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Ausgabe:

1950 Nr. 11

Spalte:

651-654

Autor/Hrsg.:

Otto, E.

Titel/Untertitel:

Der unbekannte Pestalozzi 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 11

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theologische Fragestellung aufgehoben wird. H. verfällt in
den gleichen Fehler, den Glaubensgegensatz von einer philosophischen
Warte aus zu relativieren, wenn er darauf hinweist,
daß in den großen Weltanschauungskämpfen (Idealismus —
Materialismus, Monismus — Dualismus usw.) beide Konfessionen
immer auf derselben Seite stehen (S. 48). Das ist
sicher meistens richtig, steht aber auf einer anderen Ebene
und nimmt dem religiösen und theologischen Gegensatz nichts
von seiner Schwere. Die Glaubensfrage kann nur dann fruchtbar
und mit der Hoffnung auf irgendein Näherkommen gestellt
werden, wenn sie selbst — nicht eine im voraus bezogene
Position — absolut genommen wird. H. hält sich auch hier
glücklicherweise nicht an seine, von Lortz (S. 156) mit Recht
als aprioristisch bezeichneten Konstruktionen, sondern tritt
noch ausgiebig in die sachliche Diskussion ein. Und doch längst
nicht ausgiebig genug, um die vielerörterten Fragen (Erbsünde
, Imputationslehre, sola fides, Meßopfer u. a.) wesentlich
zu fördern. Er trägt die katholischen Einwände mit
großem Verständnis für die Intentionen der reformatorischen

Lehre vor, so daß eine Diskussionsbasis mühelos gegeben ist,
mißversteht aber manches (Luthers Stellung zum Ethischen,
seine Konkupiszenzlehre u. a.) und neigt dazu, Gegensätze rn
Mißverständnisse herabzumindern: Luthers Polemik gegen die
Messe meint durchaus die Sache, nicht nur ihren; Mißbrauch
(ist mit Lortz S. 240 einzuwenden). Auch was er zum Verständnis
der dem Protestanten anstößigen katholischen Lehren
sagt, reicht in der Kürze nicht aus und erweckt Fragen. Uni
nur eine zu nennen: Ist Unfehlbarkeit nicht mehr als „Voll-
und Letztgültigkeit", wie sie „jede höchste Instanz" für ihre
Entscheidung in Anspruch nimmt (S. 66) ? Ein Urteil eines
obersten Gerichtshofs beansprucht nicht, unfehlbar zu sein.
So werden noch viele Fragen hin- und hergehen müssen, ehe,
wenn auch kein übereinstimmendes Urteil, so doch eine völlig
klare Bestimmung der gegenseitigen Blickpunkte und Bilder
von Luther und den Glaubensunterschieden erreicht ist. Wir
werden uns dabei immer der Schrift von H. als eines in seiner
Unbefangenheit und Gerechtigkeitsliebe vorbildlichen Versuches
erinnern.

Der unbekan

Von E. Otto,

Pestalozzis Ringen um eine vertiefte Religiosität ist wohl
eine hinreichend bekannte Tatsache. Allerdings scheint seine
Gläubigkeit mit mancherlei Widersprüchen belastet zu sein;
sie ist daher bereits zu seiner Zeit in verschiedenem Sinne gedeutet
worden. Der Hang zu unbedingter Ehrlichkeit und
demütiger Selbstanklage, die seine Schriften bis hin zum
,, Schwanengesang" durchziehen und sein Versagen, seine Unzulänglichkeit
auf allen Gebieten des Lebens offenbaren sollen,
mit den wirklichen Tatsachen aber vielfach im Widerspruch
stehen, haben ihn oftmals im leidenschaftlichen Überschwang
seiner Gefühle, z. B. in dem bekannten Brief an Nicolovius
vom 1. X. 17931, zu Äußerungen und Formulierungen hinreißen
lassen, die nur aus diesem übersteigerten Willen zur
Selbsterkenntnis und demütiger Selbstverleugnung zu verstehen
sind. So ist Pestalozzis Gläubigkeit zu guter Letzt die
große Unbekannte, wie alles Metaphysische, alles Religiöse
immer das Problem bleibt. Doch darf man wohl sagen, daß
die innige, schlichte Frömmigkeit seiner Jugend, fern von aller
Konventionalität, bis an sein Ende die Grundlage seiner religiösen
Sehnsucht geblieben ist, wovon ganz besonders die
„Reden an sein Haus"2 beredtes Zeugnis ablegen. Immer
wieder stellt Pestalozzi Christus als das Vorbild hin und verweist
uns, z. B. im „Schwanengesang", wiederholt auf die
göttliche Gnade, die zur Andacht und zum Gebet führt3. Ein
Kind, das von früher Jugend an beten, auch denken und
arbeiten gelernt hat, ist schon halb erzogen. Denn nur die
Religion erhebt uns zum ernsten, unablässlichen Kampf im
Dienst des Höhern und Göttlichen. Wohl werden Sittlichkeit
und Gläubigkeit nicht auseinandergerissen, sintemal der
Mensch immer eine Einheit ist, ihrem Wesen nach werden sie
jedoch klar voneinander gesondert4. Demgemäß kennt Pestalozzi
nirgends eine autonome Bildung5. Alle Menschlichkeit
geht aus dem Geist und Leben der innern göttlichen Kräfte
hervor.

Auf dieser verinnerlichten Gläubigkeit, die nicht philosophiert
und nicht Folge gebildeter Weisheit ist, beruht Pestalozzis
hilfsreiches Werk aus unendlicher Liebe für das Kind,
für das arme, verwaiste Kind, für Freiheit und Recht der
unterdrückten Bauern, für Volk und Staat in dem allgemein
herrschenden Zivilisationsverderben der kollektiven Existenz.
Noch bekannter ist Pestalozzis steter Rückgriff auf die Mutter,
die Erzieherin und Lehrerin in der Wohnstube, als Vorbild für
alle Reformen der Erziehung und des Unterrichts.

!) A. Israel, Pestalozzi-Bibliographie I, 6ff., Mon. Germ. Päd. 25, Berlin
1903; im wesentlichen auch H. Schönebaum, Kampf und Klärung (1782 bis
1797), Erfurt 1931, S. 156ff.

2) Fr. Mann, Bibliothek pädagogischer Classiker IV, Langensalza 1894
(zitiert als Ma IV), sowie der X. Bd. der zweiten Pestalozzi-Ausgabe von
L.W. Seyffarth, Liegnitz 1899ff. (zitiert als S Iff.).

3) SXII, 376, 401, 402; 357; 212.

4) Kritische Pestalozzi-Ausgabe von A. Buchenau, E. Spranger und
H. Stettbacher I, S. 250ff., 273ff., 293ff., Berlin u. Leipzig 1927ff. (zitiert als
K. A. Iff.);K. A. XII, S. 8,38,41,155f.;K-A. XIII, S. 341 ff.; S XI, S. 156ff.;
S XII, S. 399ff.

5) Auch nach Th. Litt, Protestantisches Geschichtsbewußtsein, Leipzig
1939, S. 42, vermag Pestalozzi dem Glauben an eine „Selbstläuterung des Geistes
" nicht Raum zu geben. — SXII, S. 370.

nie Pestalozzi

Berlin-Dahlem

Weniger bekannt oder ganz unbekannt sind Pestalozzis
tiefschürfende Gedanken über die Elementarbildung, die
von seinen letzten religiösen Motiven nicht zu trennen ist und
im Mittelpunkt alles seines Sinnens und Wollens steht. Man
wird diesen Zusammenhängen nur auf die Spur kommen, wenn
man die Schriften seit dem Jahre 1799 mit den Vorarbeiten,
den Entwürfen und den Fragmenten, auch die verschiedenen
Fassungen unter Beachtung der Verbesserungen, und zwar in
der Kritischen Ausgabe, peinlich miteinander vergleicht und
verfolgt. Auch hier spreche ich möglichst mit Pestalozzis
eigenen Worten und kann dann die Beifügung störender Anführungsstriche
bei den folgenden Zitaten unterlassen.

Der Wahrheitssucher Pestalozzi stellt immer wieder, wie
schon in der „Abendstunde" und den „Nachforschungen", die
grundsätzliche Frage: Was ist der Mensch ? Was bin ich ? Was
ist das Menschengeschlecht ?x. Er greift in einer durchaus onto-
logisch zu nennenden Betrachtungsweise auf die (immanente
und transzendente) Wirklichkeit zurück, auf die möglichst
nahe Anschauung der umgebenden Natur, die das einzige,
eigentlich wahre und absolute Fundament aller Erkenntnis ist.
Steht doch auch die Sprache als Fundament der Kultur mit
der wirklichen Wahrheit aller Dinge in einem unbegrenzten
Zusammenhang2. Dabei sondert er die gemeine (schlichte,
einfache, tierische) Ansicht des Zufällig-Empirischen äußerer
Erscheinungen von der wissenschaftlichen (edleren, bestimmten
, gereiften, allgemeinen, reinen, vollendeten) Anschauungsweise
des Ursprünglichen aller Dinge wie der menschlichen
Verhältnisse. Die erstere Anschauungsweise ist regellos (verwirrt
und beschränkt); sie zeigt uns den Wirrwarr, den wandelbaren
Wechselzustand äußerer Beschaffenheiten; die letztere
offenbart uns das unwandelbare (unveränderliche, innere)
Wesen der Erscheinungen3. Diese ewig gleichen und absoluten,
reinen, göttlichen und allein wahren Fundamente, die zu Ergebnissen
von unbedingter Notwendigkeit führen und die man
somit als Kategorien bezeichnen könnte, nennt Pestalozzi Elemente
, Anfangspunkte, höhere (obere) Punkte, Keime, auch
Begriffe (Intuitionsbegriffe)4. So erklärt sich auch die dauernde
Rede: Von dunklen Anschauungen zu deutlichen (klaren) Begriffen
! Damit enthüllt sich erst der volle Sinn eines ABC der
Anschauung.

Die Elemente oder Fundamentalpunkte werden nicht erfunden
und nicht in das Kind hineingelegt, sondern aufgefunden
als die von Gott in unsere Natur gelegten und in der
Einrichtung unseres Geistes begründeten Gesetzlichkeiten5.

Als solche Elemente der Realgegenstände bezeichnet

») K-A. I, S.265; K. A. XII, S. 6; SXII, S. 293.

2) Die Anschauung der umgebenden Natur seit dem „Tagebuch" von
1774, K. A. I, S. 115, und dem „Aufenthalt in Stanz", K-A. XIII, S. 6,
dauernd in allen größeren methodischen Schriften, besonders auch in der „Er-
klerung über die Grundseze etc.", K. A. XVI, S. 231 ff. und „Über den Sinn
des Gehörs", K. A. XVI, S. 331 ff. — K. A. XIII, S. 33ff.

3) K.A. XIII, S. 46, 49, 86ff., 92, 105f., 206f., 408 u. ö.; K. A. XVI,
S. 232, 258, 328 u. ö.

4) K. A. XIII, S. 13, 88, 103f., 201, 203, 205, 207, 209, 219f., 231, 235ff.,
241 usw. in allen methodischen Schriften, z. B. K. A. XVIII, S.31 (!); S XII,
S. 291, 295ff.

5) K. A. XVIII, S. 40ff.