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Ausgabe:

1950

Spalte:

589-596

Autor/Hrsg.:

Diem, Hermann

Titel/Untertitel:

Um die politische Verantwortung der Kirche 1950

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 10

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ennoch erhofft. Das überschreitet unleugbar unsere gewohnte
ogik, die in alternativer Form zu argumentieren pflegt: ja
ZZF nem. Hier müssen wir uns an eine andere Logik gewonnen
, ,,die des: schon jetzt" und „noch nicht**, des: „nicht
will !i '-nocl1 "icht". Wir sind schon rein um des Wortes

vnien, das zu uns geredet ist; und darum sollen wir uns Mühe
Sri 1 reil1 zu wer(ien. Wir sind Licht geworden und darum
sollen wir wandeln als Kinder des Lichtes. Wir leben in einem
Beständigen „Zwischenraum". „Nicht, daß wir das Kleinod

ciion davongetragen hätten, aber wir jagen ihm nach, und

ergessen, was dahinten ist." Diese Lehre vom liomo viator,
sf kutner ebenso vollständig begriffen wie formuliert hat,
leidet uns grundlegend vom Katholizismus im allgemeinen

na vom Thomismus im Besonderen. Diese Lehre verbietet
uns um der Unvollendetheit des neuen Menschen willen, uns

nizubilden, das Denken des christlichen Menschen könne mit
2?2 Denken Gottes zusammenfallen und die durch einen
Juristen ausgearbeitete Philosophie könne uns über das heil-

ame Dunkel des Glaubens hinausführen: wir können der
gegenwärtigen Zeit nicht entrinnen. Wir können dem Schauen
nicht näher kommen ebensowenig wie wir unseren Platz nach
^* Formulierung Anselms inter fidem et speciem finden

Der Bau einer Philosophie durch einen Christen, der mit
allen Hilfsmitteln seines Glaubens denkt und sich bemüht,
nicht von der apostolischen Lehre abzuweichen, ist deswegen
nicht völlig gegen den Irrtum gefeit. Er bleibt ein großes Wagnis
, aber ein Wagnis, das man freudig und ruhig unternehmen
vi1!1, eben darum, weil wir wissen, daß unser Heil nicht davon
abhängt. Man könnte übrigens den gleichen Nachweis im Bereich
der Ethik führen: die Regeln für unser Verhalten, die wir
angesichts der Verschiedenheit ethischer Gegebenheiten,
die sich uns darbieten, finden müssen, können kerne völlige
Gewißheit ihrer Christlichkeit beanspruchen. Selbst wenn sie
rrn Gebet gesucht sind, bleiben sie doch immer ein gewagter
Versuch — wir sollen unserem Glauben gehorchen, aber das
Wie dieses Gehorsams ist uns nicht offenbart. Wir müssen mit
unseren natürlichen Einsichten und unserem Glauben ins
Reine kommen, vollkommen dessen bewußt, daß der alte
Mensch, der getötet oder wenigstens zum Tode verurteilt ist,
weiterhin neben dem neuen- Menschen und mit allem seinem
Tun vermengt lebt. Die von der Philosophie beanspruchte
Freiheit ist also zugleich Zeichen der Größe wie Symptom der
Schwäche. Sie zeigt, daß Gott, in dem er den Menschen rettete,
gleichwohl nicht die Rolle des Menschen hat spielen wollen.
Er läßtihmZeit, und diese Zeit soll derMenschzunutzensuchen,
um eine Stadt zu bauen, eine Ethik aufzustellen, eine Philosophie
und eine Kunst zu schaffen, die zwar immer ein Lob-
Preis der Gnade undJMacht Gottes sind, aber diese nie adäquat
auszudrücken vermögen. Allein die biblische Offenbarung
drückt diese Liebe und Macht in zureichender Form aus.

Das heißt: das Philosophieren trägt für den Christen bestimmte
Züge. Zwar ist er ebensowenig wie ein anderer Philosoph
an Wahrheiten gebunden, die vorgegeben oder ohne
rationale Prüfung übernommen wären — und tatsächlich sind

die christlichen Philosophen den verschiedensten Schulen gefolgt
— aber der Philosophie treibende Christ weiß:

erstens, daß seine Philosophie, so vollständig ausgearbeitet
und in sich geschlossen sie sein mag, dem Urteil
Gottes unterworfen bleibt, daß sie sich dem L'rteil Gottes
stellen und es sich gefallen lassen muß, durch das WortGottes
in Frage gestellt zu werden, — daß sie also kern endgültiges
Werk begründet, kerne philosophia perennis. Und das ist
nun kein allgemeiner, bloß theoretischer Grundsatz ohne praktische
Wirkung, sondern es bedeutet, daß eine durch einen
Christen ausgearbeitete Philosophie sich viel mehr als eine
ständig offene Beschreibung der Wirklichkeit geben
müßte, denn als eingeschlossenes System. Trotz aller Züge
des Pantheismus, das es aufweist, zeigt dasWerk von Bergson,
unabhängig von seinen Feststellungen als solchen, allein durch
seine Methode einen wesentlich christlicheren Charakter als
Hegels Philosophie, trotz dessen großen Anleihen bei der
christlichen Dogmatik;

zweitens (weiß der Philosophie treibende Christ), daß
seine Philosophie, so sehr sie ernsthafte und rechtschaffene
Forschung, d. h. von wirklicher Unruhe beseelt sein mag, niemals
ein Werk der Angst sein kann. Es gibt nur eine wirkliche
Angst, — die vor dem Tode, und der Tod hat für den
Christen den Stachel verloren, er ist besiegt. Zweifellos gibt es
zwischen dem christlichen Denken und der Existenzphilo-
sophie zahlreiche Berührungspunkte, doch kann diese Philosophie
, soweit sie die Angst entfaltet, nicht das Werk eines
Christen sein. So hart und schwierig, so existentiell die philosophische
Forschung sein mag, sie muß sich für den Christen
in einer Atmosphäre der Gelassenheit entwickeln: mein
Heil hängt nicht vom Erfolg oder Scheitern meiner Philosophie
ab;

drittens, daß die'christliche Offenbarung zwar niemals
ein Ausgangspunkt sein kann, auf den man eine Philosophie aufbaut
, trotzdem aber dem philosophierenden Menschen Aspekte
der Wirklichkeit aufzudecken vermag, die er oline sie verkannt
oder mißverstanden hätte. Wir halten es für eine feststehende
historische Tatsache, daß die Philosophie die Wirklichkeit
und Bedeutung von Zeit und Geschichte erst durch das Christentum
entdeckt hat, das der Zeit ihren Wert verleiht, indem
es die Heilsgeschichte in sie hineinsenkt. Das ganze Denken der
Antike mühte sich, die Zeit auszuschalten und sie dem Nichts
zuzuweisen; der zum Christen gewordene Augustin erst bemerkte
, daß die Zeit die wesentliche Dimension des Menschen
ist;

viertens, daß alle Philosophie, die unter dem Urteil
Gottes bleibt, Gott die Ehre geben kann allem durch ihr Eingehen
auf die Wirklichkeit, — durch ihr Streben, jeder Seite
der Schöpfung einen'Sinn zu geben, sowie durch ihr Bemühen,
allen Fragen gegenüber, die sich dem Menschen stellen, in Aufmerksamkeit
zu verharren, und in Unruhe gegenüber einer
Bestimmung, die in Christus vollendet ist, ohne daß sie für
uns erfüllt wäre.

So ist vielleicht allein der sich der Philosophie widmende
Christ in der Lage, diese vor Selbstgenügsamkeit, Parteilichkeit
, Willkür und. Dogmatismus zu retten. Hier wie sonst soll
der Christ die Freiheit wahren.

Um die polnische Verantwortung der Kirche

Von Hermann Diem, Ebersbach/Fils

Dem Berichterstatter liegt eine Menge von Literatur zu dieser Frage
vor: nieist Vorträge oder Broschüren, Gelegenheitsschriften von nur ephemerer
Bedeutung, die sich tastend in theologisches Neuland vorwagen und gerade
darin charakteristisch sind für die Situation auf diesem Gebiet. Nur wenige
bemühen sich um eine grundsätzliche Klärung des ganzen Fragenkomplexes.
w'r nehmen diese etwas ausführlicher vorweg.

I. Zur theologischen Problemstellung
„Ich bitte, Sie unausweichlich fragen zu dürfen, ob Sie
ohne neue und strenge Achtung der Zehn Gebote eine Genesung
unseres Volkes erhoffen können . . . Die Kirche ist die
Hüterin dieses Gesetzes . . . Die Kirche kann als politische
Forderung Urnen allen die Bejahung der Zehn Gebote zumuten
. . . Die Kirche darf aber darüber hinaus das Evangelium
, die Frohbotschaft von Jesus Christus hinzutun ..."
(24f )1. Diese Sätze stehen in einer „Ansprache an die Vorstände
der politischen Parteien in Deutschland", die Oskar
Hammelsbeck im August 1946 im Auftrag des Rates der

') Hammelsbeck, Oskar: Um Heil oder Unheil im öffentlichen

Leben. München: Chr. Kaiser 1946. 56 S.8°= Gottes Wort und Geschichte 5.
DM 1.25.

EKD halten wollte. Sie wurde aber nicht gehalten, weil die
Eingeladenen nicht gemeinsam kommen wollten, und wurde
hinterher wegen ihrer programmatischen Bedeutung zusammen
mit einem Vortrag über „Evangelische Grundlinien
für Bildung und Erziehung" gedruckt. Die Ansprache läßt
etwas spüren von dem echten Pathos, mit dem damals viele in
der Kirche ihre politische Verantwortung wahrnehmen wollten.
Es stehen schöne Dinge drin, z. B. von dem Gericht Gottes
über alle unsere weltanschaulichen Gebundenheiten und die
ausdrückliche Absage an jede kirchliche Machtpolitik (17ff.).
Aber es kam nicht zu jener „Großtat", die H. erhoffte: „Die
politische Großtat, die unserer Verantwortung gemäß über
Heil und Unheil unseres öffentlichen Lebens entscheidet,
wäre, daß alle Parteien diese Voraussetzung einer echten politischen
Gesinnung bejahen: über die Achtung der Zehn Gebote
in unserem Volk zu wachen" (25). Jedoch zu einer kirchlichen
Machtpolitik kam es wieder, und beides hängt eng miteinander
zusammen.

H.s Schrift ist ein typisches Beispiel für viele, mit wieviel
gutem Willen, aber auch wie theologisch ungerüstet die evangelische
Kirche nach dem Zusammenbruch an die Wahrnehmung
ihrer politischen Verantwortung heranging. Man wußte