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Ausgabe:

1950 Nr. 1

Spalte:

41-43

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Flückiger, Felix

Titel/Untertitel:

Philosophie und Theologie bei Schleiermacher 1950

Rezensent:

Seifert, Paul

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 1

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Als Beweis mag B.s Ergebnis dienen, daß bei weitem mehr
Wörter aus dem religiösen Wortschatz der Bencdiktinerregel
als solche aus anderen hervorragenden Lebens- und Kulturbereichen
zusammenstimmen. „Diese Tatsache zeigt noch einmal
deutlich, in welch starkem Maße diese innere Sprach-
angleichung auf dem Wege und mit den Boten des Christentums
vor sich gegangen ist." Von der Insel zum Festland aber
eröffnet sich wiederum eine Verbindungsmöglichkeit auf christlicher
Basis, der Missionsweg, auf dem in jeder Weise Neues
in die geistige Welt des frühen Mittelalters einströmte. Schließlich
noch ein eigener Hinweis hierzu, und zwar betrifft er die
Herübeniahme des Wortschatzes von England auf das Festland
und im besonderen auf die Insel Reichenau. Uadilleoz
schickte während der Zeit seines Schulbesuches in Tours dem
Abt Waldo von Reichenau zwischen 796 und 806 viele Bücher
angelsächsischen, speziell Aldhelmschen Geistes (vgl. Bae-
secke. Das lateinisch-althochdeutsche Reimgebet Carmen ad
Deum und das Rätsel vom Vogel federlos, Berlin 1948, S. 771).
Könnte nicht auf dem gleichen Wege wie die Aldhelmschen
Rätsel der „Sancte Sator", der „Vogel federlos" u.a. auch
manches Anregende für den Wortschatz der Benediktinerregel
über Tours als Zwischenstation mit Alkuin als Mittelsperson
nach Reichenau gekommen sein ?

Die Begriffsgemeinschaft der „Germania" beschränkt
sich aber nicht nur auf die Zeit der letzten Jahrhunderte im
ersten Jahrtausend n.Chr.; B. zeigt, wie auch fernerhin die
Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel für
den Sprachausgleich wirksam geworden sind. Von ihnen (ich
beschränke mich auf den religiösen Wortschatz) sind bei uns
noch heute die Lehnbildungen „Himmelreich, sündigen, Barmherzigkeit
, stetig, weltlich, Sänger, Beichte, Gnade" und
„Schöpfer" im Gebrauch; davon in der gesamten Germania
,.Himmelreich, Sänger, stetig, sündigen, weltlich" und in der
Germania außer England „Barmherzigkeit, Schöpfer" und
„Gnade". Der Anteil der Benediktinerregel, dieser frühmittelalterlichen
Schöpfung der Reichenau, an der abendländischen
Begriffsgemeinschaft kann demnach gar nicht hoch genug eingeschätzt
werden!

Indem B. den Ideenkreis der „Germania Romana" aufgreift
und die Lehnbildungen der althochdeutschen Benedik-
tinerregel in ihn hineinstellt, hat er einen wesentlichen Schritt
vorwärts getan. Er ist nicht bei philologischen Einzeluntersuchungen
und ihren Ergebnissen stehengeblieben, sondern
hat sie den gewaltigen, weiträumigen kulturhistorischen Strömungen
eingeordnet. Darüber hinaus hat seine Arbeit, so seltsam
der Gedanke anmutet, einen Beitrag geliefert zu einem
„abendländischen Wörterbuch", das seiner Art nach ein
„Lehnbildungswörterbuch" und seiner Erfolgsmöglichkeit
nach eine schöne und große Aufgabe für die Zukunft sein wird.
Ein sicherer Grund dazu ist gelegt.

Halle Brigitta Schreyer

KIRCHENGESCHICHTE: NEUZEIT

Flueckiger, Felix, Dr. theoi.: Philosophie und Theologie bei Schleiermacher
. Zürich: Zollikon 1947. 190 S. 8°.

Flueckigers Untersuchung möchte das in letzter Zeit fast
verstummte Gespräch über Schleiermacher wieder aufnehmen.
Schon um dieser Absicht willen verdient es das Buch, begrüßt
zu werden, zumal es zum Leitgedanken die Frage nach dem
Verhältnis von Philosophie und Theologie nimmt. Denn damit
steht man im Brennpunkt des Schleiermacherschen Werkes
— und seiner Problematik.

Die Einleitung referiert über bereits vorliegende Stellungnahmen zum
Thema, die Im Grunde zu drei verschiedenen Ergebnissen geführt haben:
Schleiermachers Theologie ist letztlich nur Ausführung seiner philosophischen
Weltansicht — Schleiermacher gibt die christliche Lehre soweit preis, als sie
mit seiner Philosophie nicht In Einklang zu bringen ist — die Philosophie hat
in seinem Werk wesentlich nur formale Bedeutung. Flueckiger kündigt an, daß
seine Untersuchung eine sehr bedeutsame Beeinflussung der Theologie durch
die Philosophie bei Schleiermacher erweisen werde. — Das Erste Kapitel
behandelt „Religion und Christentum in Schleiermachers Philosophie". Es
gibt dabei eine gute und klare Analyse des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls
, dessen „ontischer" (nicht psychologischer) Charakter aufgewiesen
wird. Einen Barthschen terminus aufnehmend entwickelt Flueckiger dann
Schleiermachers „Prinzip der Mitte": Dem „Wesen der Religion" (das die
Ethik bestimmt) wird die Darstellung der „positiven Religion" (durch die
Religionsphilosophie) gegenübergestellt. Die wahre Erkenntnis „der Religion"
liege dann in der — nicht erreichbaren — Mitte zwischen beiden Betrachtungsweisen
. — Die folgende eingehende Besprechung der „Reden" fragt nun nur
nach dem „Wesen der Religion". Flueckiger referiert daher ganz überwiegend
nach der Zweiten Rede, ohne der für sein Problem so wichtigen Frage nach

dem Verhältnis zwischen Zweiter und Fünfter Rede gründlicher nachzugehen.
Zustimmung verdienen die drei Grunderkenntnisse, die (in engem Anschluß
an die beiden Schleiermacher-Studien Barths) den Reden entnommen werden:
Grundlegend für Schleiermacher ist die Idee der Totalität; d. h. die Welt ist
ein unendliches, harmonisches Ganzes — das Universum ist unendliches
Leben — das Prinzip der Polarität. — Im Zweiten Kapitel wird „Die
Philosophische Theologie" nach ihrem Inhalt und ihrer Bedeutung dargestellt.
Sie behandelt das „Wesen des Christentums", indem es von den Prinzipien
der Ethik aus kritisch gesichtet wird. Die genauere Untersuchung dieser Philosophischen
Theologie führt Flueckiger zu dem Ergebnis, daß Schleiermachers
Gedanken über Frömmigkeit und Erlösung letztlich gar nicht von religiösen,
sondern von philosophischen Voraussetzungen her bestimmt sind. Das christliche
Dogma müsse sich daher eine energische Umdeutung gefallen lassen,
bis es sich mit der spekulativen Theologie in Einklang bringen läßt. — Im
Dritten Kapitel über „Die Grundlagen der Dogmatik" wird festgestellt, daß
nicht die Lehre vom schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühl diese Grundlage
sei. Vielmehr ist Schleiermachers Darstellung der Glaubenslehre nach seinen
eigenen Worten „ganz einfach und ehrlich nur empirisch". Nach Flueckiger
ersetzt er dabei freilich mit seiner Berufung auf das christliche Gesamtbewußtsein
das reformatorische Schriftprinzip durch ein „evolutionistisches Traditionsprinzip
". Denn die Eigenart der Theologie Schleiermachers bestehe in
der Gleichsetzung von christlich-frommem Selbstbewußtsein und Offenbarung.
Dabei wird aber mit Recht darauf hingewiesen, daß „Selbstbewußtsein" bei
Schleiermacher kein psychologischer Begriff ist. — Das abschließende Vierte
Kapitel „Christus und die Kirche" behandelt die Stellung der Christologie
in der Glaubenslehre. Gerade hier wird Flueckiger deutlich, daß Schleiermacher
zwar biblische und theologische Begriffe benutzt, sie aber im Sinne
seines philosophischen Systems umdeutet. Das erweist sich besonders in der
engen Verbindung von Christologie und Geist-Lehre. Auch hier ist erste Voraussetzung
Schleiermachers philosophische Theorie vom Selbstbewußtsein.
Gerade in der Christologie, in der doch nach Barth die „große Störung" vorliegt
, die von der Philosophie zur Sache rufen müßte, sieht Flueckiger bestätigt
, daß Schleiermachers Dogmatik „in fortwährender Bezugnahme auf
das philosophische Prinzip des unmittelbaren Selbstbewußtseins geschrieben
ist". — Als Ergebnis der Untersuchung wird festgestellt: 1. „Die Theologie
hat gegenüber der Philosophie eine relative Selbständigkeit, welche begründet
ist in der individuellen Besonderheit der christlichen Offenbarung bzw. des mit
der Offenbarung identischen christlich frommen Selbstbewußtseins". 2. Problematisch
ist die Ineinssetzung von göttlichem Geist und christlichem Selbstbewußtsein
. Denn so kann zwischen göttlichem und menschlichem Geist nicht
streng unterschieden werden. Die letzte Einheit allen Geistes bedingt, daß
die philosophierende Vernunft letztlich Funktion desselben Geistes ist wie die
Frömmigkeit. Dieser Oeistbegriff aber steht wie im Mittelpunkt des dogmatischen
, so auch des philosophischen Werkes bei Schleiermacher. 3. Die ganze
Dogmatik erhält von dieser philosophischen Grundlage aus „eine Umprägung,
welche nicht nur ihre Form, sondern auch ihren Inhalt in seinem Innersten,
im Wesen des Glaubens selbst, verändert". — Eine abschließende Uberschau
über die Schleiermacherliteratur ergibt, daß Flueckigers Untersuchung der
älteren Forschung, besonders F. C. Baur, nähersteht als vielen neueren Arbeiten
. Uneingeschränkte Zustimmung finden die Schleiermacher-Studien
Barths, denen Flueckiger grundlegende Einsichten in das „Prinzip der Mitte",
den dogmatischen Aspekt des frommen Selbstbewußtseins und das Verständnis
der Religion als „Leben" verdankt.

Flueckiger selbst verschweigt nicht, daß die Grundthesen
seiner Untersuchung nicht original sind. Er verdankt sie
seinem Lehrer Karl Barth. Er hätte jedoch eigentlich gerade
von da aus Sclüeiermachers theologisches Anliegen ernster
nehmen müssen, als er es tut. Es ist z. B. bemerkenswert, daß
er die Predigten Schleiermachers nicht ihrer Bedeutung entsprechend
herangezogen hat. Auch der methodische Weg, den
die Untersuchung einschlägt, ist nicht neu: Die Glaubenslehre
wird weithin von der Dialektik und Ethik her gedeutet. Man
wünschte auch, daß Flueckiger den jungen Schleiermacher noch
sorgfältiger beachtet hätte. Denn gerade der theologische Ansatz
Schleiermachers läßt sich von den Reden und den frühen
Predigten her besser verstehen, als es die vorgelegte Untersuchung
in den betreffenden Partien tut.

Das Buch stellt nun den Leser vor einige grundsätzliche
Fragen: 1. Es wird nicht der letzte Sinn einer Untersuchung
über das Verhältnis von Philosophie und Theologie bei
Schleiermacher sein, wieder einmal festzustellen, daß hier die
Dogmatik durch Philosophie verdorben wird. Sondern es geht
um die Frage: Wie hat Schleiermacher die notwendige In-
beziehungsetzung von Theologie und Philosophie vollzogen ?
Anerkanntermaßen hat er um die Notwendigkeit wie auch um
die Problematik der Sache genau gewußt. Man darf daher von
ihm eine grundsätzliche Belehrung erwarten — sei es auch
nur die, daß man seinem Wege nicht folgen soll. — 2. Damit
hängt die andere Frage eng zusammen: Hat Schleiermacher
selbst das philosophische oder das theologische Anliegen als
sein eigentliches betrachtet ? Diese Frage will nicht nur beantwortet
sein; sie muß auch in ihrer Bedeutung für die Hermeneutik
des Schleiermacherschen Werkes erkannt werden.