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Ausgabe:

1950 Nr. 9

Spalte:

555-557

Kategorie:

Kirchengeschichte: Reformationszeit

Autor/Hrsg.:

Maurer, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Von der Freiheit eines Christenmenschen 1950

Rezensent:

Bizer, Ernst

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 9

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deutung und Wirkung. Der zweite Teil des Aufsatzes behandelt
die „Erbauung" und die Erbauungsliteratur und das
merkwürdige Zurücktreten der Bibel zugunsten der Erbauungsbücher
; erst die Erweckung lenkt wieder zu Bibel als
Andachtsbuch zurück. Auf die theologischen Gründe dieser
Wandlungen wird kaum eingegangen. Nur die fortdauernde
Bevorzugung der pietistischen Erbauungsbücher entlockt dem
Verf. die Frage, „die Th. Kaftan aufgeworfen hat, ob die reine
Wahrheit nicht für alle sei, ob der Pietismus und verwandte
Strömungen dem Menschen etwa verständlicher seien als das
diese überragende Luthertum" (S. 195). Endlich erzählt Alex,
von Frankenberg die Geschichte der Tübinger „Seelenharfe
", eines Tübinger Gesangbuchs, das von 1709 ab nicht
weniger als 17 Ausgaben erlebte und öfters nachgedruckt
wurde. Von A. A. Hochstetter herausgegeben, von der Universität
geschützt und verteidigt, zeigt es das Eindringen des
damals modernen Liedguts in den kirchlichen Gebrauch. Daß
dieses Büchlein der Forschung so lange entgehen konnte,
zeigt deutlich genug wieviel in der Lokalgeschichte noch zu
tun ist.

Alle drei Aufsätze bieten sorgfältigste Arbeit unter genauester
Benützung eines großen literarischen und lokalgeschichtlichen
Materials. Das Heft wird hoffentlich nicht das
letzte in der Reihe der Blätter für württembergische Kirchengeschichte
sein, in die es eigentlich gehört.

Bonn E. Bizer

KIRCHENGESCHICHTE: REFORMA TIONSZE1T
Maurer, Wilhelm: Von der Freiheit eines Christenmenschen. Zwei

Untersuchungen zu Luthers Reformationsschriften 1520/21. Göttingen:
Vandenhoeck & Ruprecht 1949. 168 S. gr. 8°. Kart. DM12.50.

Die erste der beiden Untersuchungen behandelt das Verhältnis
von wissenschaftlicher Theologie und volkstümlicher
Erbauving an Hand des Freiheitstraktats. Es geht dem Verf.
zunächst „um das Problem, wie der Erbauungsschriftsteller
Luther als solcher seine theologischen Intentionen weiter verfolgt
" (S. io). Er sucht die Motive der Erbauungsschriften in
dem ursprünglicheren und größeren Zusammenhang zu sehen,
in dem sie in der theologischen Arbeit erwachsen süid. Darüber
erweitert sich dann freilich das Thema der Arbeit; sie wird
zu einer Darstellung eben dieser theologischen Gedanken
Luthers, und die Abhandlung wird zu einem wesentlichen Beitrag
zur Theologie des jungen Luther.

Maurer verfolgt zuerst die Grundgedanken des Freiheitstraktats
und des Sermons von den guten Werken in der zweiten
Psalmenvorlesuug (Ps. 13/14, 1), das Freiheitsmotiv dann
weiter durch die ganze Vorlesung (Ps. 1, 3; 10, 8—12) und
weiter zurück. Dabei ergibt sich der innere Zusammenhang
der ganzen lutherischen Theologie in der Christologie; der Gedanke
der christlichen Freiheit und besonders der des fröhlichen
Wechsels beruht auf dem athanasianischen Erlösungsgedanken
und der altchristlichen Zweinaturenlehre, freilich
mit den charakteristischen Unterschieden, daß die Erlösung
für Luther Erlösung von der Sünde (statt bloß von der Vergänglichkeit
) bedeutet, daß die Menschheit Jesu einen andern
Akzent erhält, daß an die Stelle der „Naturen" sich widerstreitende
Willensrichtungen treten, und daß es der Glaube
ist, der die Gemeinschaft mit Christus realisiert. Dieser
christologische Zusammenhang wird dann fruchtbar gemacht
für die Erklärung des Freiheitstraktats, indem dieser von der
Christologie her gedeutet wird. Die lutherische Anschauung
(nicht „Christusmystik", sondern „Mysterieutheologie" oder
,,-frömmigkeit") wird verstanden als Synthese der abendländischen
, „auf die Probleme von Sünde und Gnade gerichteten
Tradition" „mit der morgenländischen, die ihrerseits die
.Erfüllung' der antiken Mysterienfrömmigkeit darstellt"
(S. 51); eine wesentliche Abhängigkeit von der mittelalterlichen
Mystik dagegen ist nicht anzunehmen. Das theologische
Ergebnis wird dahin zusammengefaßt: „Die Freiheit des
Christen besteht in der gläubigen Gebundenheit an Christus,
in der Teilhabe an dem Mysterium seines gottmenschlichen
Lebens" (S. 60). Eine Analyse des zweiten Teils des Freiheitstraktats
zeigt, daß auch die Zucht des Leibes und die Stellung
zu den Mitmenschen durch diese Verbundenheit bestimmt
sind. Endlich wird, der ursprünglichen Themastellung entsprechend
, das Verhältnis der Theologie zur volkstümlichen
Schriftstellerei an dem Unterschied der deutschen und der
lateinischen Fassung untersucht, wobei M. in eingehender
Textvergleichung (m. E. überzeugend) die Priorität der deutschen
Fassung erweist; die Zusätze des lateinischen Textes
werden erklärlich durch das „wissenschaftliche" Anliegen
gegenüber der Scholastik und dem Humanismus. Das Ergebnis
in dieser Hinsicht ist, daß die volkstümliche Darstellung
wurzelt in der wissenschaftlichen Theologie, so daß sich die
erbauliche Schriftstellerei inhaltlich nicht wesentlich von der
wissenschaftlichen unterscheidet (S. 79); mit anderen Worten
Theologie und Erbauung sind wesentlich eines.

Die zweite Abhandlung beschäftigt sich mit dem Magni-
fikat und dessen Zentralbegriff, dem opus Dei, der creatio ex
nihilo, unterschieden in opus actum (= Gottes Wirken durch
Vermittlung der Kreaturen), wobei man Gott nicht erkennen
kann, weil er hinter den Kreaturen verborgen ist, und opus
factum, wo Gottes Arm ohne Mittel in den Herzen der Menschen
wirkt, in der geistlichen, unsichtbaren Welt. Auch dieses
opus Dei wird in beiderlei Hinsicht als „Mysterium" gedeutet,
sofern es „verborgen und offenbar zugleich" ist (S. 89), und
Gott sich dem Glauben zu erkennen gibt, der seinerseits
ebenfalls Mysterium ist (S. 91), sofern rechte Demut niemals
weiß, daß sie demütig ist, und die Gläubigen im Innern anders
sind als sie nach außen erscheinen (S. 92); auch wo Luther
„Geist" sagt, zielt er auf das Mysterium (S. 93). Die Einheit
des opus Dei begründet dann die innere Einheit und die
Gegensätzlichkeit der Schöpfung und der Geschichte, „die
Einheit direkt, die Gespaltenheit indirekt in dem verschiedenartigen
Verhalten, das die Menschen dem göttlichen Geistwirken
entgegenbringen" (S. 95); die Kreatur wird zur „Werkstatt
Gottes" und hat als solche ihre Ehre und Würde, die
freilich bloß im Glauben erkannt werden kann. „Natürliches
und Heilsgeschehen sind also streng aufeinander bezogen; das
Heil bedarf der Natur als des Gegenstandes seiner Verwirklichung
, die Natur kommt in ihm zur Vollendung" (S. 104).

Maurer geht auch dieser Unterscheidung wieder in den
beiden Psalmenvorlesungen nach. Dabei zeigt sich, daß der
Begriff des opus Dei schon in der früheren Vorlesung als
christologisches Mysterium gemeint ist, und daß andere Begriffe
(wie figura, Signum, sapientia, veritas usw.) im Dienste
der Mysterieutheologie stehen. Daraus folgt dann für die
Forschung die grundsätzliche Forderung, daß das Neue in
Luthers Theologie nicht auf quantitativem Wege gewonnen
werden kann, sondern nur „aus einer Gesamtvergleichung
zwischen der altchristlichen Mysterieutheologie und der lutherischen
, wie sie sich auf ihrer ersten Stufe in der ersten
Psalmenvorlesung entwickelt hat" (S. 137); „die grundsätzliche
Abwendung von der Scholastik erscheint mit einer Hinwendung
zur vorscholastischen Mysterientheologie verbunden
", wodurch die Theologie Luthers „unter einen völlig veränderten
historischen Aspekt" tritt (S. 137t.). Von da aus ist
auch das Verhältnis des jungen zum späten Luther wie die
Bedeutung der lutherischen Theologie für die spätere Zeit neu
zu untersuchen. Der Ring schließt sich dann, sofern auch die
Begriffe des Wortes und des Glaubens aus dem Mysteriencharakter
des opus Dei zu verstehen sind (S. 140); die Mysterientheologie
ist der „Mutterboden", auf dem die Recht-
fertigungslehre erwachsen ist (S. 142). Den Abschluß bildet
eine Untersuchung des Verhältnisses der alten und der neuen
Schöpfung. Beide werden auf das Wort Gottes zurückgeführt
, daher bestellt „eine wesens- und seinsmäßige Beziehung
zwischen natürlicher und geistlicher Wirklichkeit", „die auch
für die altchristliche Mysterieutheologie vorhanden gewesen
war, und die durch den Begriff der analogia entis nur unvollkommen
ausgedrückt wird" (S. 145), aber nicht im Sinn eines
rationalen Aufbaus, sondern so, daß die Mysterien der Natur
Christus dienen müssen. Auch „die natürliche Welt ist ein
Mysterium" (S. 146), erkennbar freilich bloß dem geistlichen
Menschen. Denn „erst das Christusmysterium in seiner vollen
Entfaltung macht den Offenbarungscharakter des Naturmysteriums
erkennbar" (S. 147), macht dann aber auch die
Verborgenheit der Schöpfung erst deutlich (S. 147). Denn
das, was Natur und Gnade hier verbindet, ist Gottes Schaffen
aus dem Nichts und Gottes Ablehnung aller superbia; es ist
das Mysterium des Kreuzes, das Luther auch in der Kreatur
findet (S. 150). Ähnliches ist von der Geschichte zu sagen
(S. 152). Inhaltlich ist somit das scholastische Weltbild überwunden
; an Stelle der beiden Stockwerke von Natur und
Gnade tritt ein spannungsreiches Wirken, das bloß von dem
Blick auf Christus durchschaut wird.

Der Reichtum der hier entfalteten Gedanken kann im
Rahmen einer Inhaltsangabe nicht entfernt deutlich werden.
Ich erwähne noch den Exkurs „zur Datierung einzelner Psal-
menausleguugen aus den Op. in Psalmos" S. 159. Problematisch
aber bleibt mir der Hauptbegriff des „Mysteriums", der
zwar nur allgemein als Offenbarung in der Verhüllung gefaßt
wird (S. 158), für den sich aber Maurer doch auch (neben
R. Otto) auf Casel (S. 90, 137), Scheeben und Stählin (S. 157)
berufen kann. Es ist sicher richtig, daß Luthers volkstümliche
Schriftstellerei wurzelt in seiner wissenschaftlichen Arbeit.