Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1950 Nr. 11

Spalte:

645-652

Autor/Hrsg.:

Bornkamm, Heinrich

Titel/Untertitel:

Beiträge zum katholischen Lutherbild 1950

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2, Seite 3, Seite 4

Download Scan:

PDF

645

Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 11

646

Gefährdeter nur mit und aus Religion geschehen könne. Mit
andern Worten, mag die Einschränkung von kirchlicher Be-
ornnindung — oder was analog dazu in anderen, außerchrist-
icüen Religionen parallel zu nennen wäre, — noch so positiv
eingeschätzt werden, so bleibt doch eben die Frage, ob nicht
p"1™5,' eine wirkliche Kultur schließlich nur von tiefer, echter
Frömmigkeit her erwachsen könne. Letztlich, so meine ich,
geht es heute um diese eine Frage. Und ich bin allerdings der
Überzeugung, daß gerade auch das „vierte Element", die von
nir im Sinne von Ernst Troeltsch als durchaus eigentümlich
und eigenständig anerkannte sog. „Moderne" tatsächlich erst
uann zum Segen der Menschheit gedeihen kann, wenn dieses
dement organisch aus der Stammwurzel der Ehrfurcht vor
ueru Heiligen herauswächst.

_ Erlauben Sic mir zum Schluß, in einer sehr persönlichen
Weise auszusprechen, was mir vorschwebt. Wir haben, als das
-larburger Schloß im Jahre 1946 der Universität zugewiesen
wurde, auch den Raum des Marburger Religionsgespräches
von 1529 anvertraut bekommen. Auf der Suche nach einer geeigneten
Formel für jenen folgenschweren Vorgang schien mir
~e Interpretation durch den bekannten Historiker Iiankc besonders
hilfreich zu sein. Er legt in seiner Darstellung den
■Nachdruck auf den charakterlichen Hintergrund bei Luther
und schließt mit folgenden Worten: „Klug war das nicht. Aber
es war groß." Ranke ist der Letzte, der etwas gegen „Klugheit
" sagen wollte. Ohne Klugheit ist interkonfessionelle und
niteniationale Arbeit undenkbar. Aber die Klugheit allein
schafft es nicht. Es gehört dazu eine Größe des Charakters und
des Bekennens, wie sie Ranke selbst an Luther wahrnimmt.
" ir huldigen den Helden, den Märtyrern an den großen geschichtlichen
Wendepunkten. Rückschauend hilft diese Betrachtungsweise
jedem, einerlei wie er selbst religiös und konfessionell
stellt, menschliche Größe wahrzunehmen und anzuerkennen
.

Aber nun ist eben heute doch allen Ernstes zu fragen, ob
diese ganze Betrachtungsweise noch ausreicht, ob sie für uns
das letzte Wort bleiben kann. Hier scheint mir gerade unserem
Geschlecht vor dem Hintergrund der furchtbaren Ereignisse
während der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts eine
neue, vielleicht sehr schwere, aber jedenfalls unerläßliche Aufgabe
gestellt zu sein. Wir fragen uns selbst und müssen uns
wohl auch gegenseitig fragen: ist es genug, wenn der Mensch
ni dem angedeuteten Sinn Größe, nämlich die Konsequenz der
■Haltung und der Wahrheitsfrage bewährt ? Oder muß da nicht
noch etwas hinzukommen ?

Nun meine ich allerdings, daß da noch etwas fehlt, näm-
JWl dasjenige, worauf gerade das christliche Bekenntnis hln-
z'elt, der Dienst am Nächsten. Und hier gerade bietet sich
vielleicht die Möglichkeit zur größten Synthese, zu einer Synthese
, in der das Beste von Rußland mit dem Besten von Amerika
einheitlich zusammenschmelzen könnte. Ich nenne als
Stichwort auf der einen Seite Tolstoi und Dostojewski, auf
der anderen das sog. social gospel und den Namen Waller
llauschenbusch. Mir ist bekannt, daß diese theologische Gedankenwelt
in Europa, besonders auch in Deutschland für
überholt, ja für oberflächlich gehalten wird. Man kümmert
sich kaum mehr darum. Meine Ansicht steht dem vollkommen
entgegen. M. E. führt eine gründliche Beschäftigung mit dem
viel gelästerten christlichen „Aktivismus" Amerikas zu einem
ganz anderen Ergebnis, wofür etwa Iiauschenbusch's wenig
bekanntes Werk A Thcology for the Social Gospel als Kronzeuge
gelten kann. Gleichwie der Apostel Paulus, sooft er den
neuen Menschen aus Gott schildert, nachdrücklich die Totalität
dieses Menschen „mit Leib und Seele und Geist" betont,
so ist es hier die Fleischwerdung oder Leibwerdung des Gottwillens
in der konkreten Wirklichkeit bis hinein in die Physis,
und das heißt heute vor allem auch in die Sozial Verhältnisse.
Das ganze Thema der Konkretisierung, zu deutsch der Leib-
lichkeit von Gottes Absicht mit dieser Welt, wird bei uns in
Europa, leider auch unter den Christen, und ganz besonders
von uns Protestanten nicht ernst genug genommen.

Um kurz und überscharf zu formulieren: individueller
Charakter in allen Ehren, aber das ist nicht genug, es kommt
auf die objektiven Ziele Gottes mit seiner Schöpfung, auf die
Herausarbeitung der leibhaften Ziele Gottes in der von ihm
gewirkten Welt an. So gesehen gibt es überhaupt keinen christlichen
Charakter an sich, sondern der Charakter des christlichen
Menschen wird und vollzieht sich im Dienste an Gottes
Werk. Das ist"es, was wir Kontinentalen, was wir Deutsche vom
christlichen Amerikaner lernen müßten. Und irgendwie ist das
zunächst genau die gleiche Vision, die uns von Tolstoi und
Dostojewskij erschlossen wird. Ich sehe darin die riesige Aufgabe
und zugleich eine ganz große Verheißung für das christliche
Europa der Zukunft. Gewiß, das mag phantastisch anmuten
, aber vielleicht ist es lebensnäher als viele sog. „Praktiker
" sich einbilden. Jedenfalls stehen wir bezüglich der konkreten
Gestaltung des individuellen und des Gemeinschaftslebens
vor der die ganze Menschheit umfassenden Frage, aus
welcher letzten Kraft heraus die zur Einheit zusammenwachsende
Menschheit diese Aufgabe anfassen will.

Damit haben wir, wenn nicht alles täuscht, die entscheidende
religiöse Frage der Gegenwart vor Augen, und mir
scheint, daß unser Kongreß über die bloße neutrale Information
und Forschung hinaus daran mitwirken sollte, eine lösende
Antwort — und das kann ja nur die richtige Antwort, die
sachlich begründete Antwort sein — auf die Frage zu finden1.

') Vorstehender Aufsatz gibt in etwas veränderter Form das Kurzreferat
wieder, welches auf dem VII. Internationalen Kongreß für Religionsgeschichte
zu Amsterdam am 5. IX. 1950 in der Sektion „Phänomenologie" gehalten
wurde.

Beiträge zum katholischen Lutherbild1

Von Heinrich Bornkamm, Heidelberg

Joseph Lortz, einst Kirchenhistoriker an der Universität
Münster, seit kurzem Professor für abendländische Religionsgeschichte
in der Philosophischen Fakultät der Universität
Mainz, hat in den letzten Jahren in einer großen Anzahl von
Städten Vorträge gehalten, in denen er das Anliegen seines zuerst
1939/40 erschienenen Buches „Die Reformation in
Deutschland" (2 Bde., Herder, Freiburg) in Form einer auf
breitere Kreise berechneten Darstellung aufnahm. Diese Vorträge
legt er in dem neuen Buch im Wortlaut, der bis in die
Einzelheiten den Vortragsstil festhält, vor. Es enthält bei
dieser Zielsetzung also im wesentlichen nicht die so wünschenswerte
Weiterführung der wissenschaftlichen Diskussion über
Luther und die Reformation, in welche die evangelische Theologie
mit zahlreichen Stimmen aiff L.s erste Darstellung hin
dankbar und gesprächsbereit eingetreten war, sondern weithin
eine populäre Wiederholung der Hauptgedanken seines
großen Werkes. Geist und Gesinnung sind dieselben geblieben.
LTud man soll auch nicht nach etwaigen Temperaturunterschieden
, nach Verschärfungen im Urteil an dieser oder jener
Stelle suchen. Was L. über den Verfall der mittelalterlichen

') Lortz, Joseph: Die Reformation als religiöses Anliegen heute.

Vier Vorträge im Dienste der Una Sancta. Trier: Paulinus-Verlag 1948. 285 S.
8°. Hlw. DM9.60

Hessen, Johannes: Luther in katholischer Sieht. Grundlegung
eines ökumenischen Qesprächs. 2. Aufl. Bonn: Röhrscheidt 1949. 71 S.
8°. Kart. DM2.80.

Kirche und die historische Notwendigkeit einer Reformation,
über die menschliche Größe und christliche Lauterkeit Luthers
sagt, ist in allem Wesentlichen noch immer das Gleiche. Der
Wunsch, seine eigene Anschauung auszusprechen, ohne die Gerechtigkeit
und Liebe zu verletzen, und der Verständigung,
nicht neuer Trennung zu dienen, tritt noch in gleicher Weise
überzeugend zutage. Und wenn er auf den Einwand aus der
Zuhörerschaft: „Sie denken sich eme Vereinigung ja doch nur
als Rückkehr der Evangelischen zur Römisch-katholischen
Kirche!" offen antwortet: „Aber gewiß denke ich so. Wie
könnte ich anders, da ich ohne Abstriche katholisch sein will ?"
(S. iof.), so entspricht auch dies der Haltung, die an seineni
großen Buch niefit verborgen blieb.

Infolgedessen liegt das Gewicht des neuen Buches so gut
wie gar nicht im Gegenständlichen, sondern in der applicatio
auf die heutige interkonfessionelle Situation. Für alle historischen
Fragen tut mau gut, sich an seüie größere Darstellung
zu halten. Das gilt am stärksten für den ersten Vortrag über
die Ursachen der Reformation, der in seiner Kürze auch nicht
entfernt einen Eindruck von der Schilderung der spätmittelalterlichen
Zustände gibt, die einen der besonderen Werte des
ersten Werkes ausgemacht hatte. Zwei Linien Schemen mir in
der neuen Betrachtung über die ältere hinauszuführen: em
Licht und Schatten sorgfältiger, aber im wesentlichen nicht
anders verteilendes Urteil über Erasmus (S. 74ff.) und die damals
, so weit ich sehe, fehlende, mindestens bei weitem nicht
so scharf betonte Feststellung: „All das, was die Reformation