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Ausgabe:

1950 Nr. 9

Spalte:

562-563

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Niemöller, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Lebensbilder aus der Bekennenden Kirche 1950

Rezensent:

Fresenius, Wilhelm

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 9

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von den Entsprechungen, neben dem „äußeren" einen „inneren
Sann der Schrift kannte. Wie sehr auch immer in dem um
«? entbrannten Kampf hin und her gerissen und
schließlich doch immer wieder gegen die mächtige Zeitstim-
luung der Aufklärung au Swedenborgs Seite gedrängt — an
diesem Punkt gab es für den Jünger Bengels kein Paktieren.
R Unter den nun folgenden Kapiteln ist das zu „Oetingers
Reflexionen über Swedenborgs Schrift .Von den Erdkörpern
der Planeten"' von kulturhistorischem Interesse. Die Überzeugung
von der Besiedlung der Gestirne durch die abgeschiedenen
Seelen der Menschen oder menschenähnlicher Wesen
var der damaligen Zeit durchaus geläufig. Nicht nur Swedenborg
hatte darüber geschrieben, sondern auch ein Naturforscher
vom Rang eines Huygens. Ja, auch Kant setzt die
t-xistenz von Planetenbewohnern als selbstverständlich vor-
US ("4"8emeuie Naturgeschichte und Theorie des Himmels").
-Man könnte in diesem Zusammenhang noch hinzufügen, daß
auch für Herder und Goethe der Gedanke von der Bewohnt-
"eit der Planeten nicht unwahrscheinlich war, wie aus Johannes
Daniel Falks Bericht „Goethe aus näherem persönlichen
Umgänge dargestellt" zu entnehmen ist. Es ist dieses Kapitel
im Zusammenhang des Ganzen nicht unwichtig, weil es uns
tue Spannung der Sichten ermessen läßt, die vom Aufklärungs-
zeitalter umschlossen werden.

Der Kampf um Swedenborg erreicht Im Stockholmer
Vr°zeß seinen Höhepunkt. Die schwedische Kirche selbst hatte
X? Verfahren gegen ihn eröffnet wegen verschiedener Verstöße
gegen die lutherische Kirchenlehre. So waren beide in
ejnen kirchlichen Lehrprozeß verwickelt, Swedenborg und sein
.Verteidiger Oetinger. Es ist begreiflich, daß Oetinger diesen
V organg unter dem Gesichtspunkt: „Mea res agitur" miterlebt
und mitdurchkämpft hat. Je mehr sich in solcher Schicksalsgemeinschaft
Oetinger mit Swedenborg über alle frühere
Distanzierung hinweg erneut verbunden weiß, desto deutlicher
wird ihm dabei, daß es in puncto Schriftverständnis kerne Verständigung
geben kann. Die Kapitel gegen Ende des ersten
Hauptteiles machen es eindrücklich, daß an diesem Punkt in
der Geschichte der Schrifttheologie eine Auseinandersetzung
über die gültige Gestalt der Exegese erfolgt, die in ihrer
Grundsätzlichkeit auch heute noch — ja vielleicht heute wieder
— von Bedeutung ist.

Während der erste Hauptteil durch eine Fülle von Quellenzitaten
etwas aufgesprengt wird, gewinnt der zweite an Geschlossenheit
der Darstellung. Auf den Höhepunkten zeigt sie
Temperament und dramatische Schürzung.

Benz hat sich in diesem zweiten Teil die Aufgabe gestellt,
eine Erklärung des eigentümlichen Widerspruchs zu geben,
der zwischen der Stellungnahme Kants zu Swedenborg in den
verschiedenen Epochen seiner geistigen Entwicklung besteht.
Man darf wohl sagen, daß Benz den Streit über das Verhältnis
Kants zu Swedenborg durch seine Untersuchung zu einem gewissen
Abschluß gebracht hat. Zugleich ist ihm aber auch
noch eine gerechtere Würdigung, um nicht zu sagen Ehrenrettung
, des Kantschen „Erzphantasten" gelungen, die wir der
Gerechtigkeit des Urteilens schon lange schuldig waren. —
Man muß die scharfsinnigen Überlegungen selbst lesen, die
Benz zu der Datierung des Briefes Kants an das Fräulein
yon Knoblauch und den sich daraus ergebenden Widersprüchen
macht. Es ist so, daß der Brief, der Kant in durchaus
respektvoller Haltung Swedenborg gegenüber zeigt, drei
Jahre vor den „Träumen" geschrieben wurde, die nicht
weniger als eüie Hinrichtung des großen Schweden im Bewußtsein
der Deutschen dann geworden sind. So sind also die
..Träume" ein Widerruf des Briefes. Daß dieser Widerruf nicht
nur aus kühler Sachlichkeit geschrieben wurde, sondern auch
aus menschlich-emotionalen Motiven heraus so geriet, wird in
der Darstellung des Verf.s einleuchtend.

Über das kircheu- und kulturgeschichtliche Interesse hinaus
aber hat das Benzsche Buch auch noch eine aktuelle Bedeutung
grundsätzlicher Natur.

Oetinger und Swedenborg finden sich im Widerspruch zur
kirchlichen Orthodoxie. Und das nicht um aufklärerischer Anschauungen
willen. Rationalismus und Orthodoxie stehen in
der Ablehnung beider zusammen. Es hatte seinen Sinn, daß
der orthodoxe Dogmatiker und nachmalige lutherische Erz-
oischof Borowski in Königsberg Kants zeitgenössischer Biograph
war.

Beide befüiden sich im Widerspruch zur reformatorischen
formaltheologie und zugleich zu Kants kritischem Idealismus.
§ie tun dies als Vertreter eines biblischen Realismus. Aus
der Schriftoffenbarung erheben sie — ein jeder auf seine
Weise — Realitäten der Heilsgeschichte, die über die Recht-
lertigungslehre der Orthodoxie weit hinausgehen und im

Gegensatz zur Philosophie des deutschen Idealismus grundsätzlich
und von Anfang an liegen. Der theologische Idealismus
Oetnigers steht dabei mit einer breiten Strömung christlichen
Weltdenkens im Zusammenhang, das von Kepler, Para-
celsus und Jakob Boehme herkommt. Dem platonesken Dualismus
der protestantischen Theologie widerstehe dieses Denken
kraft seiner universellen Art. Es mußte diesen Widerstand
freilich abbüßen in der Illegitimität seines Katakombendaseins
unter dem Raum der offiziellen „Kirche der Reformation".
Man kann Oetinger, zusammen mit Bengel, als die letzten
Merksteine bezeichnen, hinter denen dieser unterirdische Flußlauf
endgültig im säkularen Felde versickert, um dann mit
seinen Wassern in einem anderen Strombett sich wieder zu
sammeln jenseits des kirchlichen Denkens in der freien Welt-
mäßigkeit; in einem Strom, der von Nicolaus von Cusa über
Goethe zu Schelling hin sich bewegt und wesentlich an der
Strukturschöpfung des modernen Bewußtsehls mitbeteiligt ist.

Es ist nicht ohne Bedeutung, daß in der Auseinandersetzung
mit Swedenborg die reformatorische Orthodoxie auf
der einen Seite mit dem Aufklärungsdenken, auf der anderen
Seite mit dem Begründer der deutschen idealistischen Philosophie
zusammen steht. Es ist eine Situation, die für die Gesamtgestalt
protestantischer Theologie über die 400 Jahre
ihres Bestehens ein ihr eigentümliches und bleibendes Cha-
takteristikum zur Erscheinung bringt. Worin dieses Charakteristikum
besteht, wird deutlich, wenn man das besondere
Element erkennt, das Boehme-Oetinger im protestantischen
Raum „apokryph" darstellt und das eüi Vakuum innerhalb
der reformatorischen Theologie scharf umrandet. Es ist mit
einem Wort gesagt die Welt des Leiblichen und ihres Geheimnisses
, dessen Übersehen oder Unterschlagen das Versäumen
eines Grundelementes nicht nur der Wirklichkeit
überhaupt, sondern der biblischen Wirklichkeit im Besonderen
bedeutet. Daher die ewige crux einer Theologie des Ersten
Artikels, einer Theologie de creatura, einer theologia naturalis
innerhalb der protestantischen Theologie. Der Moment rückt
immer näher, in dem uns die Verlustrechnung repräsentiert
wird, die aus solcher Unterschlagung von Wirklichem erfolgt;
einer Unterschlagung, die von unabsehbarer Tragweite für die
Entstehung des modernen Bewußtsein und die Isolierung des
protestantischen im besonderen in einer „theologischen" Existenz
zu werden beginnt.

Es ist das Verdienst der Arbeit von Benz, sich um dieses
illegitime Element protestantischer Denktradition zu mühen
in einer Zeit, in der ihm die Kathedertheologie wenig Dank
wissen wird. Wer das vorliegende Buch liest mit der Hellhörigkeit
, wie sie dem Nachdenkenden in der Krisensituation erster
Ordnung, in der sich die Kirche heute befindet, nottut, wird
Gewinn von der Lektüre haben.

Dem Buch ist ein wertvoller Anhang neuer Swedenborg-
Urkunden beigegeben, die Benz im hessischen Staatsarchiv
in Dannstadt gefunden hat. Von besonderer Bedeutung ist
die vollständige Veröffentlichung der Rechtfertigungsschrift
Oetingers, die er im Jahre 1767 im Streit mit dem württembergischen
Konsistorium verfaßt hat.

Hamburg Paul Schütz

Niemöller, Wilhelm: Lebensbilder aus der Bekennenden Kirche hrsg.
Bielefeld: Bechauf 1949. 109 S. DM 8.—.

Mit diesem Buch hat sich Wilhelm Niemöller das Verdienst
erworben, einzelne wichtige Ereignisse aus der Zeit des
Kirchenkampfes festzuhalten und dadurch der Gefahr zu entreißen
, daß sie in miserer schnellebigen Zeit der Vergessenheit
anheim fallen. Es geschieht das in der anschaulichen Form der
Lebensbilder verschiedener Persönlichkeiten, die im Kirchen-
kampf ihren Mann gestanden haben und in der Zwischenzeit
heimgerufen worden sind. Es handelt sich dabei um Pfarrer
wie Laien. Aus ihrer genauen Kenntnis der Persönlichkeiten
und der Zusammenarbeit mit ihnen geben Hans von Arnim,
Helmut König, Heinz Kloppenburg, Franz-Reinhold Hilde-
braudt, Hans Slenczka, Hermann Ehlers, Harmannus Oben-
diek, Martin Niemöller, Claus Westermann, Wilhelm Fresenius
, Ernst Hornig und Alfred Niebergall Lebensbilder von
Detlev von Aniim-Kröchlendorff, Wilhelm von Arnim-Lütz-
low, Walther Beninde, Wilhelm Flor, Erich Gollnick, Bernhard
Heppe, Horst Holstein, Paul Humburg, Karl Immer, Fritz
Müller, Otto Riethmüller, Julius Rumpf, Adolf Graf Seidlitz-
Sandreczki und Hans von Soden. Den Darstellungen sind
Bilder der Genannten beigefügt. Es wird in diesen Lebensbildern
sehr eindrücklich, wie in den verschiedenen Gebieten
unseres Vaterlandes unter den schwierigsten Verhältnissen und
Gefahren kirchlich gearbeitet und den Gemeinden das gesagt
und gegeben wurde, was sie wissen mußten, um zur Klarheit
zu kommen, und haben mußten, um leben zu können. Es ist