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Ausgabe:

1950 Nr. 10

Spalte:

600-601

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Radermacher, Ludwig

Titel/Untertitel:

Weinen und Lachen 1950

Rezensent:

Herter, Hans

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509

Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 10

600

Ordnung des Menschen in die qjvme des Kosmos entspricht.
Dualismus und dualistische Askese sind dem klassischen
Griechentum fremd. Dementsprechend ist die Erziehung
(xaiSeia) die Pflege des Leibes und die Bildung des Geistes,
wie durch eine Skizze des Erziehungs- und Schulwesens anschaulich
gemacht wird. Sehr wesentlich ist endlich die Hervorhebung
des ,,agonistischen Zuges", der sich ebenso in den
Festspielen wie in der Kunst der Streitrede (in der Komödie,
in der Sophistik, bei Thukydides) geltend macht, wie auch im
praktischen Leben (z. B. in der Eigenart der Kriegsführung,
die durchweg den Sieg, aber nicht die Verfolgung des Feindes
erstrebt), wie endlich in der Kunstkritik und der Synkrisis in
Rhetorik und Geschichtsschreibung.

Ein zusammenfassender Rückblick wird zum Schluß dadurch
ergänzt, daß gezeigt wird, wie die hellenistische Idee des
Menschentums den Römern vermittelt wird, schon durch die
griechische Komödie (Menander), dann vor allem durch die
Stoiker Panaitios und Poseidonios, und wie nun, besonders
durch Ciceros Wirkung der römische Begriff der „humanitas"
ausgebildet wird, und wie sich endlich dieser Begriff weiter entwickelt
und von der Renaissance und vom „zweiten Humanismus
" Winckelmanns aufgenommen wird.

Was soll also nun als das Wesentliche im Bilde des hellenischen
Menschen gelten ? Ich glaube es im Sinne des Verf ,s in
folgenden Sätzen zusammenfassen zu dürfen: 1. Der hellenische
Mensch versteht sich als eingegliedert in die große kosmische
Ordnung, deren yion die Kraft und die Norm seines
Lebens ist; er versteht sich gleichwohl als freies Individuum,
so daß seine Lebensproblematik aus seinem Verhältnis zur
kosmischen Ordnung erwächst. 2. Er versteht sich als Ge-
meinschaftswesen; jedoch so, daß die Gemeinschaft als eine
solche von freien Personen gedacht ist, die sich demgemäß
ebenso im agonalen Eifer wie in der gemeinsamen Diskussion
auswirkt. Es ergibt sich daraus einerseits die Entstehung der
demokratischen Polis und des Rechts; andrerseits die ständige
Spannung zwischen dem Individuum und der politischen Ordnung
und die Krisis, die schließlich zum Zerfall der Polis führt.
3. Der hellenische Mensch versichert sich seines Verhältnisses
zu Natur und Schicksal wie zur Gemeinschaft durch sein Denken
, dessen Eigenart durch seine Leitung durch das Auge bestimmt
ist. Es ist das Denken, das überall nach der Klarheit
und Bestimmtheit der Ordnung, nach der Gestalt und Struktur
fragt, und das ebenso in der Ethik wie in der Politik, in
der Wissenschaft und in der Kunst bestimmend wirksam ist,
ja aus dem überhaupt erst die Thematisierung und systematische
Erhellung dieser Lebensgebiete erwächst. Wie das Handeln
durch das Denken geleitet ist, so ist das Gute zugleich
das Schöne. Dagegen tritt die Problematik des Willens nicht
in den Blick. 4. Der hellenische Mensch ist grundsätzlich ein
Mensch des Diesseits, und wie ihm die Entgegensetzung von
Diesseits und Jenseits fern liegt, so auch eine dualistische
Anthropologie. Seine Gottheit ist keine transzendente, sondern
sie ist in den kosmischen Kräften wirksam. Nicht in den Geboten
einer jenseitigen Gottheit, sondern in der Ordnung der
<piois ist die Ethik begründet. Motive einer Religiosität, die
ein Verhältnis zum Transzendenten erstreben, werden aufgenommen
und dem Bilde der kosmischen Einheit eingeordnet.
Innerhalb dieser Einheit besteht freilich die Spannung zwischen
dem Geist und dem Stoff, wie im Menschen zwischen
dem Geist und den Trieben.

Es versteht sich wohl von selbst, daß angesichts der Fülle
dieses Buches hier und dort Fragen oder kritische Bedenken
laut werden. Zunächst aber erscheint es mir als angemessen,
für die reiche Belehrung zu danken, die der Leser aus dem
Buche schöpft, speziell auch darauf hinzuweisen, daß eine
Reihe für den Neutestamentier wichtige Begriffe lehrreich erörtert
sind (z.B. äya&ös, ävSoeia, äotrfj, ßov),eodcu, Sitrj, loro(/irlt

Xdyoi, voftos, jid&os, rö ngtnov, tpvots). Sodann dürfte es hellenischem
Geist, über den nicht nur, sondern aus dem das Buch
auch geschrieben ist, entsprechen, einige Fragen zu stellen, die
wesentliche Gedanken des Verf.s betreffen. Warum wird z. B.
dem für das griechische Denken so bedeutsamen Begriff der
d(j/r'j nicht die gleiche Aufmerksamkeit geschenkt wie dem Begriff
der y>i5cr<e? Ist der „Werdeprozeß", der sich im Bereich
der <fvan abspielt, hinreichend — und zwar im griechischen
Sinne — interpretiert, wenn er als der Prozeß des organischen
Wachstums bezeichnet wird ? Ist es nicht das Eigentümliche,
daß gerade der Prozeß des Wachstums nach Analogie des Herstellens
in Handwerk und Kunst verstanden wird ? — was
seinen symbolhaften Ausdruck darin findet, daß der Gesamt-
bereich der <pvoit, die Welt, xdofios genannt wird. Ist die Vorstellung
von einem „sinnvollen Zusammenhang" (S. 44), ist
die Frage nach der Struktur eines Phänomens aus der bloßen

Anschauung der Natur gewonnen oder nicht vielmehr auf sie
übertragen, indem nämlich schon die Anschauung von einem
Verständnis von Sein geleitet ist, das am Werk der tex*fi
orientiert ist ? Und sollte es zufällig sein, daß der Verf. den
Begriff der xt%vr nicht analysiert ? Ist nicht von hier aus
auch die Bedeutung der Begriffe vir] und elSos zu verstehen,
die m. E. auch eine genauere Analyse verdienten ?

Ohne Frage ist es richtig, daß die Griechen „Augenmenschen
" waren, und daß das Auge als der vornehmste Sinn
galt. Aber sollte nicht die griechische Weise des Sehens noch
radikaler analysiert werden können ? Das Entscheidende ist ja
nicht der physiologische, sondern der geistige Vorgang des
Sehens. Dieser könnte z. B. weiter geklärt werden durch Kontrastierung
mit dem — ebenfalls als geistigen Akt verstandenen
— Hören, und solche Klärung würde an Anschaulichkeit gewinnen
durch den Hinweis auf eine Geisteshaltung wie die des
Alten und Neuen Testaments, in der das Hören den Primat
vor dem Sehen hat. Solche Beobachtungen stellen ja nicit zufällige
Einzelheiten fest, sondern öffnen den Blick in größere
Zusammenhänge. Der Verf. betont mehrfach, daß für das
griechische Denken die Problematik des menschlichen Willens
nicht zum Thema der Besinnung geworden ist. Warum nicht ?
Auch hier würde ein Blick auf die alt- und neutestamentliche
Literatur der Darstellung noch mehr Relief geben und den
inneren Zusammenhang, der zwischen den einzelnen Phänomenen
besteht, tiefer erfassen können. In sehr instruktiver
Weise schärft der Verf. den Blick für das spezifisch Hellenische
durch Abhebung gegen den Hellenismus und das Römertum;
und man wundert sich eigentlich, daß der Verf., der einst in
seiner Monographie über den „Zorn Gottes" sein Interesse für
die gegensätzliche Eigenart griechischen und biblischen Denkens
bekundet hatte, jetzt diesen Vergleich nicht mehr fruchtbar
macht als durch gelegentliche Hinweise, die Stellung zum
Transzendenzgedanken oder zum Motiv der Caritas betreffend.
Würde der Vergleich nicht für das Verständnis der Geschichte
hier und dort fruchtbar sein ? Würde er nicht das ontologische
Denken der Griechen, das Verständnis des Verhältnisses von
Sein und Werden, verdeutlichen können ?

Der Verf. ist bestrebt, das echte Bild des hellenischen
Menschen im Gegensatz zu seiner Verzeichnung in einem
romantisierenden Klassizismus zu zeigen. Ich habe den Eindruck
, daß er das Bild immer noch zu sehr idealisiert. Zwar
verschweigt er ja keineswegs den Prozeß der Selbstzerstörung,
der aus jener Spannung zwischen Staatsdeuken und individueller
Selbstbestimmung hervorgegangen ist (vgl. z. B.
S. 452). Aber mir scheint doch, daß die dem Griechentum von
je eigene innere Problematik nicht klar genug zur Sprache
kommt. Wie der Verf. die Motive der platonischen Kritik au
Perikles nur flüchtig berührt, so wirken bei ihm — wenigstens
nach meinem Eindruck — die Einsichten Jacob Burckhardts
nicht in voller Kraft.

Marburg/Lahn Rudolf Bultmann

Raderniacher, Ludwig: Weinen und Lachen. Studien über antike»
Lebensgefühl. Wien: Rohrer 1947. 220 S. 8°. Lw. DM9.50.

Raderniacher geht in seinem neuen liebenswürdig anregend
geschriebenen Buche von dem bekannten Phänomen
des Risus Paschalis aus, das er aus eigenem Erlebnis in einer
kleinen Kirche Roms illustriert, und zeigt aus der ihm wie
immer zu Gebote stehenden Fülle des Stoffes auch nachantiker
Zeit Weinen und Lachen nicht wie üblich in ihrer
Gegensätzlichkeit, sondern in ihrer Verschwisterung. Zunächst
weist er bei Dichtern seit Homer komische oder wenigstens
heitere Züge in ernsten und tragischen Handlungen auf, dann
kommt er auf Scherz und Spott in Brauchtum und Kult zu
sprechen, geht weiterhin auf die volkstümliche Art heiterer
Belehrung ein und verfolgt nach einem Kapitel über die Haltung
des Sokratcs und der Sokratiker zu oxovöi) und Ttaifitä
endlich das onovSoyiloiov der Kyniker und ihrer Nachfahren,
das von Horaz auf eine höhere Stufe gehoben wird. Das führt
zur Darbietung der bekannten Satire II 6 in ihrem ganzen
Zusammenhange, und daran schließen sich weitere Original-
proben heiter-ernster Literatur in Urtext und Ubersetzung
samt förderlichen erklärenden Einzelbemerkungen. Diese
Stücke sind sehr verschiedener Art, und Semonides' Wei-
beriambos hat nach dem Sinne des Autors selber sogar überhaupt
nichts Komisches an sich.

Reiz und Wert des Buches liegt in der Vorführung vielfacher
konkreter Fälle, aus denen die Verquickung von Weinen
und Lachen unmittelbar aufscheint; das Phänomen in der
Theorie zu systematisieren oder gar mit fachpsychologischeu
Mitteln auf einen Generalnenner zu bringen (H. Pleßner,