gewonnenen
Bildungsmittel (Ur-, Kunst-, Erleichterungs-, Be-
lebungsniittel), die der Anregung harren. Mit ihrer Hilfe er-
?ailzt die nachhelfende Unterrichtskunst die natürliche Reifung
ln lückenloser Stufenfolge6. Die Elementarbildung greift also

') K. A. XIII, S. 86, 109, 367, 370; K. A. XVI, S. 232ff., 236f., 239ff.,
244 f. usw.; K A XIHj s ,05j 177j 194, _ ]98> 200, 207 usw.; S XII, S. 303.

*) K. A. XIII, S. 341 ff., 350ff.; K.A. XVIII, S.42u. ö. Nach Em. De-
l"ng, Pestalozzi im Lichte zweier Zeitgenossen, Zürich 1944, S. 47, bestimmt
Niederer „Element" als „Urbestandteil, das Konstitutive jedes individuellen
Erkenntnisgegenstandes".

') K.A. XVI, S. 332ff.; K. A. XVIII, S. 36ff.

') SXII, S. 331 ff., 336, 339f., 381 f.

s) K. A. XIII, S. 250; K. A. XVI, S. 152; SXII, S. 3l5ff., 322f.,
330f., 381 usw., 521 f.

') K.A. XIII, S. 12, 88ff., 91 f., 106ff., 197, 202, 207, 209ff., 245ff.,
368f.; K. A. XVIII, S. 40f., 147, 253; S XII, S. 301, 308. Dazu unzählig oft:
Der „(hohe) Gang der Natur".

nicht nur auf die Elemente der angeschauten Natur zurück,
sondern ist auch naturgemäß, insofern sie dem Gange der
Natur folgt. Der Idee nach geht sie als Kraftbildung dem positiven
Unterricht voran, wenn auch die Praxis des Unterrichts
beides nicht getrennt hat1.

Ziel dieser Elementarbildung ist, wie schon in der Skizze
„Agis" und in der „Abendstunde" betont, die Ruhe und Einfalt
des freien Menschen sowie eine innere Zufriedenheit und
ausgeglichene Gemütsstimmung, Unschuld, Reinheit und Demut
vor Gott, kurz die Vollendung des sittlichen und religiösen
Menschen in Harmonie und innerer Wahrheit2. Damit erweist
sich der unlösbare Zusammenhang von elementarischer Bildung
und Religion3.

In dauerndem Ringen und in immer neuen Ansätzen
haben sich Pestalozzis Ansichten über die Elementarbildung
mehr und mehr geklärt, wobei oft nicht festzustellen ist, in
welchem Falle die unzählige Male wiederkehrenden Grundbegriffe
wie Element, Fundament, Anfangspunkt und ihre
sprachlich abgewandelten Formen, die ich nicht übergehen
durfte, im gewöhnlichen Sinn bzw. in der präzisierten Bedeutung
der „Methode" gebraucht werden. Ich habe es daher in
meinem Buch über Pestalozzi4 ausdrücklich abgelehnt, die
unendliche Mannigfaltigkeit und den Wandel seiner in dauerndem
Fluß befindlichen, unabgeschlossenen und zum Teil nur
flüchtig angedeuteten Ideen, seine wissenschaftlichen, politischen
und religiösen Gedanken auf einen Nenner bringen zu
wollen, auch im Hinblick auf die noch ausstehenden Veröffentlichungen
der Kritischen Ausgabe.

') K.A. XVI, S. 231.

•) K. A. I, S. 6, 21, 242, 247, 269f., 272ff. usw.; K. A. III s 211
K. A. IV, S. 555; K. A. IX, S. 303, 319; K. A. XIII, S. 103 usw ■ S IX S 24l'
267; Ma IV, S. 65 usw. ' '

3) S XII, S. 399, 401 f.

4) Pestalozzi, Werk und Wollen, Berlin (Walter de Gruyter & Co ^ 194«
S. IV, 268, 270. *

Karl Barths Geschichte der evangelischen Theologie im 19. Jahrhundert1

Von Martin Schmidt, Berlin-Zehlendorf

Der Reichtum, der die Theologie des 19. Jahrhunderts aus
allen Epochen der christlichen Denkgeschichte heraushebt,
fordert immer neues Ringen mit Problemen und Gestaltungen.
Er macht verschiedenartige Darstellungen sowohl möglich als
notwendig. Dem vorliegenden Buche kommt durch die theologische
Bedeutung des Verf.s und darüber hinaus ein dreifaches
Gewicht zu. Einerseits läßt es das historische Profil Barths
selbst in erwünschter Schärfe heraustreten. Sodann widerlegt
es die allzu bequeme These von seinem desinteressement an
der Geschichte durch eine Fülle liebevoll ausgeführter Einzelbilder
, die nur in langem Umgang mit der Sache gewonnen
werden. Schließlich gibt der Rahmen, den das Ganze durch
die eigene Position des Verf.s gewinnt, der Geschichte ein
großes Format, eine einmalige Beleuchtung und eine unwieder-
holbare Gegenwärtigkeit. Trotzdem wird sich der Leser an die
Mahnung des Vorworts halten müssen, daß er im Grunde nur
..Vorschläge und Anregungen" zu erwarten habe. Unter diesem
Vorbehalt wird er das gelegentliche Arbeiten mit sekundären
Quellen, die unvollständige Benutzung der Literatur
auf Grund subjektiver Auswahl, die ausschließliche Berücksichtigung
der systematischen Theologie in ihren dem Verf.
interessanten Vertretern, den fragmentarischen Charakter des
Ganzen, schließlich die zahlreichen geistvollen Aphorismen
und bonmots im einzelnen sowie den rhetorischen Stil hinnehmen
müssen.

1.

Die Eigenart dieser Theologiegeschichte liegt zu einem
wesentlichen Teile in dem breiten Unterbau. Die denkerischen
Voraussetzungen, die das 18. Jahrhundert in seiner großangelegten
, wenn auch nur unvollkommen durchgeführten Umgestaltung
des Lebens unter dem Schlagwort der,, Aufklärung",
aber auch in allen dagegen gerichteten Strömungen bereitgestellt
hatte, werden in einer bisher ungekannten Ausführlichkeit
und Einheitlichkeit erhoben. Dahinter steht die erstmals
in großem Stil von Richard Rothe, dann besonders — mit Ab-

') Barth, Karl, Prof.:Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert
. Ihre Vorgeschichte und Geschichte. Zollikon-Zürich: Evang. Vlg.
1947. VIII, 611 S., 24Taf. gr. 8°.

Wandlungen — von Ritsehl, Troeltsch und Stephan1 vertretene
Auffassung, daß der Neuprotestantismus vom Pietismus bis
zur Gegenwart innerlich zusammengehört.

Es kommt Barth dabei zunächst auf den Menschen des
18. Jahrhunderts an, den er durch die Formel des Absolutismus
im philosophisch-lebensanschaulichen Sinne definiert. Es
ist der Mensch, der an die Allmacht des eigenen Vermögens
glaubt, sich in diesem Glauben der durch die naturwissenschaftlichen
Entdeckungen veränderten Welt bemächtigt und
sie politisch, gesellschaftlich, geistig durchgreifend umgestaltet.
Die Aufklärung wird so mit Recht nicht als eine theoretische
Neuorientierung des Denkens und Forschens, sondern als eine
umfassende and tiefgehende Lebensrefonn verstanden, deren
Pathos sich folgerichtig besonders beredt in der Erziehungsfreudigkeit
ausspricht. Der Absolutismus ist darum ebenso
wirksam im souveränen Herrscher wie im radikalen Revolutionär
, in der rationalen Wirtschaftsweise des Kaufmanns wie
in den fortschrittlichen Anbaumethoden des Bauern, im Auto-
nomiestolz des Philosophen wie des Elementarlehrers, im neologischen
Theologieprofessor wie im zeitgerechten Dorfpfarrer.
Wenn man einen Mann nennen sollte, dessen Universalismus
gleichnishaft für die Epoche stehen darf, so ist es der Denker
und Staatsmann — diese Synthese ist bezeichnend! — Leibniz.
Darüber hinaus gewinnt der Absolutismus in der Kunst Gestalt
, wie B. an der Dun besonders nahestehenden Musik nachweist
: Das 18. Jahrhundert entwickelt sie zu einer Beherrschung
, die als handwerkliche Meisterschaft ihre Triumphe be-

') Es ist unverständlich, warum Stephan den Theologen zugezählt wird,
die den Pietismus als „rückläufige, die Reformation fortsetzende Bewegung"
(Barth S. 64) bewertet haben. Stephan sieht ihn vielmehr in seinen beiden
Jugendschriften (Der Pietismus als Träger des Fortschritts in Kirche, Theologie
und allgemeiner Geistesbildung 1908 und „Die heutigen Auffassungen
vom Neuprotestantismus 1911, bes. S. 38ff.) in der gleichen Linie wie die Aufklärung
und das 19. Jahrhundert als zunehmendes „Personlichwerden des
Christentums". Die Untergliederung In zentripetale (Pietismus) und zentrifugale
Kräfte (Aufklärung) ist demgegenüber sekundär: „Sie stehen einander
nicht als alter und neuer Glaube gegenüber, sondern als zwei Formen neuprotestantischen
Glaubens" (Neuprotestantismus S. 44).