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Ausgabe:

1950 Nr. 1

Spalte:

32

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Noack, Bent

Titel/Untertitel:

Das Gottesreich bei Lukas 1950

Rezensent:

Kümmel, Werner Georg

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Theologische Literaturzeitung 1950 Nr. 1

32

trotz des „Theologischen Wörterbuches" eine wichtige Aufgabe
der neutestamentlichen Wissenschaft, die biblischen
Grundbegriffe zu klären und zum Verständnis zu bringen.
Mit besonderer Sorgfalt arbeitet R. Bultmann den Sachgehalt
der Begriffe „Leib" und „Fleisch" heraus, die religionsgeschichtlich
und theologisch manches Rätsel aufgeben.

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit R. Bultmann
wird zunächst Fragen der Einzelexegese, dann aber auch
der Methodik und der grundsätzlichen Interpretation aufwerfen
müssen. § 1 arbeitet meisterhaft die apokalyptisch-
eschatologische Eigenart der Verkündigung Jesu heraus. Es
wäre zu überlegen, ob nicht im Rahmen einer neutestamentlichen
Theologie die verschiedenen Ansatzpunkte im biblischen
Zeitverständnis noch stärker heraustreten sollten. Hier bleiben
sonst Fragen offen, die auch für andere Zusammenhänge nicht
unerheblich sind (Ablauf der gegenwärtigen Weltzeit, erfüllte
Zeit, neue christologisch bestimmte Zeit-Schemata, Durchbrechung
alter Denkformen!). Nur dann,wenn wir hier denBe-
fund des NT ausdrücklich zu Worte kommen lassen, werden
wir über unzulängliche Lösungen in der gegenwärtigen neu-
testamentlichen Forschung hinauskommen. In § 4 machte mir
der Begriff der „phantastischen Vorstellung" im Zusammenhang
mit der Menschensohn- und der Entrückungsidee ein
wenig zu schaffen (S. 30). Es ist gut, wenn wir exegetisch mit
gutem Gewissen feststellen können, daß „phantastische Vorstellungen
" über apokalyptische Prozesse Jesus fern gelegen
haben, aber wo ist die Grenze dessen, was wir Theologen heute
„phantastisch" nennen können ? Eine Einzelfrage zu § 7 (S. 53)
an R. Bultmann: Ist es wirklich möglich, damit zu rechnen,
daß der eschatologische Gebetsruf: „Maran atha" oder „mara-
natha" ursprünglich Gott gegolten hat? Aus philologischen
und sachlichen Erwägungen würde ich eine derartige Uber-
legung ausschließen müssen; der exegetische Tatbestand dürfte
hier ganz eindeutig sein (vgl. K. G. Kuhn, ThWb III, 47off.).
Der Verdacht liegt nahe, daß an diesem Punkt eine kritische
Konstruktion geschützt werden soll. Schwerwiegender werden
grundsätzliche Bedenken gegen den Aufbau sein. Es spricht manches
für den Versuch, die Predigt Jesu aus dem engeren Rahmen
der neutestamentlichen Theologie herauszunehmen, obwohl dies
Problem vor R. Bultmann nicht ernsthaft gestellt wurde. Ja, man
sah so gar darin eine besondere Aufgabe, die Verkündigung Jesu
zur Grundlage der neutestamentlichen Theologie zu machen.
Aber inwieweit darf man von einer „Theologie Jesu" reden ? Anderseits
ergeben sich neue Schwierigkeiten: Könnte nicht der
Versuch, die Predigt Jesu aus der engeren Theologie des NT herauszunehmen
, eine Entwertung der Predigt Jesu, vielleicht
aber auch eine Verkürzung unseres Verständnisses von Theologie
zur Folge haben ? Ist nicht mit der Verkündigung notwendig
das theologische Denken verbunden ? Wird nicht eine
Verkündigung ohne das theologische Denken entwertet ? Nun
soll ganz gewiß nicht ein neuer spekulativer Gedanke an den
Text herangetragen werden, aber das Problem: Verkündigung
und Theologie scheint mir aufs neue gestellt zu
sein. Es ist nicht zu leugnen, daß durch die existentialphilo-
sophische Interpretation die exegetische Fragestellung in mancher
Hinsicht gefördert wurde, aber die Exegese führt auch
immer an die Grenze ihrer Möglichkeit. Wird diese Grenze
nicht beachtet, so wird diese Interpretation zu einer
modernen Gnosis. Die eigentlichen Entscheidungen fallen
immer in der Exegese und Analyse selbst. Zum Problem der
paulinischen Theologie: Es ist richtig, ein solches Gewicht auf
die Anthropologie des Paulus zu legen, wie es R. Bultmann
tut. Es fragt sich aber, ob der Verdacht, Paulus werde anthropozentrisch
gedeutet, ganz widerlegt werden kann (vgl. den
Aufbau von § 17—40). Ich weiß, daß § 16 diese Möglichkeit
ausschließen soll, aber es ist die Frage, ob die eingebauten
Sicherungen genügen.

Gegenüber dem in der Gegenwart beliebten Versuch, sich
hinter einen christlichen Mythos zurückzuziehen oder durch
ein kirchliches Mysterium sich sichern zu lassen, ist R. Bultmanns
nüchternes Buch eine heilsame Hilfe. Daß uns ein Lehrbuch
angeboten wird, das nicht nur sammelt und zusammenstellt
, sondern auf Klarheit der Methode drängt, ist unbedingt
ein Vorzug des Buches. Wir wünschen eine baldige Ergänzung
und Vollendung des Werkes durch die zweite Lieferung, damit
ein Gesamtverständnis der Arbeit entstehen kann. Wenn eine
frühere Generation sich vielfach damit begnügen konnte,
historische Einzelfragen zu stellen, ohne letztlich die Voraussetzungen
der theologischen Arbeit zu klären, so ist R. Bultmann
den Theologen zuzurechnen, die exegetisch einen neuen
Weg in die Zukunft bahnen. Es bleibt aber eine letzte Sorge:
Kommt in seiner Theologie die Wahrheit der neutestamentlichen
Botschaft zu einem gültigen Ausdruck oder wird sie aufs

neue an eine Konstruktion gebunden, die durch die Exegese
selbst immer wieder überwunden werden muß ?

Tübingen Otto Michel

Noack, Bent: Das Gottesreich bei Lukas. Eine Studie zu Luk. 17,20—24.

Lund: Gleerup, u. Kopenhagen: Munksgaard 1948. 50 S. 8°= Symbolae
Biblicae Upsalienses. Supplementhäften tili Svensk Exegetisk Arsbok 10.
Die Antwort Jesu auf die Frage der Pharisäer nach dem
Termin des Kommens der Gottesherrschaft: „Die Gottesherr-
schaft kommt nicht so, daß man es beobachten könnte, man
kann auch nicht sagen: siehe hier oder dort; denn siehe, die
Gottesherrschaft ist ävrde iftßv" hat seit langem in der
wissenschaftlichen Diskussion über den Sinn der Reichspredigt
Jesu eine wichtige Rolle gespielt. In Luthers Ubersetzung
„Das Reich Gottes ist inwendig in euch" wurde sie
ein Hauptbeleg für die Auffassung der Ritschlschen Schule
vom Gottesreich als einer innerlichen Größe, während die
eschatologische Deutung der Reichspredigt Jesu darin eine
Aussage über das plötzliche Kommen der Gottesherrschaft in
der Zukunft oder über das Vorauswirken der Gottesherrschaft
in Jesus sah. Die Schwierigkeit für eine sichere Exegese des
Spruches liegt darin, daß evrös sonst bei Lukas nicht begegnet
, und daß die Zusammenhangsexegese verschiedene
Möglichkeiten des Verständnisses offen zu lassen scheint. Es
ist darum sehr dankenswert, daß Bent Noack in einer vorbildlich
klaren Studie das Problem der rechten Auslegung dieses
Jesuswortes durch eine Darbietung der Auslegungsgeschichte
und die Untersuchung des Zusammenhangs des Spruches innerhalb
des Lukasevangeliums geklärt und gefördert hat. In
einem ersten umfangreicheren Teil gibt N. nicht nur die wichtigsten
Auslegungen des Spruches von den alten Ubersetzungen
bis zur Gegenwart wieder, sondern versucht auch,
den Gründen für die jeweilen vertretene Auslegung nachzugehen
. Es zeigt sich, daß die alte und mittelalterliche Kirche
und die Reformatoren kvtde im Sinn von „inwendig" deuten
und den Spruch in verschiedener Weise spiritualisieren, wobei
einzig Cyrill von Alexandrien die Schwierigkeit empfindet,
die durch die Pharisäer als Fragesteller entsteht. Im 17. Jahrhundert
dagegen begegnet zuerst mit Begründung die Ubersetzung
„zwischen euch", und seit dem Aufkommen der
eschatologischen Deutung der Reichsbotschaft Jesu Ende des
19. Jahrhunderts hat sich diese Ubersetzung weithin durchgesetzt
, obwohl besonders in der außerdeutschen Theologie
die „innerliche" Deutung noch immer maßgebende Vertreter
hat. Diese Darlegungen sind äußerst lehrreich, man vennißt
nur eine ausreichende Vorführung von Vertretern der heute so
verbreiteten Deutung „die Gottesherrschaft wird plötzlich
unter euch sein". In einem zweiten Teil sucht dann der Verf.
zu zeigen, daß die Deutung des Spruches auf die Gegenwart
der kommenden Gottesherrschaft in der Wirklichkeit Jesu,
die er mit Recht billigt, schon von Lukas'selber vertreten
worden sei. Er stellt durchaus richtig fest, daß der Spruch
innerhalb des Lukasevangeliums in den Zusammenhang der
eschatologischen Rede 17, 20—18, 6 gehöre, und meint, in den
auf unsern Spruch 17, 20. 21 folgenden Versen sei von der
dunkeln Zukunft des Gerichtstages die Rede, darum müsse
17, 2of. die glückliche Gegenwart beschreiben, was eben auf
die Deutung von Ivrds = inter (die Gottesherrschaft zwischen
den Menschen da) führe. Und das Nebeneinander von Gegen-
warts- und Zukunftsaussagen über die Gottesherrschaft entspreche
durchaus der Auffassung des Lukas. Nun hat N. sicher
sowohl mit der Darlegung des Gesamtzusammenhangs des
Spruches wie mit der Darstellung der Auffassung des Lukas
von der Gottesherrschaft recht; nur die These überzeugt
schwerlich, daß 17, 20L um des Kontrastes zu den folgenden
Versen willen von Lukas in der genannten Weise verstanden
worden sein müsse. Es ist N. darum wohl nicht gelungen, die
Richtigkeit der Auslegung des Spruches auf das Vorauswirken
der zukünftigen Gottesherrschaft in der Wirklichkeit Jesu
auch durch die Erhellung des Lukaszusammenhangs zu sichern.
Zürich Werner Georg Kümmel

Buchheim, Karl: Das messianische Reich. Über den Ursprung der
Kirche im Evangelium. München: Kösel-Verlag [1948]. 462 S. 8°= Hegner-
Bücherei. Kart. DM 12.—.

Als Historiker bewußt katholischer Einstellung will der
Verf., der seit 1934 als freier Schriftsteller, seit 1946 auch als
Privatdozent für neuere Geschichte in Leipzig wirkt, die Entstehung
der Kirche nach den Evangelien und der Apg. darstellen
, um zu zeigen: Die Entwicklung zur Papstkirche ist
nicht, wie Luther annahm, Abfall von der Stiftung Jesu, dem
messianischen Reich. Dieses hatte vielmehr „von Anfang an
denselben politischen, theopolitischen Charakter wie die